Bricha

Bricha (auch: Beriha, Brichah etc.; hebr. בריחה = „Flucht“) war die Bezeichnung für eine organisierte Untergrundbewegung, die zwischen 1944 und 1948 Juden aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien und der Sowjetunion die Flucht und die illegale Einwanderung nach Palästina ermöglichte, unmittelbar vor Gründung des Staates Israel.

Das Hagana-Schiff Jewish State im Hafen von Haifa, 1947
Die Exodus bei ihrer Ankunft im Hafen von Haifa, 20. Juli 1947
Durchbruch der Blockade Palästinas mit dem Dampfer United States durch jüdische Einwanderer und Landung in der Nähe von Naharija, 1948
Gedenkplatte auf dem Krimmler Tauern

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schon 1939 versuchten zionistische, bundistische und orthodoxe Organisationen etwas Ordnung in die massenhafte Fluchtbewegung der Juden zu bringen, die nach dem deutschen Überfall auf Polen ins sowjetisch besetzte Ostpolen und von dort weiter nach Litauen bzw. in südlicher Richtung nach Rumänien flohen. Die Fluchtbewegungen setzten sich im Laufe der Kriegsjahre fort, als 1942 Juden aus der Slowakei nach Ungarn flüchteten, und 1944 aus Ungarn zurück in die Slowakei und nach Rumänien.

Als im Februar 1944 die Rote Armee Rowno in Wolhynien und im April darauf Wilna zurückeroberte, bildeten sich dort voneinander unabhängige illegale Gruppen ehemaliger jüdischer Partisanen mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung, welche den Holocaust überlebt hatte, ins britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen. Zusammen mit Zionisten, die aus dem asiatischen Teil der Sowjetunion zurückkehrten, versammelten sich diese Gruppen in Lublin im Dezember 1944 unter der Leitung von Abba Kovner. Im Januar 1945 schlossen sich ihnen die Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto unter Jitzhak Zuckerman an und gründeten die Organisation Bricha unter der Leitung von Abba Kovner. Mitte Januar 1945 wurden die ersten Gruppen nach Rumänien entsandt. Mit dem Rettungszug (engl. „Rescue Train“) konnten unter Aufsicht des IKRK 5.000 Juden, darunter viele Kinder, die von den Deutschen deportiert worden waren, von Polen nach Rumänien gelangen, und wollten von dort aus Palästina erreichen. Doch die europäischen Grenzen wurden immer undurchlässiger, und diese Reiseroute musste schließlich aufgegeben werden. Stattdessen organisierte Kovner Grenzübergänge in Ungarn und Jugoslawien und versetzte seine Mitarbeiter nach Italien, wo er selbst im Juli 1945 ankam. Polnische Juden fuhren nun über die Slowakei nach Budapest und von dort aus weiter nach Graz, in der Hoffnung, von dort aus die Grenze nach Italien überqueren zu können. Doch im August wurde die Grenze von der dort stationierten britischen Besatzungsmacht geschlossen. 12.000 Personen waren zum Aufenthalt in der Grazer Umgebung gezwungen und konnten erst im Winter 1945/46 die österreichisch-italienische Grenze in kleinen Gruppen überqueren. Eine besondere Rolle spielte auch das Flüchtlingslager in Saalfelden in Salzburg, da die amerikanische Besatzungsmacht die Flucht der Juden tolerierte, während sowohl die britische als auch die französische Besatzungsmacht die Juden an einer weiteren Flucht hindern wollten. So nutzte man das kurze Stück gemeinsamer Grenze der amerikanischen Besatzungszone in Österreich mit Italien, wo etwa 8.000 Flüchtlinge über den Krimmler Tauernpass die Grenze passieren konnten. Der Exodus über die hochalpine Route wurde von Marko Feingold und Viktor Knopf organisiert.

In Europa stationierte jüdische Soldaten, sowohl aus der Jüdischen Brigade als auch aus anderen Armeeeinheiten, errichteten ein Diaspora-Zentrum (hebr. „Merkas laGola“), um aus den befreiten Konzentrationslagern in Deutschland und Österreich Juden nach Italien zu schmuggeln. Die Finanzierung erfolgte zu Beginn aus Mitteln der Jewish Agency; seit dem Winter 1945/46 trafen auch Gelder vom amerikanischen Joint Distribution Committee ein.

Von März 1946 an leitete Levi Kopelewitsch (Argov), ein „Schaliach“ (Gesandter) aus Palästina, den Transit von Juden, die über DP-Lager in der Tschechoslowakei in die US-Besatzungszone nach Österreich und Bayern flüchteten. Ab Oktober 1946 gab es einen alternativen Fluchtweg über Stettin nach Berlin und von dort aus über die britischen und amerikanischen Zonen nach Süddeutschland. Eine wichtige Rolle bei der Organisation dieser Route spielte Herbert Friedman (1918–2008).[1]

