Antisemitismus als Integrationsmoment
Der grausame Tod Ilan Halimis, der von einer Bande junger FranzösInnen zu Tode gefoltert wurde, ist nur der jüngste Höhepunkt antisemitischer Gewalttaten, die nicht mehr nur von den klassisch antisemitischen Gruppen ausgehen, sondern auch — und in zunehmendem Maße — einen Zusammenhang mit dem Antisemitismus aus einigen Herkunftsländern europäischer ImmigrantInnen vermuten lassen.
Die Mörderinnen Ilan Halimis waren nicht ausschließlich Jugendliche mit muslimischem oder arabischem Hintergrund. „Die Barbaren“, wie sie sich selbst nannten, bestanden aus Männern und Frauen unterschiedlicher Herkunft, mit migrantischem, aber auch mit mehrheitsfranzösischem Hintergrund und hatten sich Ilan Halimi als Entführungsopfer ausgesucht weil er Jude war und als Jude — so die Vorstellung der Entführung — würde er Geld bringen.
Der Mord stellte allerdings nur den bisherigen Höhepunkt einer neuen Welle antisemitischer Gewalt in Europa dar, die von verbalen Übergriffen über Drohungen und gezielte physische Angriffe bis eben zu Folter und Mord reicht.
Auch wenn in Österreich die Lage bislang ruhiger war als in Frankreich oder Deutschland, so kam es doch auch hierzulande vermehrt zu antisemitischen Übergriffen. Am 9. November 2003 kam es erstmals in Österreich zu einem Angriff auf eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Novemberpogroms und der Shoah in Wien. Die Allianz der Angreifenden, die aus der klassischen antiimperialistischen Linken stammenden Sedunia — deren Mitglieder teilweise zum Islam konvertiert sind und eine krude Mischung aus platter linker Rhetorik und Islamismus vertreten — und die Mitglieder des Arabischen Palästina Clubs, der PFLP-nahen Palästinenserorganisation Wiens, zeigte erstmals auch hier an, wohin die Reise geht: Antisemitismus verbindet und integriert und wird umso gefährlicher, je mehr sich der linke und rechte Antisemitismus der MehrheitsösterreicherInnen mit einem islamisierten Antisemitismus nahöstlicher ImmigrantInnen vereinigt.
Zahlreiche Konflikte wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland ausgetragen, wo sich Spaltungslinien sowohl innerhalb der „deutschen“ Linken, als auch zwischen MigrantInnenorganisationen zeigten. So thematisierten auch einige Gruppen aus der migrantischen Linken, wie Café Morgenland, den Antisemitismus in MigrantInnengruppen, kritisierten jedoch zugleich die Fixierung deutscher Antideutscher auf Muslime als TrägerInnen des Antisemitismus. [1] International wurde jedoch dem Antisemitismus unter Jugendlichen, deren Familien teilweise schon vor Jahrzehnten aus dem Maghreb nach Frankreich eingewandert sind, große Aufmerksamkeit geschenkt, da deren Antisemitismus teilweise zu physischen Angriffen und Anschlägen auf Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Lokale in Frankreich führte. Allerdings kam es durch die Offensichtlichkeit des Antisemitismus in Frankreich auch vermehrt zu gemeinsamen Bemühungen gemäßigter islamischer Institutionen und jüdischer Gemeinden, die sich für ein gegenseitiges Verständnis zwischen marginalisierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Jüdinnen und Juden, die großteils selbst aus dem Maghreb stammen, einsetzten.
Verschiedene Traditionsstränge vereinen sich
Der Antisemitismus von MigrantInnen speist sich insbesondere in den Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches aus unterschiedlichen Quellen, die zwar miteinander zu tun haben, aber zugleich zu einem neuartigen Gemenge unterschiedlicher antisemitischer Traditionslinien vermischt werden.
Einerseits ist hier der traditionelle Antisemitismus der deutschen und österreichischen Mehrheitsgesellschaft zu nennen. Mit diesem verbunden, aber keineswegs identisch zeigt sich auch der linke „Antizionismus“ oder die zumindest strukturell antisemitische „verkürzte Kapitalismuskritik“ großer Teile der europäischen Linken.
