Grundrisse, Nummer 13
März
2005

Chronik des fröhlichen Widerstands

Der Kapitalismus, der Objekt des Kampfes und der Reflexion und insofern natürlich auch Sinn der Existenz jeder revolutionären Theorie ist, siegte über das sozialistische Modell des Ostens, und das war auch richtig so, denn dieses hatte keinerlei befreiende Wirkung. Der „Sieg“ des Kapitalismus brachte aber gleichzeitig seine Umstrukturierung in das globale System des Neoliberalismus, in dem Subjekte von gestern wie die Nationalstaaten, und seien es auch imperialistische, ihre Bedeutung verlieren und einer neuen Struktur der globalen Hegemonie weichen.

Die Menschen können ihrer Hoffnung nicht entsagen, ihren Widerstand gegen Unterdrückung und Unrecht, unter denen sie leiden, nicht aufgeben. Die alten Organisationsformen des Widerstands aber, soweit sie die verderbliche Wirkung des bürokratischen Sozialismus überstanden haben, bewegen sich immer noch innerhalb der imaginierten nationalstaatlichen Muster. Eine solche pseudofortschrittliche Politik gelangt nicht über den Horizont von Protektionismus und Autarkismus hinaus, welcher letztlich in Rassismus und Nationalismus der ehemaligen Unterprivilegierten, der Arbeiterheroen, einmündet.

Es ist daher nichts Ungewöhnliches, dass das neue Paradigma des Widerstands gegen den globalen Neoliberalismus in einem vergessenen Eck der Welt, weit weg von linken Orthodoxien, unter den „Kleinsten unter den Kleinen“, wie sie sich selber nennen, entwickelt wurde. Der bewaffnete Aufstand der Mayas in Chiapas, im Südosten Mexikos, die in der EZLN organisiert sind, strafte den Spruch vom Ende der Geschichte Lügen und ernüchterte auch die kommunistischen und anderen Avantgarde-NostalgikerInnen.

Linke PolitikerInnen und Intellektuelle hatten gemischte Gefühle, als ihre Sympathien auf den magischen Realismus der indigenen Begrifflichkeit trafen, einer Begrifflichkeit, die „unverständlich“ doch nur deshalb ist, weil sie nicht auf der Logik des Administrierens und Politisierens besteht, einer Sprache, die magisch ist, weil sie aus dem Leben hervorgeht und nicht aus der Gemeinsamkeit der Menschen und der Natur herausgerissen werden will. Die klassische Linke hat die aufständischen DörflerInnen gnädig und wohlwollend zur Kenntnis genommen, ohne dass sie ihnen eine größe Bedeutung für den zu erwartenden Verlauf der Geschichte beimaß. Sie ließen sich nämlich nicht ins Modell der ArbeiterInnenklasse einfügen, in deren Namen die Avantgarde die Macht übernimmt, um die Arbeit zu befreien, indem sie die ganze Gesellschaft in eine graue Fabrik verwandelt. Alle anderen emanzipatorischen Bewegungen wie die Frauenbewegung, die Umweltbewegung und die Lebensreformbewegung, die nicht mit dieser grauen Fabriksgesellschaft beziehungsweise mit dem Staat zusammenpassten, mussten sich der Hierarchie der Arbeit unterordnen: die Befreiung des Arbeiters war Voraussetzung für alle anderen, als zweitrangig angesehenen emanzipatorischen Bewegungen.

Diese MarxistInnen nehmen Marx nicht ernst: Arbeit bedeutet für sie nicht Fetischisierung der Form, die die Herrschaft anzeigt, sie bedeutet für sie nicht jene Sache, die zu überwinden wäre, sondern stellt für sie den höchsten Wert dar. Daher verwundert es nicht, dass die Welt, die sie errichteten, nichts anderes war als ein Arbeitshaus. Im Gegensatz dazu haben diese Dörfler mit ihrer 500-jährigen Widerstandserfahrung erkannt, dass der Beitritt Mexikos zur NAFTA den letzten Schlag gegen ihre Kultur bedeutet, die um den Mais und die Mutter Erde zentriert ist (Pacha Mama, über die „Manu Chao“ singt). Die Konquistadoren mit Schwertern und Kreuzen wurden durch die von den USA entsandten Instruktoren der Paramilitärs ersetzt und durch den minderwertigen, genmanipulierten Mais.

In ihren poetischen und für die linken Mandarine unverständlichen Deklarationen haben die Zapatisten zum globalen Widerstand gegen den neoliberalen Kapitalismus aufgerufen, der den Vierten Weltkrieg gegen die Menschheit begonnen hat. Sie haben erkannt, dass sie ihr Überleben im nationalen Rahmen nicht sichern werden können und haben deshalb ihren Kampf gegen die mexikanische Oligarchie in einen globalen Kontext gestellt. Ein Dach über dem Kopf, Gesundheit, Nahrung, Ausbildung, Sorge um die Umwelt, Frauenrechte und so weiter haben einen konkreten Inhalt, sie stellen aber ihrer Meinung nach nur einen kleinen Teil des Widerstands gegen den Neoliberalismus dar. Gerade deshalb haben sie aus den mexikanischen Bergen im Südosten Mexikos eine Vision für die Welt angeboten, in der viele Welten enthalten sind, eine Welt vieler Welten. Anstelle des Grau der Fabrikgesellschaft haben sie mit ihrem fröhlichen Widerstand das Sinnbild des Regenbogens gemalt. Die übergeordnete Position der Avantgarde, die Priorität der Befreiung, die Unterordnung unter einen in die Ferne gerückten historischen Zweck lösten sie in das mannigfaltige Kommunikationsnetz des Widerstands auf. Daher ist es logisch, wenn auch völlig überraschend, wie sich der Zapatismus aus den Dschungelursprüngen der rural-indigenen Gemeinschaft in die cyberzapatistische Gemeinschaft des Internet verbreitete und dadurch zum Paradigma des gegenwärtigen Kriegs im Netz wurde.

Mensch muss die gegenwärtige Bewegung der Bewegungen mit anderen Maßstäben messen als das die klassischen politischen Organisationen tun, die sie ja nur als Instrument zur Erreichung harter Ziele sehen. Die globale politische Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus ist jedoch vor allem eine Bewegung der Rekonstruktion der Gemeinschaft. In diesem Sinn unterscheidet sich der urbane Antiglobalismus nicht von den zapatistischen Widerstandskämpfern, die im Widerstand die Gemeinschaft leben und formen. Außerhalb dieser Praxis des Widerstands kann im gegenwärtigen liberalen Totalitarismus nichts Menschliches entstehen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist der Widerstand die Rekonstruktion der menschlichen Gemeinschaft und die existiert nur durch den und im Widerstand.

In Lateinamerika erblühten hunderterlei Konzeptionen einer neuen Welt, die aus einer widerständigen Negation neue Gemeinschaftlichkeit konstituierten und nicht nur Mittel zur Etablierung von neuen Eliten waren. Für Holloways Reflexion der Revolution in der Gegenwart sind außer den ZapatistInnen noch die Bewegung der landlosen BäuerInnen in Brasilien (MST, Moviemento de Trabalhadores sem Tierra) und die Piqueter@s in Argentinien von Bedeutung. Allein im Jahr 1999 haben in Brasilien über 25.000 Familien brachliegenden Großgrundbesitz im Ausmaß von 15 Millionen Morgen Land besetzt. Heute vereinigt die MST 71.472 Familien, für welche die Besetzung des Landes nicht nur das Überleben bedeutet, sondern die Verbreitung eines gesellschaftlichen Modells, das die Menschen vor den Profit stellt. Die MST verwaltet die Erträge der Genossenschaften, die Gesundheitsversorgung und das Ausbildungsprogramm, das jenem der ZapatistInnen ähnelt und jeder staatlichen Aufsicht entzogen ist, selbst.

Auch jetzt, da der Präsident Brasiliens aus der PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei) stammt, nämlich Lucio Ignazio Lula da Silva, verändern sich die Prinzipien der MST nicht. Beim Besetzen von brachliegendem Land und Großgrundbesitz fragen die Bauern auch die neue Macht nicht um Erlaubnis. Es ist aber auch wahr, dass jetzt staatliche Mittel für die Ausbildungs-, gesundheitliche und andere soziale Programme für die Ärmsten zur Verfügung gestellt werden. Die Selbstorganisation und die Autonomie der Massen schließt sich vielleicht auch hier dem „gehorchend Regieren“ von Lula an, der auf internationaler Ebene zum Beispiel bei den Beratungen der WTO in Cancún dem Neoliberalismus die Stirn bietet.

