Streifzüge, Heft 30
März
2004

„Bildung für nachhaltige Entwicklung“

Rückblick in ideologiekritischer Absicht

„Nachhaltigkeit“ als pädagogischer Renner

Eine Zufallsstichprobe am 20. Dezember 2003 im Internet ergibt 71.300 Websites zu „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Hier finden sich fachlich versierte „Nachhaltigkeits“-TheoretikerInnen, die politische Analysen anstellen, in nationalen und internationalen Fachgremien mitarbeiten, Politikberatung betreiben, aber bezogen auf die Verwirklichung ihrer Konzepte nur Forderungen an Dritte erheben: „Die Menschheit oder die Gesellschaft soll, muss etc.“

Ähnlich abstrakt bleiben viele pädagogische „Nachhaltigkeits“-TheoretikerInnen, bei deren Texten man von der Systematik und der Sprache her oft bezweifeln muss, dass sie das, was sie pädagogisch fordern, auch selbst im Klassenzimmer unterrichtlich einlösen können. Sie stehen zum Teil in der Gefahr, sich konzeptionell wie begrifflich zu isolieren und den Anschluss an die pädagogische Alltagswelt zu verlieren.

Dann gibt es die kreative Gruppe reflektierter PraktikerInnen, die Arbeitsmaterialien produzieren, und all diejenigen, die sich als LehrerInnen für diese Thematik interessieren und auf inhaltliche wie didaktische Unterstützung durch Fachleute angewiesen sind.

Ein Heilsversprechen:

Da die Globalisierung nicht aufzuhalten ist und allenfalls durch innere Widersprüche des Systems aus dem Rhythmus geraten kann, entsteht eine „merkwürdige und widersprüchliche Entwicklung – eine wachsende Diskrepanz zwischen den Aussagen von Idealisten, Freiwilligen und Experten, in denen durch eine Flucht nach vorne in imaginäre Lösungen alles immer besser wird, und dem realen Stand der Dinge (… ), wo sich alles unabwendbar verschlechtert.“ [1] „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wirkt wie ein Heilsversprechen, das leider nicht einlösbar ist.

„Bildung für …“:

Die gängige Formulierung „Bildung für …“ lässt erkennen, dass hier Formung, Beeinflussung, kurz „Erziehung für XY“ gemeint ist, praktiziert als Belehrung und Bekehrung in moralischer Absicht, nicht aber unter „Bildung“ Selbstermächtigung, Selbstbestimmung, Selbstaneignung verstanden wird. [2] Bildung als Subjektentwicklung ist ein „Institut der Steigerung“ ( H. Ebeling) und kann nicht auf einen vorweg festgelegten Zweck („für“) verengt werden.

„Bildung für nachhaltige Entwicklung“, diese Formel muss den Erziehungs-Anstrengungen zugeschlagen werden, die traditionell mit „Politische Bildung“ überschrieben werden: interessengeleiteten, zumeist institutionellen Eingriffen in die politische Sozialisation, didaktisch strukturierten Versuchen politischer Prägung, gerichtet auf ein je erwünschtes Verhalten. Dass hier immer von „Bildung“ statt redlicherweise von „Erziehung“ gesprochen wird, geschieht, um das Anstößige des Erziehungsvokabulars zu vermeiden.

Lernen als nicht erzwingbare Subjektleistung:

Erziehung zur Sensibilität für das labile Ökosystem der Erde wird immer dann ihren Zweck verfehlen, wenn die Lernenden die dargestellten Probleme nicht als ihre eigene Lernproblematik übernehmen, weil sie sich von den angestrebten Lernresultaten keine Erweiterung ihrer Verfügungs- und Lebensmöglichkeiten erhoffen. [3] Verstehen und Lernen als Aneignung von bislang fremdem Wissen, nicht Verstandenem, bislang nicht beherrschten Fertigkeiten sind unverwechselbare Subjektleistungen. Sie können von Dritten allenfalls erbeten oder abgefordert, nicht aber letztlich erzwungen werden.