Ein zwar öffentlich nach 1945 teilweise tabuisierter, aber privat und gesellschaftlich weiter tradierter und öffentlich als Antizionismus oder „gegen die Ostküste“ codierter Antisemitismus, stellt letztlich auch eine Möglichkeit der Integration von ImmigrantInnen dar. Nichts verbindet mehr als ein gemeinsames Ressentiment. Wenn gefordert wird, MigrantInnen hätten sich einer „deutschen Leitkultur“ anzupassen, beinhaltet dies implizit auch die Aufforderung, den deutschen Antisemitismus zu übernehmen.
Wie erfolgreich diese Integrationsstrategie verlaufen kann, zeigt auch die neue Liebe der Deutschen für den Islam. War in den siebziger- und achtziger Jahren der Islam in Deutschland und Österreich noch eines der wichtigsten Feindbilder, so entwickelte sich mit der Zunahme des Antisemitismus in islamischen Gesellschaften, insbesondere mit den Anschlägen von Bin Ladens al-Qaida, dessen internationale Organisation sich eigentlich „Internationale Front für den Djihad gegen Juden und Kreuzzügler“ nennt, ein zunehmendes Interesse und Verständnis für den Islam. Nicht dass ein solches Interesse an sich schon antisemitisch und abzulehnen wäre, es scheint jedoch, dass sich dieses Interesse nicht trotz, sondern gerade wegen des zunehmend mörderischen Antisemitismus militanter IslamistInnen von der Hamas bis zur al-Qaida vergrößert. Als Indiz dafür kann auch die mediale Rezeption des Nahostkonfliktes gelten. Zunächst waren „die Palästinenser“ zu einem Zeitpunkt, in dem palästinensische Organisationen zwar einzelne sehr blutige Anschläge gegen ZivilistInnen verübten, aber noch lange nicht mit massenhaften Selbstmordanschlägen gegen Jüdinnen und Juden losschlugen, sondern ihre Anschläge noch irgendwie in einen Kontext eines „linken“ Antiimperialismus stellten, geradezu als Synonym für grausame TerroristInnen in den deutschen und österreichischen Medien präsent. Dieses Bild änderte sich jedoch, als der Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft zum Massenphänomen wurde, die Hamas zunehmend an Einfluss gewann und selbst ehemals säkulare Organisationen wie die al-Fatah oder die PFLP sich in Form und Inhalt ihrer Anschläge zunehmend antisemitischen IslamistInnen anglichen. Je ähnlicher der islamistische Antisemitismus dem deutschen wurde, desto mehr konnten IslamistInnen auf deutsches Verständnis hoffen.
Hier wächst ein neuer globalisierter Antisemitismus zusammen. Das jüngste Beispiel dafür sind die antiisraelischen und holocaustleugnenden Ausritte des iranischen Präsidenten Ahmadi-Najad. Zur von ihm angekündigten revisionistischen „Holocaust-Konferenz“, in der der iranische Präsident ein internationales „Fachpublikum“ einladen will, das „endlich die Wahrheit über den Holocaust“ präsentieren soll, sind auch europäische Negationisten wie Roger Garaudy geladen. David Irving wird wohl nur durch seine Haftstrafe in Österreich von einem Besuch der Konferenz abgehalten werden.