Die dritte Bewegung, die das Buch von Holloway ins Zentrum des Selbstverständnisses eines emanzipatorischen Widerstands stellt, sind die argentinischen Piqueter@s, die ersten wirklich städtischen ZapatistInnen. Ein Viertel der argentinischen Bevölkerung ist ohne Arbeit, die übrigen leben in so genannten prekären Verhältnissen. Zur Armee der Arbeitslosen gesellen sich noch MigrantInnen aus Bolivien und Peru. Im Aufstand gegen den neoliberalen Raub entwickelte sich eine große Volksbewegung, in der die Hälfte der ArgentinierInnen aktiv war. Im Jänner 2002 wechselten einander unter dem Druck der Massen innerhalb von 10 Tagen vier Präsidenten ab: „¡Que se vayan todos!“ Es bildeten sich zahlreiche neue gesellschaftliche Bewegungen: Arbeiter besetzten und betrieben Fabriken, Nachbarschaftsversammlungen und verschiedene andere Gruppierungen entstanden, die auf Autonomie und Ungehorsam setzten. Repräsentative Parteiherrschaft wurde durch Prinzipien der partizipativen Demokratie ersetzt. Die Piqueter@s sind hunderttausende Nicht- und Unterbeschäftigte, organisiert in verschiedenen Organisationen mit unterschiedlichen Zielen, Politiken und Strategien. Es eint sie nur die gemeinsame Geschichte und die praktische Methode. In ihrer Gesamtheit sind die Piqueter@s die Stimme der Arbeitslosen aus den vorstädtischen Slums. Mitte der 90er-Jahre begannen sie sich zu organisieren. Die klassischen Peronisten und die marxistische Linke, die sonst so eifrig die verarmte Arbeiterschaft sucht, um sie zu führen, übersahen diese Selbstorganisation der Arbeitslosen. Deshalb konnten sich diese unabhängig von Parteien organisieren und entwickelten eine partizipative, gleichberechtigte, demokratische Form des Arbeitens und der Mobilisierung, was sie als Horizontalismus bezeichneten. Horizontalismus und Autonomie sind der Kern dieser Bewegung der Ärmsten in Argentinien, die für eine andere Wirtschaft kämpft. Die Piqueter@s organisieren Straßenblockaden (zortas de routa), um ihre Forderungen durchzudrücken. Sie besetzen strategisch wichtige metropolitane Einfahrtsstraßen, Brücken und Autobahnen, um den Wirtschaftsverkehr ins Landesinnere beziehungsweise zu den Häfen lahmzulegen. Sie verwenden bei ihren Blockaden brennende Reifen und bewaffnen sich mit Prügeln und anderen Dingen, um sich vor Polizeiübergriffen zu schützen. Sie planen ihre Aktionen sehr sorgfältig, sind dabei sehr diszipliniert und sehr friedlich. Die Piqueter@s können nicht streiken, weil sie ja nicht beschäftigt sind, aber sie haben ein schwaches Kettenglied in der Warenzirkulation beziehungsweise in der Zirkulation des Kapitals entdeckt.

In größeren Piqueter@gruppen ist natürlich auch eine gewisse Neigung zur Bürokratie feststellbar, ein Aufweichen ihrer Forderungen und gewisse Verbindungen mit den Machthabern. Der größte Teil der Piqueter@s aber sucht trotz allem nach alternativen Auswegen aus dem Elend für die ganze Gemeinschaft. Sie gründen mannigfaltige Formen gegenseitiger Hilfe und einer kollektiven Erneuerung der Gemeinschaft: Sie gründen Gesundheitszentren, besetzen Häuser, betreiben Biogärten, züchten Tiere, sie führen spezielle Programme für die Jugend durch, organisieren Feste und betreiben eine große Zahl von Volksküchen.

Die AkteurInnen der Massenbewegungen, der Proteste und der sozialen Foren sind vielfältig. Die Zurückweisung der neoliberalen Logik, die einzig den Profit auf Kosten von Mensch und Natur zum Maßstab hat, ist ihr gemeinsamer Nenner. Die bunte Schar der Ungehorsamen, der UmweltschützerInnen, der AnarchistInnen, der Lesben, der BiobäuerInnen, der KünstlerInnen, der illegalen MigrantInnen, der Minderheiten, der linken Parteien auf der Suche nach Identität, der BasisgewerkschafterInnen bildet jene Verbindung, das Rhizom ohne Zentrum und Peripherie, jene horizontale Vernetzung mit instabilen und provisorischen Kommunikationskanälen, in der der Konsens ungewiss und fluid ist, in der der gemeinsame Nenner durch Infektionen und nichtstringente, diskursive Praktiken ersetzt wird. Diese Vielfältigkeit ist leichter nach den Methoden des Kampfs zu identifizieren als durch ihre häufig wechselnden Identitäten. Die HausbesetzerInnen sowie die Menschen ohne Papiere wie die Sans Papiers in Frankreich oder die Isbrizani, die Ausgelöschten, in Slowenien, die Roma, die Adbuster und die KulturaktivistInnen, die Arbeitslosen und die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen (Prekariat), die PunkerInnen, die AktivistInnen von sozialen Zentren, die No-Border-CamperInnen, die sich selbst organisierenden MigrantInnen und die antirassistischen Organisationen, die Reclaim-the-Streets-AktivistInnen, die Anti-Kriegs- und Anti-NATO-AktivistInnen, die SprayerInnen und die HackerInnen und die InternetaktivistInnen, die Open-Source-Leute und die VertreterInnen des Copyleft, antifaschistische Gruppierungen, die HerstellerInnen von gesunder Nahrung und die BewusstseinserweiterungsforscherInnen, sie alle sind Teil des gegenwärtigen Widerstands beziehungsweise der Renaissance der Gemeinschaften und werden von den Medien mit dem Mantel des Schweigens verdeckt oder voller Hysterie dämonisiert. Auch in diesem Bereich antwortet die Multitude nicht so sehr mit Kritik der Medien als damit, dass sie selber zu Medien werden: www.indymedia.org, www.dostje.org, VideoaktivistInnen etc. Sie werden auch von jenen altlinken Organisationen nicht gesehen, die sich aufs 19. Jahrhundert versteifen und so wie die Christen auf den Jüngsten Tag auf die Revolution warten, die den Kommunismus oder den Anarchismus oder die ideale Gemeinschaft bringen wird, in der alles schön und recht sein wird, wie im Reich Gottes. Man wartet aber nicht auf die Revolution, denn die Revolution geht unter unseren Augen vor sich; und weil der Kapitalismus erneut seine Form verändert hat, ist es unsinnig gegen ihn mit den Methoden und dem Denken des letzten Jahrhunderts zu kämpfen. In diesem Sinne sind kommunistische oder anarchistische „Revolutionäre“, die den heutigen Bewegungen Reformismus unterstellen und immer noch auf die Arbeiterzombies des 19. Jahrhunderts warten in Wirklichkeit die Konterrevolutionäre. Trotzdem haben sich ein paar Altlinke diesen Bewegungen angeschlossen. Einige von ihnen haben sich verändert und durchaus Anerkennenswertes zur Bewegung beigetragen. Einige von ihnen haben jedoch auch nur eine Taktik ähnlich der italienischen Rifondacione Communista verfolgt: „Manchmal sind wir zwar drinnen, wenn sich aber Wahlen ankündigen, sind wir wieder draußen.“ Wieder andere Altlinke ermüden ähnlich wie die Zeugen Jehovas mit ihren aufdringlichen, hochgeistigen Papieren und ihrem unermüdlichen Repetieren verstaubter Parolen. Wieder andere täuschen nur vor, dabei zu sein, um später alles in die „richtige Richtung“ zu drängen, nämlich so, wie es ihnen ihr Glaube an die historische Wahrheit vorgibt, die sie zu besitzen vermeinen. So kam es in Genua 2001 beispielsweise zur spalterischen Haltung des „Schwarzen Blockes“, der allen „reformistischen“ Gruppen den Krieg erklärte und sich einer ziellosen Gewalt hingab, die auch noch von der Polizei gefördert wurde. Die ProtagonistInnen dieser anarchistischen Taktik, die in der Vergangenheit, vor allem in den USA zu einem Aufschwung der Bewegung beitrug, waren aber nach Genua nicht mehr imstande, Reflektionen anzustellen und eine Neuorientierung vorzunehmen, wie sie etwa die italienischen Tute Bianche zustande brachten. Sie versanken daher in Sektierertum und Selbstisolation. Besonders kam ihre spalterische Tendenz bei den Protesten 2003 in Solun zu Ausdruck, als dieser „Black Block“ andere, nicht-autoritäre Gruppen angegriffen hat.

Die Anti-Macht ist keine homogene Einheit noch verkörpert sie das Gute. Am ehesten drückt sie sich im Batailleschen Verständnis des Heterogenen und Ekstatischen aus, und zwar so, dass auch unsere kritischen Einschätzungen keine feste Grundlage haben und es auch keinen von vornherein feststehenden Ausgang der Geschichte gibt, die eine endgültige Beurteilung der einzelnen AkteurInnen und Aktionen zulassen würde. Der Dialog mit Holloway (oder mit Negri oder einem anderen linken Theoretiker der Gegenwart) ist nicht möglich, ohne sich auf neue globale emanzipatorische Bewegungen einzulassen.

Die derzeitigen Bewegungen in Slowenien konnten eigentlich erst in dem Moment entstehen, als sich der Mythos der Zivilgesellschaft verflüchtigt hatte, der von den AktivistInnen der 80er-Jahre geschaffen und repräsentiert worden war, von jenen also, die die Konstituierung eines kapitalistischen Nationalstaats vorbereitet haben. Der Hypertext des gegenwärtigen Widerstands kann durchaus in Verbindung gebracht werden mit den ÖkologInnen, den Feministinnen, den FriedensaktivistInnen der 80er oder auch den Hippies, den StudentInnen und anderen AktivistInnen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, dies ist jedoch in keiner Weise notwendig. Eine konkrete Verbindung wäre vielleicht wünschenswert gewesen, wenn die Zivilgesellschaft der 80er Jahre nicht die vollständige Hegemonie der Nation repräsentiert hätte. Sie hat sich als Staatsnation konstituiert und damit jegliche lebendige Praxis des Kampfes ausgelöscht. Als Ende der 90er Jahre die Kämpfe wieder aufgenommen wurden, waren daher alle historischen Verbindungen bis auf ein paar vereinzelte Myzelfäden gekappt.

