FORVM, No. 120
Dezember
1963

Aus Deutschlands Krankengeschichte

Neue Literatur über Hitlers Frühzeit

Trotz der umfangreichen Literatur über die Weimarer Republik, ihre Endphase und die Entwicklung des Nationalsozialismus bis zum Regierungsantritt Hitlers sind die Forschungen über diesen Zeitraum keineswegs abgeschlossen. Das Zusammenwirken verschiedener Umstände erschwert den genauen Einblick immer noch. Insbesondere haben der Ausgang des Zweiten Weltkrieges und die anschließenden Nürnberger Prozesse dazu beigetragen, Forschung und Darstellung auf die letzten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft zu konzentrieren. Hingegen wurde der Entwicklung Hitlers und seiner Partei weniger Aufmerksamkeit geschenkt, desgleichen den Ereignissen zwischen 1918 und 1933, die für die Formung Hitlers, seiner Gedankengänge und der Tätigkeit der Nationalsozialisten von wesentlicher Bedeutung sind. Vielfach begnügen sich Darstellungen dieser Zeit mit der Übernahme der nationalsozialistischen Propagandathesen: Hitler habe sich eben entschlossen, „Politiker zu werden“, habe zielbewußt nach der Macht gestrebt, die entsprechende Politik getrieben und sei folglich Reichskanzler geworden. Aber dadurch wird die Frage nicht hinreichend beantwortet, wie es möglich war, daß ein Mann mit unvollständiger Schulbildung, der beruflich bereits gescheitert war, der sich wohl als Soldat im Weltkrieg eine Tapferkeitsauszeichnung erworben, aber niemals eine auch noch so kleine militärische Einheit geführt hatte, 15 Jahre danach an die Spitze des Deutschen Reiches treten konnte.

Gewiß kamen Hitler bei seiner politischen Tätigkeit die allgemeinen Zustände in Deutschland, insbesondere in Bayern und München, zugute: der Sturz der bayerischen Monarchie, die in weiten Kreisen der Bevölkerung fest verankert war; die Räterepublik in München; der Versailler Friedensvertrag mit seinen weitreichenden Folgen; die allgemeine Unruhe in großen Teilen des Reiches als Ergebnis der Revolution. Das alles waren Ereignisse und Umstände, die Hitler bei seiner Propaganda unterstützten und ihm ein aufnahmebereites Publikum zuführten. Damit ist aber sein politischer Erfolg noch nicht ausreichend erklärt. Gerade in München gab es eine Zahl von Männern in einflußreicher Stellung sowie politische Kräfte und Organisationen, z.B. die Wehrverbände, die durchaus ähnliche Gedanken vertraten wie Hitler, jedoch mit letztlich viel geringerem Erfolg.

Daher sind Darstellungen, die sich mit der frühen Tätigkeit Hitlers und seiner damaligen politischen Umwelt befassen, von besonderem Wert.

Georg Franz-Willing bringt in einem ersten Band „Der Ursprung 1919-1923“ — er plant eine Geschichte der Hitlerbewegung in fünf Bänden — wichtige Hinweise auf die Entstehung der Deutschen Arbeiterpartei, in die Hitler später eintrat, sowie auf die im Hintergrund wirkende antisemitische Thule-Gesellschaft. Neben Akten aus dem Parteiarchiv verwendet er als Material für seine Arbeit die Niederschrift der von ihm vorgenommenen Befragung einer Zahl von Mitgliedern der nationalsozialistischen Partei in deren Gründungszeit. Freilich können die Erinnerungen der Befragten nach 30 bis 40 Jahren nicht mehr für unbedingt zuverlässig gelten; aber Willing glaubt dieser Schwierigkeit dadurch entgangen zu sein, daß er durch Vergleich der Befragungsergebnisse Fehlerquellen nach Möglichkeit ausschloß.

Im wesentlichen folgt Franz-Willing den bisher eingeschlagenen Wegen. Auch wo er wichtige Umstände erwähnt — z.B. daß Dietrich Eckart, der wohl zu Recht als wichtiger Mentor Hitlers geschildert wird, einen großen Betrag zum Ankauf des „Völkischen Beobachters“ von General Epp erhielt —, unterläßt er es, derlei nach Bedeutung und Hintergründen des Näheren zu untersuchen. So wird man das Erscheinen weiterer Bände des Werkes abwarten müssen, ehe man das Urteil abgeben kann, ob es sich hier bloß um eine, wenn auch vervollständigte, Aufzählung von bereits bekannten Tatsachen handelt oder überdies um eine kritische Zusammenfassung und Neubewertung solchen Materials.