Die zweite Traditionslinie des Antisemitismus unter MigrantInnen ist neben dem deutschen Antisemitismus eben jener Antisemitismus ihrer „Herkunftsländer“. Insbesondere in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein moderner Antisemitismus gebildet, der sich einerseits durch die ökonomische, politische und soziale Situation eines peripheren Kapitalismus und andererseits durch den Import moderner antisemitischer Ideen aus Europa, insbesondere aus Deutschland, entwickeln konnte. Bereits über den Mufti von Jerusalem Haj Amin al-Husseini, der als einer der wichtigsten sunnitischen Geistlichen während der NS-Zeit mit Deutschland kollaborierte und den Nazis sogar behilflich war, muslimische SS-Divisionen in Bosnien und Albanien aufzubauen, kam es zur unmittelbaren Übernahme deutscher Ideologie durch arabische NationalistInnen und IslamistInnen. Die eng mit Amin al-Husseini zusammenarbeitende Muslim-Bruderschaft verband dabei ihren islamischen Integralismus zunehmend mit dem Antisemitismus der Nazis. Systematisiert wurde diese Verbindung allerdings erst in den sechziger Jahren durch Sayyid Qutb, der in seinem Werk „Unser Kampf mit den Juden“ die Ideen der „Protokolle der Weisen von Zion“ und anderer antisemitischer Schriften aus Europa mit einer islamischen Tradition verband. Seither ist der Kampf gegen Jüdinnen und Juden ein Element, das IslamistInnen aus verschiedensten islamischen Staaten, aber auch aus Europa, miteinander verbindet. Den jüngsten Höhepunkt dieses mörderischen Antisemitismus stellte — außerhalb Israels — der Anschlag auf zwei Synagogen in Istanbul am Samstag, den 15. November 2004 dar, bei dem 25 Menschen ums Leben kamen. Wenn selbst in der Türkei, in der mehrere zehntausend Jüdinnen und Juden bisher überwiegend unbehelligt leben konnten und sich deshalb im Gegensatz zu den meisten anderen islamischen Staaten in Istanbul, Izmir, Bursa und Ankara Gemeinden erhalten haben, solche Anschläge möglich sind, ist der Antisemitismus islamistischer Gruppen keineswegs mehr ein Randphänomen, sondern ein zentraler Programmpunkt dieser politischen Strömungen.
In der Krise des klassischen arabischen Nationalismus verband sich dieser islamistische Antisemitismus wiederum mit den Resten des arabischen Nationalismus, insbesondere des Ba’thismus, einer in den 1940er-Jahren vom syrischen Christen Michel Aflaq gegründeten panarabischen Partei, die bis 2003 im Iraq unter Saddam Hussein an der Macht war und heute noch Syrien regiert. Die Ba’th-Partei vertrat von Anfang an einen völkischen Nationalismus nach deutschem Vorbild. Der Antisemitismus war ebenso integraler Bestandteil seiner Ideologie, wie ein völkischer „Sozialismus“, der Antikommunismus und Antiliberalismus. Gemeinsame Feindbilder halfen in den Neunziger Jahren — insbesondere dem in die Enge getriebenen irakischen Ba’thismus — bei seiner Annäherung an sunnitisch-islamistische Gruppen, die sich insbesondere bei seinen europäischen AnhängerInnen in Richtung einer gemeinsamen Front der Ressentiments gegen Juden, Amerika und „den Westen“ entwickeln.
Politisch widerstehen
Aufgrund der größeren politischen Freiheiten in Europa konnten sich islamistische und gihadistische Gruppierungen ungestört entwickeln, während sie in den autoritär regierten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens oft verfolgt und manchmal gegen die Linke instrumentalisiert wurden.
Auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz sind mit Milli Görüs, dem Khalifenstaat Metin Kaplans, den Nurculuk, den Süleymancilar oder den Nakshibandiya Gruppen des sunnitischen Integralismus aus der Türkei vertreten. Unter arabischen ImmigrantInnen sind jedoch besonders die sunnitischen Muslim-Brüder, die von Muslim-Brüdern gegründete Hamas, die Hizb al-Tahrir und Vorfeldorganisationen der schiitischen Hisbollah aktiv. Auch hier spielen jedoch KonvertitInnen eine zunehmend wichtigere Rolle als Verbindungsglied zu den europäischen Gesellschaften. [2] So unterschiedlich diese Gruppierungen in den konkreten Ausformungen ihres Integralismus sind, so eint sie doch ein antisemitisches Weltbild und eine zunehmende Thematisierung des Nahostkonfliktes, der immer mehr religiös aufgeladen wird und damit nicht mehr rational lösbar erscheint. Es kann wohl auch kaum als Zufall gewertet werden, dass die Ausführenden des Anschlags vom 11. September 2001 islamische ImmigrantInnen waren, die in Deutschland lebten und von hier aus ungestört ihren Massenmord planen konnten.