Der Ausdruck Zivilgesellschaft selbst entstand in den Seminaren des Soziologieinstituts in der Cankarjeva Ulica. [1] Der hegelmarxistische Begriff der Gesellschaft wurde dadurch ersetzt: Vorbild dabei war der polnische katholische Syndikalismus, der die Gegensätzlichkeit zwischen modernem Staat und Kirche in die Dichotomie von Zivilgesellschaft und Parteistaat rückübersetzt hat. Schon dieses Vorbild war in sich widersprüchlich, weil ideologisch einerseits ein Nachholen des modernen liberalen Rechtsstaats gefordert wurde, andererseits in dieser katholischen Ausprägung aber nur auf den Austausch der kommunistischen Vormoderne gegen eine klerikale Identität gesetzt wurde. Um diesem Widerspruch auszuweichen, wechselten die Intellektuellen aus der Cankarjeva von Hegel (und Marx) zu Kant (und Rawls). Sie glaubten an ein autopoetisches System des Rechtsstaats, in dem bürokratische Mechanismen die politische Freiheit der StaatsbürgerInnen auf regelmäßig repetierte, zeitlich beschränkte Wahlspektakel reduziert. In dem Zusammenhang war Fukuyama mit seiner Apotheose der liberalen Demokratie für sie die Absolution für ihr schlechtes intellektuelles Gewissen, das von der Erkenntnis herrührte, dass der neue Staat nur durch Restrukturierung eines Systems der Ausschließung als homogen darstellbar war. Die ethnische Säuberung, die in Slowenien per Software durchgeführt wurde, nämlich durch Löschung einiger zehntausend BürgerInnen (und der Einschüchterung und Marginalisierung anderer), wurde in den andern neu entstandenen Kleinstaaten gewissermaßen hardwaremäßig durchgeführt, auf der Ebene vorindustriell-blutiger Methoden. Die ideologische Basis für die Säuberung hat in Slowenien der „Nova Revija“ [2]-Nationalismus bereitet, welcher ein konstituierender Teil der „Zivilgesellschaft“ der 80er-Jahre war. Intellektuell noch wichtiger war jedoch jene theoretische Haltung, die die ArbeiterInnenklasse von der politischen Bühne verdrängte und durch „den Staatsbürger“ ersetzte.

Fundamental ging es um das Ende des Fordismus, die Transformation der Arbeit in Richtung immaterielle Produktion und den Hype der New Economy. Die Theorie war nicht imstande, diese Realität als Rekonstruktion des gleichen Systems zu verstehen. Die Philosophie hatte ihre zentrale Position zwar verloren, fand jedoch in den Konzepten des Dekonstruktivismus Befriedigung ihrer emanzipatorischen Ansprüche. Der vulgäre Postmodernismus entbindet die Intellektuellen von der historischen Last, ständig die „richtige Richtung“ zu legitimieren, gleichzeitig enthebt er sie aber auch jeglicher Verantwortung für die eigene Erzählung. Was ihnen bleibt ist die Freude am Sandkastenspiel der Ideen nach dem Vorbild von Slavoj Zizek, der innerhalb Sloweniens auf die Karte des neoliberalen Regimes setzt und außerhalb der nationalen Grenzen Sandburgen für linke NostalgikerInnen baut. Die „zivilgesellschaftlichen“ Intellektuellen der 80er-Jahre konnten sich den Sieg über das sozialistische Regime auf keine andere Art vorstellen, als mit Begehrlichkeit in die Triestiner oder Klagenfurter Auslagen zu glotzen. Das Begreifen des kapitalistischen Systems ging nicht über die naive Vorstellung eines Pyramidenspiels hinaus, bei dem angeblich alle reich werden würden.

Die ökologische Bewegung der 80er-Jahre hat sich nach der Unabhängigkeit in die Partei der Grünen verwandelt und trat in eine Koalition mit der rechtsnationalen DEMOS ein. Die Aufgabe, planetarische Aufgaben lokal umzusetzen, haben sie damit gegen Volkstümlichkeit eingetauscht und so politischen Selbstmord begangen. Die Bewegung für Staatsbürgerrechte der 80er mutet aus heutiger Sicht tragikomisch an. Der Kampf gegen den Artikel 33 des Strafgesetzes, einem Verbaldelikt, [3] brachte uns damals dazu, Petitionen für spätere Extremisten zu unterschreiben: Seselj, Paraga und Jansa.

Es verblieb nur mehr ein Häuflein Identitätspolitik, angefangen von den Feministinnen bis hin zur Schwulen- und Lesbenbewegung und humanitären Gruppen, die am Rande des Balkankriegs dahinvegetierten. Wer nicht an die liberale Herrschaft angepasst war, hatte immer noch die Möglichkeit, innerhalb von NGOs zu überleben. Staat oder Onkel Soros boten genügend Mittel, einzelnen Arbeit zu verschaffen und den Ankauf von PCs, Büros samt Telefon zu ermöglichen; deren jährliche Aufgabe war, ein schönes Papier über die Menschenrechte zu verfassen, worin die hehren Ideale liberaldemokratischer Herrschaft nicht beschmutzt wurden. Nur ganz wenige innerhalb der besetzten Metelkova haben sich diesem humanitär-zivilgesellschaftlichem ABC widersetzt. Die Zivilgesellschaft hat sich also nicht entpolitisiert und in herrschaftliche Fauteuils begeben wie zum Beispiel Baucar, Mitglied des Vorstandes der Vereinigung für Staatsbürgerrechte, sondern die Zivilgesellschaft war ihrem Wesen nach antipolitisch, weil sie in ihren Vorstellungen die Politik auf die Macht von Parteien reduzierte, statt sie aus der Logik ihrer eigenen Kämpfe heraus und über den Horizont des Neoliberalismus hinausgehend zu entwickeln.

Nur ganz wenige Gruppen wie zum Beispiele die YHD (Gruppe der behinderten Jugendlichen) schafften Ende der 90er-Jahre den Übergang zu einer Politik von unten in einem sich öffnenden Raum der politischen Auseinandersetzung. Auch hierfür spielte Seattle eine wichtige symbolische Rolle: So demonstrierten 1999 auf den Straßen Ljubljanas zirka 10 Jugendliche, die Transparente mit der Aufschrift: „Wir sind die Kriminellen!“ mit sich trugen und mit erstaunten Passanten diskutierten. Eine Journalistin hat nämlich in der führenden slowenischen Zeitung geschrieben, dass die DemonstrantInnen in Seattle ganz gewöhnliche Kriminelle gewesen wären. Die Primitivität der Medienhetze verursachte ein ständiges Anwachsen der Bewegung. Bis Ende 2001 fiel diese Bewegung durch verschiedene kleinere Aktionen und Performances auf (so wurde zum Beispiel im Supermarkt Interspar ein neues Waschmittel, „Haidersil“, beworben, das mit Hilfe von „adolfophilen“ Flecken aus der Vergangenheit bereinigt), mit Solidaritätsaktionen, mit einem „Tag des autonomen Lebens Behinderter“, mit beständigem Widerstand gegen Polizeiaktionen in der besetzten Metelkova, mit der Teilnahme an den Protesten in Prag und dem ständigen Hinweis auf die Aktionen der Staatsgewalt gegen deren TeilnehmerInnen.

Von Anfang an waren alle Aktionen auf die Öffnung von politischen Räumen gerichtet, auf die Erneuerung von politischem Tun, das von den Partitokraten durch Spektakel in den Medien, durch Medienhetze und Konsum abgewürgt wird. Die Herrschaft hat sich dieser Bewegung mit dem ideologischen Konstrukt eines gefährlichen Antiglobalismus entgegengestellt, der aber ausschließlich eine Ausgeburt der mit der Macht kooperierenden Medien war. Die Repressionsorgane haben wie auch andere Institutionen der Oligarchie die entstehenden Bewegungen übersehen und missachtet, jedenfalls so lange bis sie von außen anderslautende Anweisungen erhielten.

Das entstehende Netz der Bewegungen benötigte nur eine minimale Koordination, die das Büro für Intervention, UZI (Urad za interventije), leistete. Freilich gab es keinerlei Büro, nicht mal eine Organisation oder eine Führung, keine Mitgliedschaft oder Ähnliches, also nichts was die Einbildungen der paranoiden Spitzel anregen hätte können. Das UZI war vor allem eine Weiterführung verschiedener Plena, bei denen verschiedene AktivistInnen, Interessensgruppen und so gut wie nie VertreterInnen von irgendwelchen Organisationen mitarbeiteten, weil der Widerstand gegen parteipolitische und autoritäre Prinzipien dominierte. Allerdings musste auch das UZI bei diesen Treffen noch allerlei lernen, weswegen sie auch oft als chaotisch und anstrengend erlebt wurden. Der Konsens war nicht durch Abstimmung herbeizuführen, die TeilnehmerInnen kamen und gingen, es wurde durcheinandergesprochen, es war verraucht, die Atmosphäre emotionsgeladen, akademische Diskurse wechselten sich mit lyrischen ab. In den Diskussionen konnten sich Gruppen und ideologische Differenzen profilieren. Solche chaotischen Treffen waren später der Schlüssel zum Erfolg des UZI, denn der Horizontalismus stärkte die Eigeninitiative der Gruppen. Es entwickelten sich gut überlegte Formen der Informationsweitergabe (Mailinglists, Flugblätter, Graffiti, SMS), der Herstellung von Transparenten, es wurden Erfahrungen gesammelt mit Performances, der Veranstaltung Runder Tische und von Fachgesprächen, bei der Arbeit mit den Medien also insgesamt der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit. 2001 war der Höhepunkt der Aktivitäten des UZI.

Am 21. Februar 2001 organisierte das UZI eine Demonstration der Solidarität mit Flüchtlingen und gegen Fremdenfeindlichkeit (gegen die „Diktatur des Krainerwürschtls“). Im zum Transitland gewordenen Slowenien nahm die „illegale“ Migration immer mehr zu, was scharfe Repressionsmaßnahmen auslöste (z.B. die Erschießung eines Flüchtlings aus dem Iran), die Jagd auf Flüchtlinge und die prinzipielle Verdächtigung aller, die nicht den üblichen lokalen „Rassenmerkmalen“ entsprechen. Diese Jagd wurde unterstützt durch eine rassistische Medienhetze, die für Flüchtlinge inhumane Bezeichnungen verwendete: Überschwemmung, Ungeziefer, Epidemie, hygienische Bedrohung und so weiter. In einem Land, in dem die Menschen auch deshalb überlebten, weil sie sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Gründen emigriert waren, haben in dieser Frage nur ganz wenige ein Minimum an menschlicher Solidarität und Anständigkeit gezeigt. In Fällen von rassistischen Ausschreitungen dagegen waren Polizei und Justiz unglaublich geduldig (Nazi-Skins auf der Trubarjeva). Dem UZI ist es mit öffentlichen Tribunalen und Mahnwachen unter dem Solidaritätstransparent vor dem Flüchtlingsheim in Zizka (Stadtteil von Ljubljana) und mit einer sorgfältigen Medienarbeit gelungen, eine breitere Öffentlichkeit für diese Demonstration zu gewinnen. Es gibt doch immerhin eine Handvoll JournalistInnen, die mit der Verbreitung einer xenophoben Hysterie nicht einverstanden sind. Um sich der medialen Produktion von einzelnen Führungspersönlichkeiten entgegenzustellen, hat das UZI seine Kommuniques immer mit „Nada Hass“ unterzeichnet. Nada heißt auf Spanisch nichts und ist zugleich in Slowenien ein beliebter weiblicher Vorname. Und Hass ist, nun ja ... Nada Hass hatte zwar zahlreiche Telefoninterviews, im Fernsehen trat sie jedoch nie auf. So manchen irritierte das Einbringen des Spielerischen, von Ironie und Performance in die Sphäre des Poltischen sehr. Die Vorwürfe waren zumeist moralischer Natur: Das UZI handle aus einer nebulosen Theorie des Vitalismus heraus, betreibe eine neue Form von Biopolitik oder stelle einer Ordnung des Todes simpel eine Ordnung des Lebens entgegen. Die Ursprünge der Aktionen des UZI sind jedoch im Situationismus zu erblicken, das heißt in der Spaßguerilla.

