Helene Deutsch

Helene Deutsch (geboren 9. Oktober 1884 in Przemyśl, Galizien, Österreich-Ungarn; gestorben 29. März 1982 in Cambridge, Massachusetts; geborene Rosenbach) war eine austroamerikanische Psychoanalytikerin. Sie war die erste Psychoanalytikerin, die sich auf die Psychologie der Frau und weibliche Sexualität spezialisierte.

Leben und Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als jüngste Tochter einer assimilierten jüdischen Familie – ihr Vater Wilhelm Rosenbach war Rechtsanwalt – wuchs Deutsch ohne religiöse Bindung an das Judentum auf. Mit dem sozialistischen Politiker Herman Lieberman gründete sie in Przemyśl eine Organisation für Arbeiterinnen und begleitete ihn 1910 zum Kongress der Sozialistischen Internationale nach Stockholm.

Sie studierte ab 1907 Medizin in Wien und München und promovierte 1912 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Im gleichen Jahr heiratete sie den Arzt Felix Deutsch und nahm eine unbezahlte Stelle als Assistenzärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien bei Julius Wagner-Jauregg an und assistierte bei dessen Erforschung der Malariatherapie zur Behandlung der progressiven Paralyse.

Von Helene Deutsch und Sigmund Freud unterschriebenes Zeugnis für Richard Sterba (1927)

1917 wurde ihr Sohn Martin Deutsch geboren, der ein bekannter Physiker wurde. 1918 begann sie eine Lehranalyse bei Sigmund Freud. Zuvor hat sie die Klinik von Wagner-Jauregg, der ein Gegner der Psychoanalyse war, verlassen. Freud brach die Analyse nach einem Jahr ab, weil er meinte, keine Hinweise auf eine Neurose bei ihr finden zu können, und weil er die Therapiestunde für einen anderen Patienten, der in der Literatur der Krankengeschichten Sigmund Freuds unter dem Namen „Wolfsmann“ bekannt wurde, benötigte.[1]

Als Schülerin und Mitarbeiterin Freuds und seit 1918 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung war sie die erste Frau, die sich intensiver mit der „Psychologie der Frauen“ befasste. 1920 nahm sie am VI. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Den Haag teil. 1923 ging sie nach Berlin, um sich weiterzubilden und auf Empfehlung Freuds bei Karl Abraham eine Analyse zu absolvieren. Später wurde sie Direktorin des Ausbildungsinstituts an dem von Eduard Hitschmann und Wilhelm Reich geleiteten Psychoanalytischen Ambulatoriums in Wien. Im September 1934 flüchtete sie mit ihrem Sohn aus dem vom Austrofaschismus regierten Österreich und zog in die USA. Ihr Ehemann folgte ihnen nur einige Monate später. In Cambridge (Massachusetts) war sie an der von Dr. Stanley Cobb geleiteten psychiatrischen Klinik am Massachusetts General Hospital bis zu ihrem Tod 1982 als anerkannte Psychoanalytikerin tätig.

In Weiterführung des Freudschen Ansatzes übernahm Helene Deutsch zwar die Vorstellungen Freuds von Ödipuskomplex, Penisneid, Kastrationsangst, Narzissmus und Masochismus, betonte aber die anatomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und beschäftigte sich hauptsächlich mit den spezifischen Auswirkungen dieser psychoanalytischen Konzepte auf die weibliche Psyche und Sexualität.