Grenzen pädagogischer Allmacht:

Schon in der bisherigen „Umwelterziehung“ sollten LehrerInnen die SchülerInnen dazu bringen, „sich so zu verhalten, dass Schaden von unserer Umwelt ferngehalten wird und aus unserer geschädigten Welt eine bessere Welt wird“, dies mit dem Ziel, „dass sie sich später einmal besser verhalten als die Generation ihrer Lehrer.“ [4] Diese pädagogischen Allmachtsphantasien konnten in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht eingelöst werden. Laut vorliegenden empirischen Studien zur Wirkung von Umwelterziehung steigt zwar das Umweltbewusstsein infolge von Unterricht, das Verhalten der Schüler ändert sich aber nicht in großem Ausmaß (ebd. ). Jetzt soll es noch um weit mehr gehen, um die „Mobilisierung der Menschen für eine gelingende, selbst verantwortete und zu gestaltende Zukunft.“ [5] Jürgen Rost (2003), der sich mit der mit viel zu hohen Erwartungen betriebenen „Umwelterziehung“ beschäftigt hat, nennt als Probleme, die schon dort nicht didaktisch gelöst wurden und jetzt in Sachen Nachhaltigkeit in Potenz anstünden, u. a.

  • den Umgang mit systemischer Komplexität,
  • das Fehlen überzeugender Ansätze einer Werteerziehung,
  • die Schwierigkeit, sich in einer komplexen Situation entscheiden zu müssen, in der sehr viele unterschiedliche Wertvorstellungen miteinander konkurrieren,
  • den Mangel an positiven Zielkriterien und
  • schließlich den Umgang mit kompetenzorientierten Bildungskonzepten.

Politische Sozialisation im Alltag:

Das tatsächlich relevante politische Lernen und eine substantielle politische Erziehung, Prägung und Entwicklung der Einzelnen (politische Sozialisation) vollziehen sich hauptsächlich im (familiären und außerfamiliären) Alltag, nicht aber ausschließlich in zeitlich winzigen unterrichtlichen Episoden, in denen in der Schule, beim „Bund“ oder im Zivildienst bewusst politische Erziehung betrieben wird.

Als Entwicklung der Persönlichkeit, „Sozial-Werden“ [6] und stetige Veränderung der Person hat Sozialisation vom ersten Lebenstag bis zum hohen Greisenalter politische Anteile und ist politisch relevant. Man kann den Menschen nicht in einen „privaten“ Teil und einen „sozialen“ aufteilen, er ist immer politisches Subjekt, im Handeln ebenso wie im Unterlassen. Die Entstehung des „vergesellschafteten Subjekts“ (D. Geulen) geschieht im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (K. Marx), hineingeboren und alltäglich eingeübt in die Machtstrukturen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, von dem sich das Subjekt als total abhängig erlebt und in dem alles zur Ware wird. Die in dieser Wirtschaftsform und diesem Gesellschaftssystem geltenden Werte, Verhaltensund Bewusstseinsformen werden in ihrer radikalen Vielfalt samt allen (größtenteils unaufhebbaren und unlösbaren) Widersprüchen, Konflikten und Krisen als Anpassungszwang erlebt. Die Einzelnen entwickeln sich im Verlauf ihres Lebens in Anpassung an, teilweise aber auch im Widerstand gegenüber geltenden gruppenspezifischen Werten, Normen und Handlungsmustern, um sozial handlungsfähig zu werden und zu bleiben. Sie erhalten das System durch die eigene Lebenspraxis. Lebenslang wirksame Akzente politischer Prägung werden – meist eher beiläufig – im Elternhaus gesetzt, ganz gleich, ob das dort erlebte politische Selbstverständnis inklusive Handlungsmustern übernommen oder ob bewusst ein eigenes Gegenkonzept entwickelt und praktiziert wird.

Sollte die alltägliche Lebenswelt wirksam für „Nachhaltigkeit“ sozialisieren, müsste der ethische Imperativ der freiwilligen Einschränkung aus Verantwortung gegenüber den späteren Generationen auf der gesamten Erde die erste Präferenz im allgemeinen Bewusstsein haben. Es ist gerade umgekehrt: Die Einzelnen lernen von klein an, dass das wichtigste Ziel das der eigenen Selbstbehauptung im Hier und Jetzt sei. Diese Haltung („Ich-AG“) wird heute, da der Wohlfahrtsstaat inklusive Daseinsfürsorge an sein Ende kommt, öffentlich gefordert: „Ein jedes hilft sich selbst. Setz Dich durch, sei beweglich, Dein Erfolg ist berechenbar, soziale Bindungen müssen einem nützen! “ Bundeskanzler Schröder fordert die Bevölkerung in seiner Neujahrsansprache am Silvesterabend 2003 zum kräftigen Konsum auf.