Die Demonstration zur Unterstützung der Flüchtlinge hat wider Erwarten Tausende mobilisiert. Es war eine der ersten Massendemonstrationen, die nicht vom nationalistischen Fieber befeuert, sondern solidarisch motiviert war. Außerdem scherte sie sich einen Dreck um irgendwelche Erlaubnisse der Behörden, auf den Straßen flanieren zu dürfen, und schon gar nicht um allfällige Sensibilitäten von UnterstützerInnen der Xenophobie. An der Demonstration nahmen zahlreiche Gruppen aus dem Ausland teil, deren größte wohl die italienischen Tute Bianche stellten. Bildende Künstler unterstützten die Demonstration genauso wie eine ganze Menge Straßentheatergruppen. Das Friedensinstitut initiierte die Aktion „Spielzeug für inhaftierte Kinder“ und kümmerte sich später um die Veröffentlichung verschiedener Artikel, welche sich der Analyse der medialen Ausländerhetze widmeten. Zum ersten Mal wurde in den Reden nicht nur der gesamte Horizont humanistischer Argumentationen formuliert, sondern auch eine Verbindung der rassistischen Gewalt mit dem neoliberalen Kapitalismus hergestellt. Innerhalb des UZI wurde danach noch lange darüber diskutiert, was diese Demonstration eigentlich bewirkt hat. Es herrschte die Meinung vor, dass sich zwar die Gewalt und die Politik gegen Flüchtlinge in Slowenien nicht (Slowenien war damals schon EU-Beitrittskandidat), allerdings die Medienberichterstattung sich etwas zum Besseren verändert hat. Die Mobilisierungsfähigkeit der AntiglobalistInnen überraschte die Machthaber dennoch und sie begannen eine Gegenoffensive vorzubereiten.

Das nächste größere Ereignis war das „Festival des Widerstandes“, das für den 16. Juni 2001 einberufen wurde und sich auf zwei Anlässe bezog: Der eine war die Volksabstimmung zur Abschaffung der Abtreibung, welche von der Rechten initiiert worden war. Die politische, mediale und kirchliche moralische Aufrüstung war in erster Linie gegen die lesbische Gemeinschaft gerichtet. Diese Abstimmung wurde für die Rechte zum Mobilisierungsmodell: Abstimmungen, die in der Geschichte des demokratischen Kampfes ein Instrumenten zur Behauptung unserer Rechte waren, pervertierten in Slowenien zum Mittel der Identifizierung und Ausgrenzung von Minderheiten und zur Beschränkung von deren Rechten. Die moralische Aufrüstung, die immer wieder neu angeschoben wurde, kam auch dem liberalen Block an der Macht zugute, der sich als Verteidiger der staatsbürgerlichen Freiheiten zu verkaufen versuchte.

Der zweite Anlass war das Treffen der Präsidenten Bush und Putin in Brdo bei Kranj. Die derzeitige Regierungspolitik ist inhaltsleer und versteht sich vor allem als politisches Marketing. Daher erstaunt es nicht, dass die lokale Oligarchie in diesem Präsidententreffen lediglich eine Gelegenheit zur Selbstpromotion erblickte. Die so genannte „Politik“ befand es nicht ein einziges Mal für wert, Einwände und Bedenken gegen die von diesen Gästen repräsentierten kriminellen Aktivitäten zu formulieren. Putin nahm den TschetschenInnen auf blutige Weise jenes Recht auf Selbstbestimmung, das den Hiesigen bei der Abspaltung von Jugoslawien als so selbstverständlich erschienen war. Bush wiederum kam auf Grund von Fälschungen an die Macht und steht für eine aggressive Politik, die zuletzt zur militärischen Okkupation des Irak führte.

Das idyllische Bild von Brdo wurde ordentlich angepatzt. Außerdem wurde in den internationalen Medien einzig und allein darüber berichtet, während die Eigenpromotion der lokalen Elite übersehen wurde. Obwohl kein Besuch der Präsidenten in der Hauptstadt vorgesehen war, das Festival aber im Tivolipark in Ljubljana stattfand, zernierten die Behörden die Stadt: Sie stellten Tretgitter und Barrikaden bereit, kauften „Robocop“-Kampfausrüstung, liehen sich von Kroatien Wasserwerfer, engagierten berittene Polizei und Hubschrauber und beriefen die Polizeireserve ein. Gleichzeitig belauschten und beschatteten sie ihnen verdächtige OrganisatorInnen, perlustrierten manche und übten Druck auf die Menschen aus. Die Grenzen wurden für mögliche DemonstrantInnen aus dem Ausland geschlossen. In der Stadt selber machten sie Jagd auf „verdächtige“ AusländerInnen und verhafteten sie (darunter auch so manche TouristIn). Ohne Schwierigkeiten setzten die Behörden den Rechtsstaat außer Kraft und führten den Ausnahmezustand ein. Die Straßen glichen denen in Chile oder Griechenland in der Zeit nach den Staatsstreichen. Ein absichtlich niedrig fliegender Hubschrauber vertrieb mit seinem Krach und den aufgewirbelten Luftstößen Familien mit kleinen Kindern aus dem Tivoli, die mit der Teilnahme ihre Ablehnung des Treffens in Brdo zum Ausdruck bringen wollten. Italienischen DemonstrantInnen wurde der Grenzübertritt verweigert und die slowenische Polizei begeilte sich am Einsatz ihrer Gummiknüppel. Trotz all dem zog eine Gruppe Protestierender durch die Stadt. An der Zurschaustellung der Staatsgewalt und dem aggressiven Verhalten der Staatsorgane war zu ersehen, dass die Behörden auf einen Clash hinauswollten. Eine Fernsehjournalistin hat mit dem Demonstrationszug im Hintergrund live berichtet: „Wie sie sehen, es passiert noch nichts.“ Ohne Feuer und Blut keine Nachricht! Die Bedeutung von Ideen muss jedoch herabgemindert werden. Der Demonstration war es gelungen, jede Provokation zu vermeiden. Es wurde sogar eine Gruppe zur Beseitigung des zurückbleibenden Mülls organisiert. Die einzigen Opfer waren reihenweise kollabierende Polizisten, weil ihre Robocop-Ausrüstung für den heißen Sommertag vollkommen ungeeignet war.

Der Innenminister hat in den Wochen danach den faktischen Ausnahmezustand zu „überzogenen Sicherheitsmaßnahmen“ kleingeredet. Diese „überzogenen Sicherheitsmaßnahmen“ waren jedoch nicht nur ein lokaler Ausrutscher, sondern entsprachen einer geplanten Veränderung des Paradigmas im Kampf gegen die GlobalisierungsgegnerInnen, wie sie die Koordination der europäischen und amerikanischen Repressionsapparate und Geheimdienste entwickelt hatten. In Ljubljana ging es sozusagen nur um ein kleines Laborexperiment vor dem Julitreffen der G8 in Genua. Slowenien erhielt erhebliche technische Unterstützung für die Überwachung von Mobiltelefonaten und E-Mails. Diesem Treiben setzte das UZI wohl am effektivsten seinen Widerstand entgegen, da es ja keine Organisation ist, sondern die Vernetzung von Widerstandsideen und -methoden. Deshalb wurde die Überwachung von Seiten der Behörden auch zur Unterstützung der Verbreitung ihres burlesken Tuns genutzt: Obwohl das Festival des Widerstands auf Ljubljana konzentriert war, begann mensch damit, in E-Mails das Kennwort „Heidelbeere“ zu verbreiten und dieses mit erfundenen SyndikalistInnen zu verbinden, welche aus Jesenice (große BergarbeiterInnenstadt in Slowenien) durch die Wälder, die das Objekt Brdo umgeben, gegen Brdo marschieren würden. Alle Bäume wurden daraufhin sorgfältigst bewacht. Dieses Zum-Narren-Halten und Lächerlich-Machen der Behörden und der Polizei war (und ist) wohl die stärkste Waffe der Bewegung. Es geht dabei schlicht um die Tatsache, dass sie sich nicht in eine frontale Konfrontation ziehen lässt, welche dann nur die Herrschaft in ihrer Funktion, „Recht und Ordnung“ wieder herzustellen, legitimieren würde. Deshalb entstand innerhalb der Bewegung wieder die Praxis des Öffnens politischer Räume in den parallel und außerhalb des Systems stehenden Lebenszusammenhängen. Diese Räume, diese Formen, diese Methoden und Gruppen haben keine Dauer, mit den Worten von Hakim Bey: „Es sind temporäre autonome Zonen“. Die Antwort der Macht kann nur die totale Kontrolle des Lebens und seine Militarisierung sein beziehungsweise das, was wir nach den G8- und September 11-Ereignissen, den permanenten globalen Krieg oder den Vierten Weltkrieg nennen.