In ihren Arbeiten über die Psychologie der Frau und über weibliche Sexualität flossen autobiografische Erfahrungen ein. 1973 erschien ihre Selbstbiografie Confrontations with myself (in deutscher Übersetzung: Selbstkonfrontation), in der sie zugibt, den Tod ihres 1964 verstorbenen Ehemannes nie überwunden zu haben. Anfang der 1970er Jahre nahm sie an Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg teil. 1975 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Zur Psychologie des Mißtrauens, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 1921, Band VII, Heft 1, S. 71–83.[2]
  • Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Leipzig / Wien / Zürich : Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925
  • Psychologie des Weibes in den Funktionen der Fortpflanzung, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1925, Band XI, Heft 1, S. 40–53.[3]
  • Beitrag zur Psychologie des Sports, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1925, Band XI, Heft 2, S. 222–226.[4]
  • Zur Psychogenese eines Ticfalles, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1925, Band XI, Heft 3, S. 325–332.[5]
  • Ein Frauenschicksal George Sand, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, 1928, Band XIV Heft 2/3, S. 334–357.[6]
  • Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1930, Band XVI, Heft 2, S. 172–184.[7]
  • Ein Fall von Hühnerphobie, in: Die Psychoanalytische Bewegung, 1930, Band II, Heft 2, S. 185–194.[8]
  • Ein Fall von hysterischer Schicksalsneurose, in: Die Psychoanalytische Bewegung, 1930, Band II, Heft 3, S. 273–284.[9]
  • Ãœber die weibliche Homosexualität, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1932, Band XVIII, Heft 2, S. 219–241.[10]
  • Ãœber die Weiblichkeit, in: Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen, 1933, Band XIX, Heft 4, S. 518–528.[11]
  • Mütterlichkeit und Sexualität, in: Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen, 1933, Band XIX, Heft 1, S. 5–16.[12]
  • Zur Psychologie der manisch-depressiven Zustände, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1933, Band XIX, Heft 3, S. 358–371.[13]
  • Ãœber einen Typus der Pseudoaffektivität ("Als ob"), in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1934, Band XX, Heft 3, S. 323–335.[14]
  • Ãœber das induzierte Irresein (Folie à deux), in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1937, Band XXIII, Heft 4, S. 470–478.[15]
  • Confrontations with Myself. New York : Norton, 1973 (dt.: Selbstkonfrontation. Die Autobiographie einer großen Psychoanalytikerin. München : Kindler, 1975)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Werner Röder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, Vol II, 1 München : Saur 1983 ISBN 3-598-10089-2, S. 212 f.
  • Elke Mühlleitner: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Die Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1902–1938. Tübingen : Edition Diskord, 1992 ISBN 3-89295-557-3, S. 75–77
  • Jutta Dick & Marina Sassenberg: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Rowohlt, Reinbek 1993 ISBN 3-499-16344-6.
  • Uwe Henrik Peters: Psychiatrie im Exil : die Emigration der dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933–1939, Kupka, Düsseldorf 1992, ISBN 3-926567-04-X, S. 72 f.
  • Josef Rattner: Helene Deutsch. In: Klassiker der Psychoanalyse. 2. Aufl. Beltz / Psychologie Verlags Union, Weinheim 1995, ISBN 3-621-27285-2. (Erstauflage 1990 u. d. T. Klassiker der Tiefenpsychologie), S. 250–268.
  • Paul Roazen: Helene Deutsch. A Psychoanalyst’s Life, Doubleday, N.Y. 1985.
    • Paul Roazen: Freuds Liebling Helene Deutsch. Das Leben einer Psychoanalytikerin. Verlag Internat. Psychoanalyse, München 1989, ISBN 3-621-26513-9.
  • Inge Stephan: Helene Deutsch In: Hans Erler u. a. (Hrsg.): „Meinetwegen ist die Welt erschaffen“. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Portraits Campus, Frankfurt 1997, ISBN 3-593-35842-5, S. 185–191
  • Elke Mühlleitner: Deutsch, Helene. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2002, ISBN 3-205-99467-1, S. 130–132.
  • Lisa Appignanesi, John Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds. Ãœbersetzung Brigitte Rapp, Uta Szyszkowitz. München : List, 1994, S. 421–450

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Helene Deutsch (psychoanalyst) â€“ Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. ↑ Helene Deutsch: Selbstkonfrontation. Kindler Verlag, München 1973, ISBN 3-463-02190-0, S. 119.
  2. ↑ Helene Deutsch: Zur Psychologie des Mißtrauens. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 1. Juli 2022.
  3. ↑ Helene Deutsch: Psychologie des Weibes in den Funktionen der Fortpflanzung. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  4. ↑ Helene Deutsch: Beitrag zur Psychologie des Sports. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  5. ↑ Helene Deutsch: Zur Psychogenese eines Ticfalles. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  6. ↑ Helene Deutsch: Ein Frauenschicksal George Sand. In: The Collection Of The International Psychoanalyical University Berlin. International Psychoanalyical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  7. ↑ Helene Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  8. ↑ Helene Deutsch: Ein Fall von Hühnerphobie. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  9. ↑ Helene Deutsch: Ein Fall von hysterischer Schicksalsneurose. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  10. ↑ Helene Deutsch: Ãœber die weibliche Homosexualität. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Mai 2022.
  11. ↑ Helene Deutsch: Ãœber die Weiblichkeit. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  12. ↑ Helene Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  13. ↑ Helene Deutsch: Zur Psychologie der manisch-depressiven Zustände, insbesondere der chronischen Hypomanie. In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  14. ↑ Helene Deutsch: Ãœber einen Typus der Pseudoaffektivität ("Als ob"). In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.
  15. ↑ Helene Deutsch: Ãœber das induzierte Irresein (Folie à deux). In: The Collection Of The International Psychoanalytical University Berlin. International Psychoanalytical University Berlin, abgerufen am 15. Juni 2022.