Der politische Alltag als permanentes Lehrstück:

Wie organisierte oder individuelle Interessen (das Private ist politisch) durchgesetzt werden und Solidarität verschwindet, das kann alltäglich beobachtet und erlernt werden. In den Parteien, inklusive der früheren ökologischen Reformpartei „Die Grünen/ Bündnis 90“, wird um Posten und Pfründen gerangelt. Im alltäglichen Anschauungs- Unterricht zum Verhalten politischer Subjekte stehen vor allem diejenigen Mitglieder der politischen Klasse im Rampenlicht des Medieninteresses, die von der Politik leben und z.T. ihren eigenen, persönlichen Vorteil gekonnt durchzusetzen wissen. Für eine wachsende Zahl von ihnen scheint das einzige Interesse darin zu bestehen, die begrenzte Zeit, für die sie vom Bürger in Wahlen mit politischer Macht ausgestattet wurden, auf alle nur erdenkliche Art und Weise für ihre persönlichen Interessen (Ergattern von Macht und Geld) und die ihrer Verbände und Parteien (Schwarzgeld-Konten, Steuerhinterziehungen etc.) zu nutzen und die öffentlich-rechtliche Aufklärung des Macht-Missbrauchs zu behindern. Die dabei beiläufig zu Stande kommende Werte-Erziehung (der eigene Vorteil als höchster Wert; Beschaffung von Pfründen, Posten-Jägerei und -Zuschanzerei, Belügen der Öffentlichkeit, Vertuschen von Fehlleistungen und Verfehlungen als selbstverständliche Praxis) fördert Nachahmungs-Lernen. Das Ansehen der politischen Elite verfällt. Angesichts der deutlichen Widersprüche parlamentarischer Demokratie (politische Parteien mit der Tendenz, sich vor allem als Versorgungsinstitute für ihre Führungskader zu verstehen; nicht eingehaltene Wahlversprechen) resignieren die WählerInnen, weil kein klarer Unterschied mehr zwischen Parteien und Kandidaten zu erkennen ist. Mitreißende politische Perspektiven sind nirgends erkennbar. Als sich einzelne Abgeordnete der Regierungskoalition im Jahr 2003 dem Abbau des Sozialstaats (Agenda 2010) widersetzen, wurde das von ihren KollegInnen nicht toleriert. Die BürgerInnen werden immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen.

Was tun?