Die slowenische Staatsmacht ist hierbei operativ vollkommen den italienischen Behörden untergeordnet. In Italien kam es zu jener Zeit zu einem Machtwechsel, durch den sich die äußerste Rechte unter der Führung Berlusconis etablierte. Der Innenminister kam aus den Reihen der (reformierten) Faschisten. Interessant ist seine enge Verbindung zu seinem slowenischen Kollegen, der aus den Reihen der (reformierten) Kommunisten stammt. Der italienische Geheimdienst hat sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei der Heraufbeschwörung des Klimas für den Ausnahmezustand zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht: Wir erinnern uns der der Opposition unterschobenen Bombenattentate, denen hunderte ItalienerInnen zum Opfer fielen, wir erinnern uns an seltsame Verbindungen mit den Roten Brigaden und wir erinnern uns an den militärischen Geheimdienst Gladio, der unter anderem auch die slowenische Minderheit in Italien terrorisierte. Nichts davon trübte die brüderliche Zusammenarbeit zwischen den reformierten TotalitaristInnen aus Rom und Ljubljana. Guy Debord hat Recht: Das Vergessen ist ein Schlüsselmechanismus des Staatsspektakels.

Das nächste wichtige Ereignis war die Organisation des Tabor-brez-meja-Camps in Petizovcih in Prekmurje. Das internationale Netzwerk der sommerlichen No-Border-Camps soll jene Kultur verbreiten, die sich Grenzen widersetzt, die Hindernisse der freien Bewegung der Menschen darstellen (Kein Mensch ist illegal!). Diese Freiheit behält der globale Neoliberalismus nur den Waren und dem Kapital vor.

Die Proteste in Genua waren auch für die Bewegungen in Slowenien ausschlaggebend: ein Teil verband sich eng mit antirassistischen Gruppen, ein anderer bewegte sich in der Nähe des Black Block. Diese Differenz hat später jedoch nicht die Zusammenarbeit verhindert. Die Repressionsmacht schloss sich der neuen militanten Politik gegen die Gegner des Neoliberalismus an. Deshalb haben sie gemeinsam mit den italienischen Repressionsapparaten die „Molotowaffäre“ ausgekocht. Exakt eine Woche nach der Ermordung von Carlo Guliani legten die TeilnehmerInnen an den Protesten in Genua vor der italienischen Botschaft in Ljubljana Blumen nieder und zündeten Kerzen an. Das war an einem Freitag. Am Sonntag, stürmten Polizisten in aller Früh meine Wohnung und führten mich ohne jede Erklärung in die Polizeizentrale ab. Dort sammelte sich eine Sondereinheit, mehr als 30 Polizisten, die ins AKC Metelkova abkommandiert wurde, um das Büro des UZI zu durchsuchen, denn auf die italienische Botschaft sei ein Molotowanschlag verübt worden. Da es den Sitz dieses UZI aber nicht gibt, haben die Polizisten dort eine Stunde herumgeschnüffelt und sind dann nach Hause gegangen. Die Polizei durchsuchte Wohnungen, verhörte AktivistInnen und zwang sie zum Test am Lügendetektor. Ein Polizeijournalist hatte eine Zeitungsente ausgebrütet. Auf diese Provokation hin hatten sich AktivistInnen und unabhängige Medien sehr schnell aktiviert, mobilisierten zahlreiche ExpertInnen, denn es war klar, dass die ganze Affäre zur Einschüchterung von neuen politischen AktivistInnen gedacht war. Die alten Methoden der UDPA (Geheimpolizei im alten Jugoslawien) einschließlich des Drucks auf den akademischen Bereich wegen der Anstellung von Aktivisten fruchteten jedoch nicht. Mehr noch, es bewahrheitete sich Hegels Aussage, dass sich in der Geschichte Tragödien als Farce wiederholen. Alle repressiven Maßnahmen und das Konstrukt der Polizei wurde zum Gegenstand öffentlichen Gelächters, wodurch die Einschüchterung ergebnislos blieb. Aus Polizeikreisen sickerte schließlich die kleine Nachricht durch, dass es den Molotowanschlag gar nicht gegeben hatte. Es sei nur etwas Kerzenwachs am inkriminierten Ort gefunden worden. Der reformierte Innenminister reformierte sich noch einmal und tagte gemeinsam mit beiden Staatssekretären und drei AktivistInnen des UZI und wollte eine gemeinsame Presseerklärung zustande bringen. Im Gefolge eines späteren Auftritts im Theater Gromki wurden ihm in einer Zeitung folgende Ideen zugeschrieben: Dem Minister stünden die Ideen der GlobalisierungsgegnerInnen sogar nahe. – Im AKC Metelkova steht heute ein Denkmal aus Granit, das einen Sessel darstellt, auf dem „Sitz des UZI“ steht. Zum Zeichen der Versöhnung und der Verbesserung der Beziehungen spielte einige Monate nach der erfolglosen „Molotowaffäre“ bei der Denkmalenthüllung sogar ein Bläserquintett der slowenischen Polizei.

Die letzte Aktion des UZI war die Quatarza, ein Antikriegs-Straßenfest. Dieses Fest verwies auf das Treffen der WTO in Quatar und brachte zugleich auch die Ablehnung der Agression gegen das afghanische Volk zum Ausdruck. Heute sehen wir, dass dieser so genannte „Krieg gegen den Terrorismus“ den Terrorismus auf beiden Seiten (Bush/Laden) nur verstärkte: Von Madrid über Bagdad bis Beslan starben über zehntausende Unschuldige. Die Quatarza folgte dem Muster von „Reclaim the Streets“: Das Straßenfest war die Wiedereroberung öffentlichen Raums, welcher ansonsten einzig und allein zur Werbefläche degradiert wird, um politischem Ausdruck und politischer Kommunikation wieder einen Ort zu geben. In Koordinationssitzungen des UZI war beschlossen worden, dass die Maria Saaler Straße besetzt wird, um dort den freitäglich-dichten Verkehr zu blockieren. Wie gewöhnlich wurde auf diesen Sitzungen die Medienarbeit, der Druck und die Verteilung von Flugblättern, das Kochen und die Ausgabe von Essen, die Beschallung und Ähnliches besprochen. An diesen Sitzungen hat sich der Anarchopunk-Block nicht beteiligt. Lediglich zwei „Vermittler“ waren anwesend, die sich aber nicht zu Wort meldeten. Die Proteste haben eine große Anzahl von Menschen versammelt, die ihre Ablehnung der immer stärkeren Militarisierung zum Ausdruck bringen wollten. Die sich im Black Block formierenden Anarchisten erschienen in ihrer üblichen Ikonographie, um ihre subkulturelle Isolation noch zu verdeutlichen. Sie besetzten eine andere Straße, nämlich die Wiener Straße, und bezeichneten die Besetzung der Maria Saaler Straße als halbe Lösung und zu wenig radikal. Das Resultat ihrer Besetzung war jedoch lediglich eine Blockade von Autobussen, nicht jedoch des privaten Verkehrs.

Es handelt sich nicht nur um Differenzen bei der Durchführung von Straßenbesetzungen, sondern vor allem um das unterschiedliche Selbstverständnis politischen Tuns. Sollen Besetzungen bestimmter öffentlicher Räume deren Öffnung zur Ermöglichung der politischen Äußerung aller nützen, die das System in politischer Apathie abdrängen will, oder sollen sie der narzißtischen Zur-Schau-Stellung der Macht und der Blockade all jener dienen, die nicht Teil dieser subkulturellen Identität sind? Darüber entstand auch eine Auseinandersetzung zwischen den Besetzern und jenen Leuten, die in den blockierten Autobussen festsaßen. Zum Ausdruck kam dabei die identitären Muster einer solchen subkulturellen Politik: „Wir“ und „sie“, wobei sich das „Wir“ mit messianischen Avantgardismus paarte: Weil „sie“ halt nichts verstehen! „Sie“ sind unnötig, ihre Stimme unbrauchbar, sollen sie doch zu Hause oder in der Arbeit oder blockiert in den Autobussen sitzen, denn für „sie“ sprechen ohnehin „wir“. Der Anarchismus hat sich ähnlich dem Kommunismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgeformt und so manches hat sich über das Paradigma dieser identitär-avantgardistischen Politik ins 21. Jahrhundert hinübergerettet.

Das bedeutete auch das Ende des UZI, das sich wohl auch deshalb auflösen musste, weil es eine Umgruppierung der AktivistInnen gegeben hat. Besonders schädlich wirkte sich eine Medienkampagne aus, die das UZI als straffe Organisation mit Mitgliedern darstellte. Die Konsequenz davon war, dass einige, einschließlich so genannter Promis, denen der Aktivismus einen Imagevorteil zu ermöglichen schien, tatsächlich „beitreten“ wollten. – Das Jahr 2001 neigte sich dem Ende zu. Im Winter machten sich die ersten slowenischen AktivistInnen zu den ZapatistInnen in den Lakadonischen Urwald auf und arbeiten seither jährlich mit ihnen zusammen .

Im Jahr 2002 konzentrierten sich die Bewegungen darauf, den Eintritt Sloweniens in die NATO zu verhindern, denn der Beitritt bedeutete auf lokaler Ebene die Stärkung des Militarismus und insgesamt die Stärkung des globalen Krieges. Innerhalb eines Jahres ist es gelungen, ohne materielle Unterstützung, über 100 AktivistInnen, JournalistInnen, Intellektuelle, KünsterlerInnen und sogar einzelne Stimmen aus den Reihen des politischen Establishments zu vernetzen. Einfallsreichtum und Selbstorganisation der Leute dominierten die Arbeit in dieser Bewegung. Im Internet wuchsen die Anti-NATO-Seiten, auf privaten PCs wurden Flugblätter produziert, die sich heimlich verbreiteten und an unmöglichen Orten wieder auftauchten. In der öffentlich zugänglichen Bibliothek des Verteidigungsministeriums stand ein Gratisfotokopierer zur Verfügung: Auf diese Weise hat auch der Staat etwas zur antimilitaristischen Kampagne beigetragen. Den AktivistInnen kam der staatliche Diskurs über die NATO sehr gelegen, denn man konnte ihn leicht ins Lächerliche ziehen. Aus „Natopis“ (Natobeitritt) wurde zum Beispiel „Natopiss“, die lichtvollen Ausführungen des Außenministers Rupl waren eine unerschöpfliche Quelle der Belustigung. In den Räumen des AKC Metelkova und AC Molotov wurden nächtelang Transparente gemalt, weit über 100, die dann an Autobahnen, Unterführungen und anderen wichtigen Orten aufgehängt wurden.

