Brecht und Piscator
Der Schrei nach einem neuen Theater ist der Schrei nach einer neuen Gesellschaftsordnung.
Bertolt Brecht:
Über eine neue Dramatik, 1928
Die BesucherInnen der Ausstellung Brecht & Piscator. Experimentelles Theater im Berlin der 20er Jahre, die bis 12. April 2004 im Wiener Theatermuseum zu sehen ist, treten in einen kleinen, aber durchkomponierten Ausstellungsbereich ein, der aus drei in formaler Strenge gestalteten, in rot, schwarz und weiß ausgemalten Räumen besteht. Der Gebrauch sämtlicher verfügbarer Medien in der Theaterarbeit, aber auch in der gesamten künstlerischen Tätigkeit von Brecht und Piscator ist in der Ausstellung durch eine dichte Zusammenstellung von Texten, Tonmaterial, Grafiken, Bühnenskizzen, Bühnen- und Theatermodellen, Fotografien und Filmmaterial repräsentiert.
Auffällig ist, dass die Ausstellung sehr darauf bedacht zu sein scheint, die Theaterarbeit von Brecht einerseits und Piscator andererseits möglichst klar zu trennen. Das ist kein Zufall und wird auch in der Ausstellung benannt, denn Brechts und Piscators Konzeptionen davon, in welcher Weise revolutionäres Theater wirksam werden sollte, waren trotz ihrer zeitweiligen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Achtung höchst unterschiedlich. Welche theoretische, ästhetische und politische Bedeutung diese Differenzen in der Konzeption ihrer Theaterarbeit haben und wie sie geradezu in Widerspruch zueinander stehen, wird zwar in den Begleittexten zur Ausstellung angesprochen, aber nicht ausreichend erklärt. Dennoch zeigt es sich in den ausgestellten Objekten auf sehr deutliche Weise. Allein schon die Tatsache, dass der Piscator gewidmete Ausstellungsraum weit aufwändiger gestaltet ist und auch dem Besucher oder der Besucherin mehr angreifbares Material — bewegliche Bühnenmodelle, schauerliche Schattenspiele, Geräuschmusik etc. — bietet als der kleinere, kargere Raum, der einige von Brechts theaterpraktischen Arbeiten der 30er Jahre dokumentiert und sehr knapp seine theoretische Konzeption des epischen Theaters darstellt, weist auf die wesentlichen Differenzen hin.
Während auf der Piscator- Bühne mit avancierter Technik, mit Filmprojektionen und Lichteffekten auf große Wirkung und schließlich auf ein fast Wagnersches Ideal eines „Totaltheaters“, dessen Modell Piscator gemeinsam mit Walter Gropius entwarf, hingearbeitet wird, steht Brecht jeder Form von Monumentalität und einem, wie er es nennt, „kulinarischen Theater“ skeptisch gegenüber. Auch wenn Brecht Piscators Verwendung von Film auf dem Theater mit großem Interesse verfolgte, verwendete er selbst für seine Stücke kaum dokumentarisches Filmmaterial, sondern eher die berühmten Schrift- und Texttafeln, Textschilder oder -transparente, aber auch — und hier zeigt die Ausstellung sehr interessantes, bislang wenig beachtetes Material — von Brechts Freund und Mitarbeiter Caspar Neher gestaltete grafische Projektionen, die dem Bühnenbild eine weitere, flächige, stilisierte und damit verfremdende Ebene hinzufügen sollten.
Bei der vergleichenden Betrachtung von Brecht und Piscator liegt es natürlich nahe, ihr je spezifisches, aber gleichermaßen intensives und zukunftsweisendes Verhältnis zum Film genauer zu untersuchen. So stellte die vom Filmarchiv zusammengestellte und im Wiener Metro-Kino gezeigte Filmreihe zu Brecht und Piscator unter dem Titel Kunst heißt morgen Politik ein interessantes Begleitprogramm zur Ausstellung dar. Neben den wenigen Filmen, an denen Brecht und Piscator als Regisseure direkt beteiligt waren — besonders hervorzuheben ist dabei der Film Kuhle Wampe von Slatan Dudow und Bert Brecht, eine der formal und inhaltlich herausragendsten filmischen Auseinandersetzungen mit Arbeitslosigkeit und politischer Aktion —, wurden auch zeitgenössische Filmaufnahmen von Theateraufführungen und berühmte Verfilmungen gezeigt, wie jene der Dreigroschenoper von G.W. Pabst (1931), die in einem Rechtsstreit zwischen Brecht und der Firma Nero Film AG mündete und in Brechts theoretischer Auseinandersetzung mit der Kulturindustrie in seinem „soziologischen Experiment“ Der Dreigroschenprozess seinen Niederschlag fand. Auch Filme, die formal an Neuerungen des epischen Theaters anknüpften, wo also der Einfluss, den das Kino auf die Theaterarbeit von Brecht und Piscator hatte, sich auch umgekehrt wieder produktiv auf den Film auswirken konnte, waren zu sehen.
Das Verschwinden der Frauen
Obwohl das Moment der Arbeit im Kollektiv, das sowohl Brechts als auch Piscators Arbeitsweise prägte, durchaus angesprochen wird, versagt die Ausstellung bezeichnenderweise dort, wo es um eine ihrer Bedeutung auch nur halbwegs angemessene Repräsentation der Mitarbeiterinnen, der befreundeten Künstlerinnen, Autorinnen, Schauspielerinnen und Theoretikerinnen, die gerade im Fall Brechts eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des epischen Theaters spielten, gehen müsste. Kein Wort in der Ausstellung über Elisabeth Hauptmann, die in dem von der Ausstellung dokumentierten Zeitraum eine der engsten und produktivsten Mitarbeiterinnen von Brecht war. Sie hat nicht nur durch ihre Übersetzung und die gemeinsame Bearbeitung von John Gays Beggar’s Opera wesentlichen Anteil an der Entstehung der Dreigroschenoper gehabt und bei der langjährigen Arbeit an Mann ist Mann mitgewirkt, sondern vor allem durch die Übersetzung japanischer und chinesischer Theaterstücke, die geteilte Begeisterung für das Modell eines Theaters, das mit der Tradition des bürgerlichen europäischen Theaters brechen kann und durch die gemeinsame schriftstellerische Arbeit ganz entscheidend an der Konzeption und Entwicklung von den im wesentlichen im Kollektiv produzierten Lehrstücken und ihrer theoretischen Verortung mitgewirkt und Brechts theatertheoretische Überlegungen insgesamt mitgeprägt. Kein Wort auch über Helene Weigel, die bereits zu diesem Zeitpunkt als Schauspielerin gemeinsam mit Brecht und allen an den Produktionen Beteiligten an der Erarbeitung einer „neuen Schauspielkunst“ partizipierte. Auch Namen wie Carola Neher, Marieluise Fleißer oder Margarete Steffin fehlen, die zu dieser Zeit ebenfalls mit Brecht und vielen anderen kollektiv mit neuen Theaterformen experimentierten und zugleich die politischen Perspektiven teilten.
Es liegt eine eigenartige Schizophrenie gerade in der Brecht-Rezeption, die sich zum einen mit allem moralischen Abscheu einer ebenso an der monogamen bürgerlichen Ehe wie am künstlerischen Privateigentum orientierten Perspektive über Brechts Arbeits- und Liebesbeziehungen empören kann und auf der anderen Seite selbst dort, wo Brecht die Namen der Mitarbeiterinnen explizit genannt hat, jenen Künstlerinnen, die mit ihm ein Stück Weg gegangen sind, systematisch die Erinnerung zu verweigern.