  1. Anders als dialektisch kann man den ökologischen Selbstmord der Gattung Mensch nicht beantworten: Objekt und Subjekt zugleich, unterworfen und doch frei. Die als Globalisierung bezeichnete Bewegung des kapitalistischen Systems ist unaufhaltbar. Wir, die Bewohner der reichen Länder, sind als Objekte dieser Bewegung zur Gänze unterworfen, sind Opfer, aber Komplizen zugleich, da wir von dieser Dynamik profitieren.
    Alle, die sich kreativ mit „Nachhaltigkeit“ beschäftigen, wollen nicht länger Komplizen sein. Die Einsicht, dass die zerstörerische Globalisierung unaufhaltsam ist, befreit von Illusionen. Damit bekommt die politische Subjektentwicklung Einzelner wie politischer Gruppen im Widerstehen gegen diese Dynamik im Großen wie im Kleinen eine eigene Dignität. Sie findet ihren Ausdruck darin, sich der Komplizenschaft bewusst zu werden, sich die moralische, intellektuelle wie sozial-emotionale Freiheit zur Widerständigkeit zu nehmen; schließlich lebt alle pädagogische Arbeit von einem utopischen Überschuss, sich nicht einfach mit dem als defizitär erlebten Status quo abzufinden. Aus der Spannung zwischen Ich-Ideal und dem, was man in Bezug auf die selbst gesteckten Ziele erreichen kann, erwächst Kreativität, [7] die benötigt wird, um im Kampf gegen die Globalisierung das Politische wieder neu zu erfinden und aufzubauen.
  2. In der Bildungsarbeit können die Verhältnisse kritisch analysiert werden. Baudrillard setzt auf die Macht der Interpretation. Sie sei positiv: „Nihilistisch ist nur die wohlwollende Analyse der Ereignisse. Jede radikale Analyse ist von einem gewaltigen Optimismus.“ [8] „Was fatal und also auch ein Glück ist, ist die Illusion des Systems bezüglich seiner selbst“, [9] das sich gegen seinen Willen unaufhaltsam selbst zerstört, [10] wobei das Unmenschliche der einzige Zeuge der Idee des Menschlichen bleibt. [11] Aus der Klarheit einer radikalen kritischen Analyse resultiert Zuversicht. Solche Erfahrungen liegen unserem Handeln im Alltag zugrunde. Das macht unser Leben aus.
  3. Begriffe wie „Nachhaltige Entwicklung“ zeugen von einem schlechten Gewissen und sind sicherlich Ausdruck von Reue. Solche Formeln haben eine Aura von Sehnsucht nach einer besseren als der jetzt erlebbaren Welt. Sie werden aber politisch bewusst hergestellt und sind in Kenntnis der Bewegung des Systems und des tatsächlichen eigenen Unvermögens, eine „nachhaltige Entwicklung“ unter den skizzierten globalen Bedingungen zu erzielen, unaufrichtig. Sie haben lediglich einen PR-Zweck: „Tue Gutes und rede darüber!“
    Ebenso sind Leitbegriffe wie „Globales Lernen“ (als Entgrenzung der niemals realisierbaren fundamentalistischen Formel „Ganzheitliches Lernen“), „Eine-Welt-Pädagogik“ – sogar von „Nachhaltigem Lernen“ schlechthin ist die Rede – hilflose Beschwörungsformeln. Sie vernebeln, verschleiern, nähren Illusionen.
    Es gilt stattdessen, sich der eigenen begrenzten Möglichkeiten bewusst zu werden, ohne an ihnen zu verzweifeln. Nur gemeinsam mit anderen ( weg vom rein individualistischen Subjekt-Begriff hin zu Projekten und Gruppenbildung wie z.B. Attac) können wir uns selbst befähigen und den Weg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (I. Kant) finden. Alle „Sollens“- und „Müssens“-Forderungen in diesem Feld, gerichtet an Dritte, verfallen der Ideologiekritik und damit dem Verdikt, dass etwas mit Worten beschworen wird, was mit Taten nicht zu haben ist.
  4. Die eigene Hilflosigkeit überrascht und lähmt, aber sie ist nicht total. Die politische Ohnmacht kann sich organisieren, aber wir müssen bis zum Sankt Nimmerleins-Tag warten, wenn wir dies von anderen erwarten. Um nicht den Politikern und ihren Experten die Entscheidungsgewalt zu überlassen, müssen wir uns selbst befähigen, sach- und politikkundig mitzureden, müssen uns einmischen und als PädagogInnen kapitalismuskritische Lerngelegenheiten in Sachen Zukunftssicherung inszenieren.
  5. Ein guter Therapeut beginnt seine Behandlung mit der Frage: „Was müssen wir erst einmal so stehen lassen und was ist flexibel?“ So muss auch hier gefragt werden.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags, der im Jahrbuch für Pädagogik 2004 „Globalisierung und Bildung“ im Peter Lang Verlag erscheinen wird und zur Gänze auf unserer Homepage zu finden ist.

[1Baudrillard, Jean: Paroxysmus, Wien 2002, S. 105.

[2Meueler, Erhard: Die Türen des Käfigs. Wege zum Subjekt in der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1998.

[3Holzkamp, Klaus: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 243.

[4Rost, Jürgen: Umweltbildung – Bildung für nachhaltige Entwicklung. Was macht den Unterschied? In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (ZEP), 25. Jg. , 2002, Heft 1, S. 7.

[5Heuer, Petra/Welfens, Maria J. : Nachhaltigkeit: Vision und Realität. In: Politisches Lernen, 2003, Heft 3-4, S. 12.

[6Geulen, Dieter: Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt am Main 1989.

[7Wirth, Hans J. : Das Menschenbild der Psychoanalyse: Kreativer Schöpfer des eigenen Lebens oder Spielball dunkler Triebnatur? In: Schlösser, A. -M. /Gerlach, A. (Hg. ): Kreativität und Scheiter, Gießen 2001.

[8Baudrillard, a.a.O., S. 43.

[9Baudrillard, a.a.O., S. 49 f.

[10Baudrillard, a.a.O., S. 82.

[11Baudrillard, a.a.O., S. 48.

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