Gleichzeitig kristallisierte sich eine Solidaritätsgruppe mit den Flüchtlingen auf Zeit aus Bosnien heraus, welche der Staat über Nacht hinauswerfen wollte, obwohl alle ihre Häuser, die meisten um Srebrenica, zerstört beziehungsweise besetzt waren. Zum ersten Mal haben sich Flüchtlinge im Stadtteil Vic selbst organisiert ohne Schirmherrschaft von NGO´s beziehungsweise „humanitärer“ Organisationen, die von ihrer Abhängigkeit leben würden. Im Mai wurde im Flüchtlingszentrum in Vic ein Fest organisiert: I kapak!, das wiederum der Öffnung von politischen Räumen diente und so genannte Unsichtbare sichtbar machte. Die Verschwiegenen hatten das Wort und bewirkten so eine breitere Solidarität mit ihrem Kampf. Anstelle des Avantgardismus und Paternalismus traten die Menschen, die Politik zu machen lernten, selbst gegen die staatliche Bürokratie auf, die mit ihnen kurzen Prozess machen wollte. Trotz Einschüchterung und Manipulationen erkämpften die Flüchtlinge eine Kompromisslösung.

Die politische Aktivität und die Veranstaltungen der autonomen Anarchopunkszene Molotov sowie das Zur-Verfügung-Stellen der Räume, um Anti-Nato-Aktivitäten zu organisieren, und die damit im Zusammenhang stehende Medienaufmerksamkeit waren Anlässe, behördlich gegen die HausbesetzerInnen vorzugehen. Da sich das von ihnen besetzte Haus im Besitz der staatlichen Eisenbahnen befand, wurde auf sie nicht nur öffentlicher, sondern auch juristischer Druck seitens der Eisenbahndirektion ausgeübt. Polizeieinsätze, paramilitärisches Auftreten der Geheimdienste und diverse Inspektionen durch das Gesundheitsamt lösten einander in ununterbrochener Folge ab. Eine breite Solidaritätsbewegung verhinderte das Anrücken von Bulldozern. Am Dach des Gebäudes stellten die Aktivisten Zelte auf, in denen sie nicht nur schliefen, sondern auch mannigfaltige kulturelle Veranstaltungen organisierten: Konzerte, Filme, Lesungen etc. Eine breite juristische und mediale Unterstützung war die Folge, woraufhin die Stadtverwaltung das Überleben der Molotovs etwas verlängerte, indem ihnen ein Ersatzquartier angeboten wurde. Heute gibt es weder dieses Ersatzobjekt noch das besetzte Haus auf der Kurilni ka 2.

Mitte des Jahres 2002 wurde das zweite „no border“-Camp im Dreiländereck bei Gorica organisiert, das ein vielfältiges Programm bot. Das Kollektiv „Food not Bombs“ versorgte die zahlreichen TeilnehmerInnen. Eine große Anzahl von Workshops wechselten einander ab: Schnitttechnik für VideokünstlerInnen, Töpferei, Infopoints, Trommelkurse, Vorträge über Ökologie standen genauso am Programm wie zwei Symposien, das eine über NATO-Militarisierung das andere über globale Prozesse, an dem unter anderem der berühmte Soziologe, Theologe und Aktivist François Houtart teilnahm. Bewusst wurden Kontakte zur ansässigen Jugend hergestellt und Romakinder einbezogen. Am letzten Tag drangen AktivistInnen in das Flüchtlingslager in Vondoncih ein, wo auch sehr viele Kinder eingesperrt waren. Dadurch wurde die Öffentlichkeit erneut auf dieses Lager aufmerksam gemacht, wobei einige der dort Internierten im allgemeinen Chaos das Recht auf freie Bewegung zur Geltung brachten und vor allem die Kinder sich am ungewöhnlichen Besuch erfreuten.

Die No-NATO-Kampagne ging von antimilitaristischen Positionen aus und war Teil einer umfassenderen Ablehnung des Krieges der Ökonomie und einer Kultur der Angst. Die neuen politischen Bewegungen, die gegen den NATO-Beitritt Sloweniens agierten, betraten damit völlig neues Terrain. Diese Bewegungen haben keine nationale Identität und leben in internationalen Netzwerken. Sie sind das planetare Pendant zum globalen Neoliberalismus. Deshalb haben Standpunkte und Werthaltungen, die diese Bewegungen politisch lokalisieren und aktionistisch konkretisieren, zumeist universellen Charakter: Friede, eine Welt ohne Grenzen, kulturelle Pluralität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Umweltverträglichkeit und Ähnliches. Die slowenische Anti-NATO-Kampagne konnte sich auf den ersten Blick mit diesen Zielvorstellungen nicht identifizieren, weil sie sich in sehr engem nationalistischen Kontext formulierte, in welchem sich so einige NATO-Skeptiker extrem nationalistischer Argumente bedienten, zum Beispiel des Mythos der nationalen Souveränität, der rassistischen Bedrohung durch amerikanische Stützpunkte und deren Soldaten oder einen nationalistischen Egoismus zur Grundlage hatten: Zahlt sich das aus? Ist der Beitritt nicht zu teuer? Darüber hinaus war die Bewegung häufig in einen zumeist unausgewogenen Mediendialog mit den Machthabern gezwungen. Das lässt sich mit der Idee, einer frontalen Konfrontation mit dem Staat auszuweichen, und dem Aufbau paralleler politischer Räume beziehungsweise dem Eröffnen neuer politischer Diskurse nicht gut vereinbaren. Dessen ungeachtet ist es der antimilitaristischen Bewegung gelungen, durchzusetzen, dass in der Kampagne eine universalistische und nicht eine nationalistische Motivation überwog. Das hat leider nicht zum Sieg bei der Abstimmung und zur Verhinderung des NATO-Beitritts geführt, was aber auch nicht das vordringlichste Ziel der Bewegung war. Das wichtigste Ziel war wie stets im Widerstand Gemeinschaft herzustellen. Wesentlichster Ausgangspunkt der Politik ist die menschliche Würde und diese ist nur im Widerstand gegen die Entmenschlichung in allen Lebensbereichen zu finden. Das ist die zentrale Idee, die Methoden und Anregungen, Einzelne und Gruppen bei ihren Auftritten gegen die NATO einte. Die Veranstaltungen, die am 7. November begannen, gipfelten in einer Demonstration unter dem Motto: „Gebt uns nicht die NATO, gebt uns Frieden!“ am 9. November. Sie haben durch ihren fröhlichen Spektakelcharakter, durch Auftritte von Theater- und Musikgruppen, Speakers Points und Ähnliches urbanen öffentlichen Raum verändert und diesen der Apathie und Konsumgier entzogen. Zur gleichen Zeit hat ein neuer Teil der Bewegung das Europäische Sozialforum in Florenz mitgestaltet, dessen wichtigster Beschluss die Ablehnung und die Sabotage des Kriegs, insbesondere des geplanten Angriffs auf den Irak war.

Auf Anregung des Europäischen Sozialforums und des Weltsozialforums in Porto Alegre wurde weltweit für den 15. Februar zu einem Antikriegsaktionstag aufgerufen. In mehr als 1.000 Städten der Welt beteiligten sich Millionen Menschen an diesen Demonstrationen. In Ljubljana hat die Antikriegskoalition die Demonstration unter das Motto „Friedensmarsch der Kollateralschäden“ gestellt. Das Wesentliche an dieser Demonstration in Slowenien war, dass die antimilitaristische Mobilisierung keinem plumpen Antiamerikanismus huldigte und nationalistischen Tendenzen auswich. Die OrganisatorInnen boten mit dieser Demonstration jedem/jeder die Möglichkeit, seinen/ihren Protest gegen die Aggression gegen den Irak Ausdruck zu verleihen und der offiziellen Unterstützung des Krieges entgegenzutreten. Die Slowenische Wirtschaftskammer zum Beispiel hat unter dem Vorwand des Wiederaufbaus bereits Gespräche über wirtschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten im Nachkriegs-Irak geführt. Andererseits hat sich aber auch eine Gruppe von AktivistInnen aus Slowenien in den Irak aufgemacht, um dort als lebende Schutzschilder zu fungieren. Gegen diese menschlichen Schutzschilder richtete sich in Slowenien eine der schlimmsten Medienkampagnen. Im Gefolge dieser Demonstration bildeten sich in Slowenien zwei antimilitaristische Zusammenhänge heraus: die aktive Friedenszone (AMO) und die aktive, mobile Friedenszone (AMMO). Beide verstanden sich als Antwort auf die militaristische Politik des Staates und organisierten vor allem an Mittelschulen, an den Fakultäten der Universität, aber auch in anderen Bereichen Anti-Kriegs-Veranstaltungen. Beide Aktionsallianzen verstanden sich als Raum, in dem jene, die ohne Stimme sind, zu Wort kommen können. Diese Diskurse haben verstärkt durch das Bewusstsein, damit in einem internationalen Zusammenhang zu stehen, vermehrt zu individuellen und organisierten direkten Aktionen ermuntert. So hat zum Beispiel AMMO die „mobilen Kollateralschäden“ organisiert, indem sie den Verkehr mit Kriegsopferperformances blockierten. Für kurze Zeit wurde auch der Eingangsbereich der britischen Botschaft besetzt. Genauso die US-Botschaft, indem deren gesamter Bereich zur aktiven Friedenszone erklärt wurde. Zwischen Februar und April kam es zu zahlreichen weiteren Aktionen und Treffen, bei denen unter anderem auch Redner aus den USA auftraten. Die entschlossenste Aktivität war die Aktion „Halten wir den Zug des Todes auf!“, in deren Rahmen AktivistInnen nach Italien fuhren, um dort gemeinsam mit italienischen AntimilitaristInnen einen Mannschaftstransportzug aufzuhalten.