Die Kontrolle über die Bricha wurde zu diesem Zeitpunkt an das Zentrum für illegale Einwanderung übergeben, dessen Leiter, Schaul Avigur, sein Büro 1946 nach Paris verlegte. Die Organisation der Bricha lag hauptsächlich in den Händen von zionistischen Jugendgruppen, die mehrheitlich von der Kibbuz-Idee beeinflusst waren und sich deshalb auch Kibbuzim nannten. Die Flüchtlingsgruppen wurden zu Orten in Grenznähe geführt, wo sie provisorisch untergebracht wurden und von den Bricha-Gruppen Papiere mit einem Code („Parole“) erhielten. Dann gelangten sie zum eigentlichen Grenzübergang („Point“), wo das örtliche Bricha-Team sie über die Grenze schmuggelte. Bis 1946 wurden die Flüchtlinge mit Hilfe gefälschter Dokumente des Roten Kreuzes als griechische Flüchtlinge ausgegeben. In der Tschechoslowakei wurde eine informelle Vereinbarung abgeschlossen, den flüchtenden Juden keine Behinderungen in den Weg zu legen, und UNRRA sowie die tschechoslowakische Regierung bezahlten die Zugfahrten von der polnischen Grenze nach Bratislava oder Asch an der tschechisch-deutschen Grenze. Auf der Route Stettin-Berlin wurden sowjetische oder polnische Lastwagenfahrer bestochen, um Flüchtlinge weiter zu schmuggeln, und der Übergang von Berlin in die britische Zone erfolgte entweder mit Hilfe von UNRRA-Beamten oder mit gefälschten Dokumenten. Ab Oktober 1945 wurden die Operationen in Österreich von Asher Ben-Natan und in Deutschland von Ephraim Frank geleitet, die beide „Schlichim“ (Gesandte) aus Palästina waren. In Wien gelangten die Flüchtlinge auf dem Weg von Bratislava über die österreichische US-Zone in Transitlager, die in der Nähe des Rothschild-Spitals errichtet wurden, und von dort aus nach Italien (bis etwa Mai 1946) oder in die deutsche US-Zone.

Das Pogrom von Kielce, bei dem am 4. Juli 1946 41 Juden umgebracht wurden, führte bei den polnischen Juden zu einer Massenpanik. Die polnische Regierung sah sich außerstande, die Gewaltausbrüche gegen die Juden zu verhindern, und gestattete in Verhandlungen mit Itzhak Cukierman im Juli 1946 die Flucht von Juden aus Polen über die schlesische Grenze in die Tschechoslowakei. Von Juli bis September 1946 flüchteten 70.000 Juden über diese Route in die Tschechoslowakei, die hauptsächlich durch Vermittlung des Außenministers Jan Masaryk ihre Grenzen öffnete. Die Flüchtlingsbewegung aus Polen kam vom Winter 1946/47 an zu einem langsamen Stillstand. Im Laufe des Jahres 1947 konnten weniger als 10.000 Juden Polen über Bricha-Routen verlassen; der Weg über Stettin wurde ab November 1946 kaum mehr benutzt.

Nach einigem Zögern und auf Intervention des amerikanischen Rabbiners Philip Bernstein gestattete die amerikanische Armee im Sommer 1946 zahlreichen Flüchtlingen den Übergang in die amerikanischen Zonen in Deutschland und Österreich. In der zweiten Hälfte des Jahres 1946 wurde jedoch die Weiterreise von Deutschland nach Italien behindert, bis zu Beginn des Jahres 1947 die Route über das Ahrntal wieder geöffnet wurde.

Ende 1946 fand ein Treffen von Bricha-Kommandanten anlässlich des 22. Zionistenkongresses in Basel statt, bei dem Ephraim Dekel, ehemaliger Leiter des Nachrichtendienstes der Hagana in Palästina, zum Europa-Leiter der Bricha ernannt wurde. Zu dieser Zeit verstärkten sich auch die Spannungen zwischen der Hagana und den dissidenten Untergrundorganisationen Etzel und Lechi. Im September 1947 wurde ein Bricha-Mann bei einem Grenzübergang in der Nähe von Innsbruck von Etzel-Mitgliedern ermordet.

1948 übernahm Meir Sapir von Ephraim Dekel die Leitung der Bricha, und die Bewegung kam langsam zu einem Abschluss, obwohl an einigen Grenzübergängen in Osteuropa die Tätigkeit der Bricha bis 1949 fortgesetzt wurde. Es wird geschätzt, dass zwischen 1944 und 1948 etwa 250.000 Personen Osteuropa verließen, von denen mindestens 80 % mit der organisierten Hilfe von Bricha ihre Flucht fortsetzen konnten. Die Bricha wurde vom amerikanischen Präsidenten Truman als schlagkräftiges Argument benutzt, als er im August 1945 die Aufnahme von 100.000 jüdischen Flüchtlingen in Palästina forderte und diese Forderungen im Mai 1946 dem englisch-amerikanischen Untersuchungsausschuss („Anglo-American Committee of Inquiry“) unterbreitete. Von 1945 bis 1948 erwies sich die jüdische Flüchtlingsbewegung aus Europa als wesentlicher Faktor im Kampf um die Errichtung des Staates Israel.

Erinnerungskultur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Friedensinitiative Alpine Peace Crossing veranstaltet seit 2007 Gedenkwanderungen in den Alpen.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Encyclopedia Judaica, Band 4, S. 622–632.
  • Thomas Albrich (Hrsg.): Flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdische Exodus durch Österreich nach 1945 (= Österreich-Israel-Studien, Bd. 1). Studien-Verlag, Innsbruck 1998, ISBN 3-7065-1289-0 (enthält die Vorträge der Tagung „Salzburg – Drehscheibe des jüdischen Exodus 1945–1948“, Salzburg 1997).
  • Asher Ben-Natan, Susanne Urban: Die Bricha – Aus dem Terror nach Eretz Israel. Ein Fluchthelfer erinnert sich. Droste, Düsseldorf 2005, ISBN 3-7700-1214-3.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Begleittext zu dem Foto Herbert Friedman eskortiert den Zionistenführer David Ben-Gurion durch eine Menge Bewunderer im DP-Camp Babenhausen@1@2Vorlage:Toter Link/collections.ushmm.org (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Juni 2023. Suche in Webarchiven)