Der Putsch vom 8. und 9. November 1923 in München beendet den ersten Abschnitt der Entwicklung Hitlers und seiner Partei. In konzentrierter Form treten noch einmal alle Umstände und Kräfte in Erscheinung, die zum politischen Werdegang Hitlers beigetragen haben: die Erregung weiter Kreise der Bevölkerung durch die Katastrophe der Inflation; die Bewegung gegen die Besetzung des Ruhrgebietes mit ihren weittragenden wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen; die Unzufriedenheit mit der Reichsverfassung, die alledem nicht gewachsen zu sein schien; die Sorge vor einem neuen Überhandnehmen des Linksradikalismus, wie er beim Kommunistenputsch in Hamburg sowie bei der Bildung sozialdemokratisch-kommunistischer Regierungen in Sachsen und Thüringen in Erscheinung trat.

Ernst Deuerlein gibt in seinem umfangreichen Dokumentenwerk „Der Hitler-Putsch“ einen bisher einzigartigen Einblick in dessen Hintergründe. Er liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Ergänzung und Vertiefung der Forschung. Wenn die von ihm veröffentlichten Dokumente auch nur Ausschnitte aus den turbulenten Ereignissen in den Wochen vor und nach dem Putsch widerspiegeln können, so geben sie doch Aufschlüsse über Zusammenhänge, die von den maßgebenden bayerischen Regierungsvertretern auch im Hitler-Prozeß zumeist unerwähnt gelassen wurden, so z.B. die Zusammenarbeit Hitlers und seiner SA mit anderen bayerischen Wehrverbänden und mit der Reichswehr. Hier geht es um Fragen, die für die Bewertung des Putsches von besonderer Bedeutung sind, deren Erörterung im Prozeß und auch späterhin unterblieb, weil es sich um Verstöße gegen den Versailler Vertrag handelte. Ergänzende Aufschlüsse wird die bereits angekündigte Herausgabe von Aufzeichnungen über den nichtöffentlichen Teil des Hitler-Prozesses geben. Ohne diese Aufzeichnungen sind die Vorgänge an den Putschtagen und das Urteil im Hitler-Prozeß gar nicht richtig zu verstehen.

Wie für den ersten Abschnitt von Hitlers politischer Tätigkeit gilt auch für den wichtigen Zeitraum von 1930 bis 1933, daß viele Probleme noch keineswegs ausreichend untersucht sind, trotz der hier vorliegenden umfangreichen Literatur. Häufig begnügen sich die Darstellungen mit einer Aufzählung der Ereignisse, beginnend etwa mit den nationalsozialistischen Erfolgen bei den Reichstagswahlen im September 1930, und schildern dann die weiteren Abschnitte der deutschen Politik als Etappen zielbewußten Machtstrebens Hitlers und des Nationalsozialismus. Jedoch taucht gerade bei einer solchen Auffassung die Frage auf, worauf im Konkreten die nationalsozialistischen Erfolge zurückzuführen sind. Welche Umstände bewirkten die Vermehrung der nationalsozialistischen Mandate im Reichstag von 12 im Jahr 1923 auf 107 innerhalb von zwei Jahren? Die stürmische Aufwärtsentwicklung der nationalsozialistischen Partei steht ohne Zweifel in engem Zusammenhang mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Deutschen Reich. Jede Darstellung bleibt daher unvollständig, die sich nur mit den Nationalsozialisten, ihrer Tätigkeit und Propaganda befaßt, statt auch — und zwar in aller Konkretheit — mit den Wechselbeziehungen zwischen dem Nationalsozialismus und den einzelnen Abschnitten der deutschen Wirtschaftsgeschichte und der davon bestimmten politischen Geschichte.

Um diese Zusammenhänge, die den in der Endphase der Weimarer Politik politisch Handelnden vertraut waren, im einzelnen zu erhellen, wird noch manche Forschungsarbeit erforderlich sein. Sie wird erleichtert durch Veröffentlichungen, die Einblick in das Denken und Handeln der damaligen verantwortlichen Politiker geben. Thilo Vogelsang edierte die Erinnerungen Hermann Pünders aus den entscheidenden Jahren, in denen dieser als Staatssekretär in der Reichskanzlei ein enger Mitarbeiter Brünings war. Wohl weisen die tagebuchartigen Aufzeichnungen erhebliche Lücken auf, da sie nicht regelmäßig geführt wurden. Trotzdem gewähren sie bedeutsame Aufschlüsse über Details der Regierungszeit Brünings.