Ende 2002 sind neue politische ProtagonistInnen zur sozialen Bewegung in Slowenien gestoßen, und zwar die AktivistInnen der so genannten Ausgelöschten. Anders als in der I kapak!-Kampagne der bosnischen Flüchtlinge haben diesmal die politischen Aktivisten nicht im Namen der so genannten Ausgelöschten agiert und Schutzherrschaft über sie übernommen. Jetzt ging es um eine solidarische Vernetzung, bei der es um kollektive Arbeit und den Austausch von Erfahrungen ging. Hilfe wurde geboten bei der Öffnung von öffentlichen Räumen, bei Kontakten zu Medien und bei der Initiierung von akademischen Diskursen sowie auch technische Unterstützung. Weil die neuen politischen Bewegungen Teil des globalen Widerstandsnetzes sind, trugen sie viel zur Information der internationalen Öffentlichkeit bei. Über die so genannten Ausgelöschten wurden sowohl das ESF in Paris als auch die Gegner des WTO-Treffens in Cancún informiert. In Paris hat eine internationale AktivistInnengemeinschaft die Botschaft von Slowenien besetzt, um gegen das slowenische Vorgehen gegen die Ausgelöschten zu protestieren. Der politische Kampf der Ausgelöschten ist ein wesentlicher Teil der slowenischen sozialen Bewegungen und man kann sie mit den französischen Sans Papiers vergleichen. Sie ist nicht nur Ausdruck des beharrlichen Bestehens auf Würde in einer extrem nationalistischen Umgebung, sondern auch ein Beispiel dafür, wie politisches Arbeiten in einer extrem antipolitischen Umgebung möglich wird. Die Oligarchie nützt die Ausgelöschten aus, die politische Rechte benützt sie für ihre Hetzkampagnen, die Linke macht genau dieselbe Politik, wenn sie den Innenminister stellt und versucht durch rechtliche Diskriminierung der Ausgegrenzten bei den WählerInnen Punkte zu machen. Die „Auslöschung aus dem Melderegister“ im Februar 1992, die zahlreiche persönliche Tragödien auslöste, war ihrem Wesen nach eine ethnische Säuberung und ein Verbrechen an zahlreichen Menschen, das noch auf entsprechende internationale Reaktionen wartet. Die politische Aktivität der Ausgelöschten ist nicht nur schwer wegen des äußeren Drucks, sondern sie müssen sich auch intern mit einem antipolitischen Legalismus konfrontieren, der mit den Regierungsparteien und dem allgemeinen Wunsch in Verbindung steht, dass nach der Beseitigung dieses „Einzelproblems“ sich alle wieder problemlos in das System integrieren.

Im Februar 2004 wurde wieder, wie schon im Jahr davor, eine Woche der Solidarität mit den Ausgelöschten organisiert. Öffentliche Tribunale, Berichte Betroffener und direkte Aktionen wie zum Beispiel das Abtragen der Mauer des Ausschlusses vor dem Haus der SDS (Slowenische Demokratische Partei) gipfelten in einer gemeinsamen Demonstration unter dem Motto „Freiheit ist Differenz“. Ähnliche Aktivitäten löste das Referendum gegen die Ausgelöschten aus, das die extreme Rechte erzwungen hatte. Bei der Abschlusskundgebung am Preschern-Platz unter dem Motto „Wir sind die Ausgelöschten“ traten zahlreiche slowenische LiteratInnen unter Federführung des Lyrikers Boris A. Novak auf und unterstützten die Anliegen der Ausgelöschten.

Die einen Monat später stattfindende Demonstration „Eure Kriege, unsere Toten“ anlässlich des Bombenattentats, dem in Madrid über 190 Menschen zum Opfer fielen, aber auch anlässlich der einjährigen Besatzung des Irak, die über 10.000 Menschenleben gekostet hat, war als Unterstützung der spanischen Multitude gedacht. Diese Multitude hat sich auf Grundlage antimilitaristischer Prinzipien herausgebildet und zeigte auf die wahren Schuldigen, die politische Elite, die sie wenige Tage später um die Macht brachte. In Spanien saßen sie nicht der nationalistischen und antiislamistischen Hysterie auf, sondern erkannten, dass es um einen permanenten Krieg mit zwei Fratzen (neoliberaler Militarismus und Terrorismus) geht, rückten ihre Aktion in den Bereich der Eröffnung politischer Räume, die die neue Regierung dem Grundsatz des gehorchenden Regierens unterwarf. Die Wirkungen der politischen Massenbewegungen sind nicht unmittelbar, sie bedeuten das Einschließen von immer mehr Individuen und Kollektiven in die politische Partizipation, die weit über die liberale Idee der repräsentativen Demokratie hinausgeht.

Diese Chronik des fröhlichen Widerstands ist keineswegs vollständig, sondern lässt einiges (un-)bewusst aus. Sie zeigt wie mensch auf kleinem Raum, in dem das öffentliche Bewusstsein durch Paläokonzepte der 80er-Jahre und Klischees der korporatistischen Medien blockiert wird, dennoch etwas erreichen kann. Trotz einer begrenzten Anzahl von AktivistInnen und ohne materielle Unterstützung ist es gelungen, ein Netz des Widerstandes zu knüpfen, das Teil des europäischen und des globalen Widerstandes gegen das neoliberale Regime des permanenten Krieges ist. Die neuen Formen der Vernetzung und der politischen Subjektivität, die einer politischen Identität ausweichen, neue Methoden des politischen Tuns, das nicht auf die Machtmechanismen fokussiert, sondern auf die Reproduktion einer menschlicheren Welt, auf die Wiederherstellung der Gemeinschaft, die der moderne Kapitalismus entzweit und gespalten hat, verlangen ein anderes Selbstverständnis und eine neue Selbstreflexion der gesellschaftlichen Kämpfe und des Widerstands. Schon in der Zeit des UZI stellte sich das Problem der theoretischen Reflexion: Den AkteurInnen der Bewegungen war klar, dass die alten Begriffe nicht mehr greifen. In den Pausen des Aktivismus wurden Symposien abgehalten, in denen mensch auf die akademische Hierarchie verzichtete. Akademische Einschätzungsversuche dagegen wirkten danebengehend und komisch. So wurden oftmals Vergleiche mit der Vergangenheit (Studentenbewegung Ende der 60er-, Zivilgesellschaft Ende der 80er-Jahre), oftmals noch dazu in anekdotischer Form, herzustellen versucht. Anstelle die Logik des untersuchten Gegenstandes zu entwickeln, haben sie ihre Schemen auf ihn projiziert. Wenn du die Logik der Bewegungen entdecken willst, musst du sie aber auch tatsächlich mitgestalten. Studien über die Polizei, die Medien, das UZI und die WTC-Anschläge respektieren diesen Grundsatz nicht. Anstelle von Erkenntnis bieten sie Allgemeinplätze und deren „Analyse“ unterstützt die Klischees der korporatistischen Medien. Die ideologischen Konstrukte wie Antiglobalismus werden für manchen Gesellschaftswissenschafter zu selbstverständlichen Kategorien, obwohl sie sie eigentlich dekonstruieren sollten. Insbesondere die semantischen „Verwirrungen“, welche die AktivistInnen im Sprechen über ihr Tun verwendeten, schmerzten die GesellschaftswissenschafterInnen besonders. Es wird nicht über die Zivilgesellschaft gesprochen, nicht über StaatsbürgerInnen, nicht über die ArbeiterInnenschaft, nicht über das Volk, nicht über Parteidemokratie und nicht über NGOs. Stattdessen sprechen die AktivistInnen von Empire, Multitude, Rhizom, vom Vernetzen, von permanentem globalen Krieg, Neoliberalismus, der Ordnung des Lebens, vom Prekariat, dem universellen Staatsbürger, vom offenen Code, vom Grundeinkommen, vom Exodus, vom Nomandentum, von Copyleft und Ähnlichem. Die neuen globalen Bewegungen stellen einen solchen Bruch mit der Geschichte dar, dass die theoretische Interpretation ohne Reformulierung der theoretischen Tradition unmöglich ist. Ständiges Lesen ist angesagt: Debord, Deleuze, Foucault, Adorno, Bloch, Sohn-Rethel, Fanon, Said, Zibechi, Goldmann, Paglia, Haraway, Virno, Agamben, Negri. Ohne erneute Marxlektüre wird es jedoch nicht gehen, und genau dahin führt uns Holloways Buch.

Vielleicht gibt es auch andere Lesetraditionen, doch nur ein kleiner Teil der politischen AkteurInnen in den Bewegungen gehört ihnen an. Holloways Ablehnung des Kampfs um die Macht, des Avantgardismus und der politischen Identität geht an ihnen vorbei. Es handelt sich dabei um linke Sekten, die nach dem Muster von religiösen Sekten funktionieren. Sie haben ihre heiligen Schriften. Nicht dass diese Schriften (vorwiegend aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) gänzlich unbrauchbar wären, aber sie dürfen allein diese lesen. Sie verfügen über eine außergewöhnlich starke Identität. Als auserwähltes Volk sehen sie sich zwar noch nicht, aber sie verfügen über eine politische Identität, die ihnen eine vergleichbare moralische Aura verleiht (KommunistInnen, AnarchistInnen, linke Zeugen Jehovas aller Art). Die Geschichte stellt für sie eine lineare Entwicklung dar, die zur Erlösung führt, der Jüngste Tag ist für sie allerdings die Revolution und das Himmelreich der Kommunismus, der Anarchismus oder irgendeine andere ideale Gesellschaft. Diese Sekten mit ihren Untersekten hassen einander ganz im Einklang mit der Glaubenstradition tödlich. Der vulgärsoziologische Materialismus ist das Fundament ihres Engagements. Die ganze Zeit suchen sie das gesellschaftliche Subjekt, für das sie gerne kämpfen möchten und das sie gerne führen würden. Sie finden es meistens in der IndustriearbeiterInnenschaft, zu welcher sie ein ambivalentes Verhältnis haben: Sie ist eine Masse, die sich ihrer historischen Rolle nicht bewusst ist, gleichzeitig aber fällt ihnen die „Ehre“ und die „Macht“ zu, dass sie für sie kämpfen. Weit weg von Marx sehen sie das emanzipatorische Potential in der Arbeit und nicht jenseits davon. Den Klassenkampf und den Begriff Klasse verstehen sie als empirisches soziales Schichtenmodell und nicht als Methode des Kampfes, der diese Schichtung erst hervorbringt. An sich bedeutet das theoretisch nichts. Vielleicht ist es zu tolerieren, dass junge Leute auch in der Politik stark nach einer Identität suchen, dass ihnen die Subkultur Asyl vor ihren Eltern bietet, von denen sie enttäuscht wurden. So etwas kann aber nicht Grundlage des politischen Kampfes sein, weil sie auf (Selbst-)Ausschluss basiert. Damit meine ich nicht, dass jemand, der sich der Subkultur angehörig fühlt, sich nicht über die Grenzen seiner Identität hinaus politisch engagieren könnte. Ich behaupte nur, dass die Zugehörigkeit zur Subkultur a priori kein „richtiges“ politisches Engagement generiert. Die Subkultur ist nicht das „auserwählte Volk“, genausowenig wie sie eine Avantgarde innerhalb der Bevölkerung bildet.