Der Kampf gegen Antisemitismus von MigrantInnen muss ebenso entschlossen geführt werden, wie der Kampf gegen jeden anderen Antisemitismus. Dass dadurch nicht alle (islamischen) MigrantInnen pauschal des Antisemitismus verdächtigt werden, sollte gerade für all jene ein Gemeinplatz sein, die sich der Emanzipation verschrieben haben. [3] In diesem Bemühen nicht rassistisch zu werden, politische Phänomene zu kulturalisieren oder zu biologisieren ist eine Herausforderung, die jeweils thematisiert und gelöst werden muss. Denn: Soll dieser Kampf erfolgreich sein, muss er gemeinsam mit jenen MigrantInnen geführt werden, die sich diesem Antisemitismus widersetzen. Erste Ansätze dafür gibt es. In Berlin fand nach den Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen in Istanbul eine Kundgebung der „Migrantischen Initiative gegen Antisemitismus“ statt. Auch in Wien protestierten türkische Eltern gegen Religionslehrer, die ihre Kinder verhetzen würden. Auch arabischen MigrantInnen und Flüchtlingen wird zunehmend klarer, dass es dieselbe Ideologie ist, die in Israel oder Frankreich Jüdinnen und Juden tötet, die auch im Irak Anschläge gegen ZivilistInnen motiviert. Säkulare EinwohnerInnen mit migrantischem Hintergrund und gemäßigte Muslime setzen sich auch in Österreich zunehmend gegen den politischen Islam zur Wehr. Daraus folgen noch nicht automatisch entsprechende Aktivitäten gegen den Antisemitismus, ein erster Schritt in die richtige Richtung ist damit jedoch gesetzt.
Der gemeinsame Kampf gegen den Antisemitismus darf jedoch jene Gesellschaften nicht außer acht lassen, in welchen sich islamistischer Antisemitismus auf Sympathien, schweigende oder aktive Zustimmung berufen kann: darunter auch die österreichische.
[1] vgl. http://www.cafe-morgenland.com/sub01/antisemi.htm, http://www.cafe-morgenland.com/sub01/geifern.htm
[2] KonvertitInnen haben inzwischen mit den Murabitun, die von einem ehemaligen schottischen Schauspieler namens Ian Dallas, der sich jetzt Shaykh Abd al-Qadir al-Murabit nennt, geführt werden, eine eigene islamistische Kaderorganisation für Europa gegründet. Die Murabitun verbinden ihren Islamismus durch die Verehrung von faschistischen Vordenkern wie Ernst Jünger oder Martin Heidegger direkt mit totalitären Ideen Europas. Sie besitzen ein großes Zentrum in Granada und sind als Islamische Gemeinschaft in Deutschland und mit der von Andreas Abu Bakr Rieger herausgegebenen „Islamischen Zeitung“ auch in Deutschland aktiv.
[3] Jede Ungleichbehandlung von Muslimen, wie etwa die Einführung von Gewissensfragen für Einbürgerungswillige, die ausschließlich von MuslimInnen zu beantworten sind, stellt MuslimInnen unter Generalverdacht und ist damit nicht nur kontraproduktiv, sondern Verrat an den Werten der Gleichheit der Französischen Revolution. Wenn dem auch antideutsche Linke wie Horst Pankow in der Zeitschrift Prodomo (Der Muslim-Test. Über das zwangsläufige Scheitern einer notwendigen Intervention http://www.prodomo-online.org/aktuell_muslim-test.html) etwas abgewinnen können und noch dazu fordern, dass der Fragenkatalog ausschließlich MuslimInnen vorgelegt werden soll, ist dies nur ein weiteres Indiz für die Verbreitung antiislamischer Ressentiments in der antideutschen Linken.