Einer umfangreichen Arbeit hat Thilo Vogelsang den Titel „Reichswehr, Staat und NSDAP, Beiträge zur deutschen Geschichte 1930-1932“ gegeben. Hier wird zum erstenmal ausführlich die Entwicklung der Reichswehr und ihr Einfluß innerhalb der Weimarer Republik behandelt. Da die Landesverteidigung in Deutschland durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages stark eingeengt wurde, vollzogen sich militärische Planung und Vorbereitung unter dem Schutz strenger Geheimhaltung, um die Verstöße gegen den Vertrag nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ein besonderes Problem war die zahlenmäßige Beschränkung der Reichswehr auf 100.000 Mann, die sich zu 12jähriger Dienstzeit verpflichten mußten. Schon frühzeitig wurde durch Ausbildung der wehrfähigen Bevölkerung in den östlichen Grenzgebieten versucht, die wenigen aktiven Einheiten durch Grenzschutzverbände zu verstärken. Diese Ausbildung und die Lagerung von Waffen für die vorgesehenen Verbände führten zu Auseinandersetzungen mit den Zivilbehörden, z.B. auch mit der preußischen Regierung. Durch das Anwachsen der nationalsozialistischen Partei und ihrer SA in den östlichen Gebieten des Reiches wurden die Nationalsozialisten in die Erörterung dieser Fragen einbezogen. Es ist das besondere Verdienst Vogelsangs, in mühseliger Kleinarbeit die sachlichen Unterlagen für die Beurteilung der damaligen Auseinandersetzungen über Umfang und Organisation der Grenzschutzverbände zusammengestellt zu haben.

Vogelsang hat sein Buch in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten behandelt er, als Einführung, die Zeit von 1919-1929 und hier besonders den Aufstieg Schleichers. Es folgen Abschnitte über die Regierungen Brüning I, Brüning II, Papen und Schleicher, mit einer „Vorgeschichte der Berufung Hitlers“. Ein Anhang von 43 wichtigen Dokumenten ergänzt die genau belegte Darstellung.

Da die Erforschung des Nationalsozialismus immer noch sehr lückenhaft ist, begegnet heute eine umfassende Darstellung dieses Themas immer noch großen Schwierigkeiten. Friedrich Glum hat nun einen solchen Versuch unternommen: „Der Nationalsozialismus, Werden und Vergehen“. Der Verfasser „erhebt nicht den Anspruch, in diesem Buch eine abschließende historische Darstellung des Nationalsozialismus zu geben“, er ist auch darauf gefaßt, „von der Kritik auf Lücken hingewiesen zu werden“. Sein Buch entstand aus seinen Vorlesungen an der Münchener Universität.

Glum versucht zunächst, den Wurzeln des Nationalsozialismus und des Antisemitismus nachzugehen; er verfolgt sie bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Bemerkenswerterweise übersieht Glum die Wechselbeziehung zwischen den deutschen Ereignissen und jenen in Rußland nach der bolschewistischen Revolution, welche die Deutschen für autoritäre Gedanken besonders empfänglich machte. Überhaupt wird die geistige Einwirkung des Ostens auf die deutsche Gedankenwelt bei allen derartigen Erörterungen, verglichen mit der Beachtung westlicher Einflüsse, viel zu wenig behandelt. Glums Darstellung beruht, wie er selbst angibt, auf seinem Erleben der damaligen Zeit. So entstand tatsächlich ein bloßer Überblick über „Werden und Vergehen“ des Nationalsozialismus. Manche Ungenauigkeiten, so bei Namen und Zeitangaben, schränken den Wert des Überblickes ein.

Insgesamt dürfen alle hier besprochenen Werke, insbesondere die von Deuerlein und Vogelsang, als Beweis dafür dienen, daß noch wichtige Probleme zu bearbeiten sind, ehe Klarheit über jene erst kurz zurückliegende Zeit entsteht. Anregung zu weiterer Forschung, wie sie von diesen Werken ausgehen kann, ist daher höchst erwünscht.

Bibliographie

  • Georg Franz-Willing: Die Hitlerbewegung I, Der Ursprung 1919-1922, R. v. Decker’s Verlag G. Schenk, Hamburg-Berlin.
  • Ernst Deuerlein: Der Hitler-Putsch, Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
  • Hermann Pünder: Politik in der Reichskanzlei, Aufzeichnungen aus den Jahren 1929-1932, herausgegeben von Thilo Vogelsang, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
  • Thilo Vogelsang: Reichswehr, Staat und NSDAP, Beiträge zur deutschen Geschichte 1930-1932, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
  • Friedrich Glum: Der Nationalsozialismus, Werden und Vergehen, Verlag C. H. Beck, München.

(Die Bücher von Deuerlein, Pünder, Vogelsang erschienen in Schriftenreihen des Instituts für Zeitgeschichte in München.)

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