Ein solcher Avantgardismus und straffe politische Identität kommen auch an anderen Schnittpunkten der Bewegungen zum Ausdruck: Die Schließung großer Industriezweige, die Kündigung von ArbeiterInnen in der ersten Hälfte des Jahres 2004 sowie große Gewerkschaftskongresse haben eine Auseinandersetzung über die Frage der Arbeit ausgelöst. Auch in dieser Frage haben sich innerhalb der politischen Bewegungen zwei Standpunkte herausgebildet: der traditionalistische (anarchistische, sozialistische) und jener, der sich aus der postfordistischen Realität entwickelt hat. Der erste Standpunkt ist wegen seiner widersprüchlichen Dynamik interessant, weil er sich in die gegenwärtigen politischen Prozesse einklinkt, aber sie durch die doktrinäre Brille des 19. Jahrhunderts beurteilt. Nach dem Zerfall des Kommunismus in Osteuropa haben entstehende Gruppen in ihrem Widerstand gegen den Kapitalismus ihre manifeste Identifikation (unterstützt durch ein subkulturelles Image) im Anarchismus gefunden. Der autoritäre Sozialismus hat ihnen keine anziehende Alternative geboten. Allerdings ist das Anarchistische zumeist nur ein Oberflächenschein. Inhalte und Methoden sind jedoch bolschewistisch; der Antiautoritarismus bloße Phrase. In ihrem Tun ist die Ethik der Konspiration immer gegenwärtig. In diesem Sinne muss hier noch einmal auf die formelle Entsprechung zur Religion hingewiesen werden. Diese traditionalistischen Gruppen sind hermetische Gemeinschaften Gleichgesinnter, die auf Nuancen von Unterschieden bereits sehr empfindlich reagieren. Sie nutzen diese Differenzen zu gegenseitigen Anschuldigungen und Denunziationen, zu unendlichen Kämpfen um die Frage, wer die Richtigen sind und wer ein Reformist. Die Ähnlichkeit zum Bolschewismus ist auch in der internationalen kominternartigen Formierung gleichgesinnter Organisationen zu erkennen. Entscheidend ist aber die Apotheose der Arbeit in der Moderne, die übersieht, dass die Arbeit das Produkt und der Produzent des Kapitalismus ist, dass die Emanzipation der Arbeit vor allem ihr Aufhören ist. Sozialistische Ideen, welche das Proletariat beziehungsweise das Konzept der Formung des politischen Subjektes der Emanzipation im Kampf kurzschließen mit der empirischen (industriellen) Arbeiterschaft, werden unkritisch übernommen. Diese Arbeiterschaft war am Übergang von den 80ern in die 90er-Jahre das Opfer der Transformation des Kapitalismus in seine postindustrielle Form. In Slowenien kam es zu einer umfassenden Entstaatlichung und Privatisierung und einer Enteignung gesellschaftlicher Potentiale. Den Großteil der industriellen ArbeiterInnenschaft in Slowenien bildeten ZuwanderInnen aus anderen jugoslawischen Republiken. Die neuen slowenischen ökonomischen und politischen Eliten neutralisierten einen möglichen Widerstand mit Nationalismus. Nicht zuletzt kommen die so genannten Ausgelöschten zum Großteil aus dieser Arbeiterschaft, wobei sie von der Propaganda als Feinde und als Angehörige der JLA (Jugoslawische Volksarmee) bezeichnet wurden. Von den mindestens 20.000 Ausgelöschten waren jedoch nur vielleicht 500 wirklich Armeeangehörige. Gerade dieser nationalistische Konsens verhinderte einen effizienteren Widerstand und die Solidarität der gesamten ArbeiterInnenschaft.

Ein anderes Problem der ArbeiterInnenschaft ist, dass ihre Organisationen (Gewerkschaften) nicht von einer Analyse der globalen Zusammenhänge der Arbeit beziehungsweise von der Realität des Neoliberalismus und des Empire ausgehen. Auf das Schließen und Abwandern von Betrieben in die Dritte Welt antworten sie mit Xenophobie, beziehungsweise nationalen Protektionismus und nicht mit globaler Solidarität wie anderswo. Die Passivität und die Absenz von Widerstand wurden erreicht mittels ideologischer Abstumpfung, die eine Kontinuität vom sozialistischen bis hin zum katholischen Paternalismus aufweist, der ein frommes Volk hervorbringt. Nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass die hiesige Arbeiterschaft in großem Maße Nebenerwerbsbauern sind mit einem niedrigen ruralen Bedürfnisniveau, welche mit ein paar 1.000ern Abfertigung abzuspeisen und zum Schweigen zu bringen sind. Die Arbeiterschaft als solche ist a priori kein Widerstandssubjekt, keine Klasse, keine Multitude, ist höchstens Bevölkerung, die in ihrer Homogenität die Voraussetzung für einen Nationalstaat ist. Damit ist nicht gesagt, dass sie das nicht auch werden könnte, dies aber keinesfalls, indem sie lediglich innerhalb des Systems der Reproduktion des Kapitals kämpft.

Beginnend mit dem ESF in Paris, wo die europäische Vernetzung antirassistischer Organisationen gemeinsam mit Pariser Prekären Demonstrationen radikalisiert haben, haben auch hier Kollektive im Widerstand neben der Frage der Unsichtbarkeit im sich globalisierenden Europa die Frage der unsicheren und prekären Arbeit immer mehr thematisiert, einem Arbeitstyp, der vor allem im immateriellen Bereichen dominiert. Aber auch das bedeutet nicht, dass die Kognitariate oder die Prekariate das neue Proletariat darstellten. Sie sind genausowenig wie die industrielle Industriearbeiterschaft der Ausgangspunkt der Kämpfe, dennoch kann mensch sie nicht abschreiben, genausowenig wie die verbliebene industrielle ArbeiterInnenschaft. Es ist jedoch der Wunsch entscheidend, aus dem Volk in die Multitude überzugehen oder, wenn mensch so will, in die kämpfende Klasse.

Das Ende der Chronik hat uns zum Thema Arbeit geführt, die ihren Sinn lediglich in der Anti-Arbeit als Kreativität hat. Die historische Erfahrung, welche in der Sprache und ihren Bedeutungen sedimentiert ist, kam den ÜbersetzerInnen dieses Buches nicht zu Hilfe. Eine Kultur, die ihre Kinder zum Bravsein (beziehungsweise zum Geduldigsein) erzieht, ist nicht viel wert. Die Menschen, die in diesem Winkel der Alpen beheimatet sind, schämen sich nicht, zuzugeben, dass sie brav und arbeitsam sind, aber sie sollten sich schämen, weil sie sich mit diesem Geständnis ihrer Würde begeben. Der Nationalismus, die Fremdenfeindlichkeit, die Xenophobie, die Homophobie, die hier blühen, bekräftigen dies nur noch. Das unkritische Bestehen auf einer Welt der Arbeit (des Kapitals) verunmöglicht eine Auseinandersetzung und eine Veränderung des Zukunftshorizonts. Letztendlich haben wir nur ein Wort: „delo“. Was ist „work“ und was ist „labour“, was ist „doing“ und was ist „done“. „Doing“ übersetzten wir mit „delovanje“ wir könnten auch „destvovanje“ dazu sagen, aber am besten wäre es „po`c´etje“ zu sagen. „Po`c´etje“ bedeutet erschaffen, kreieren, der „Po´c´etnik“ ist ein unmittelbar theologischer Begriff, das Subjekt der ursprünglichen Kreation. „Po`c´elo“ deutet auf jenes Ursprüngliche hin, dass keinerlei Muster hat und ist kreativ an sich. Aber welche Konnotation hat „po´c´etje“ in unseren Breiten: eine minderwertige. „Kaj pa po`c´ne?“ (Was tut er?) sagt die aufgebrachte Stimme des Volkes, wenn sie künstlerisches Schaffen sieht. Soll er/sie doch „delat naj gre“(arbeiten gehen). Das was wertvoll ist, wird verächtlich gemacht und das, was tote Arbeit (beziehungsweise Geld) ist, ist ein angebeteter Fetisch. Jene, die die Welt verändern, die aktiv politisch tun, tun das außerhalb dieser Logik der Arbeit. So mancher ist das unverständlich und daher stellt sich die Frage: „Kdo vas pla`c´uje?“ (Wer bezahlt euch?). Der einzige Lohn für Freiheit und Menschlichkeit ist der fröhliche Widerstand selbst. Diese Chronik zählt die vielfältigen globalen Kämpfe in unserem lokalen Schnittpunkt auf; deren Reichhaltigkeit lässt es der „Absolvierung des ersten Fünfjahrplans“ zum Trotz zu, mit Holloway in einen fruchtbaren Dialog zu treten.

Nachwort eines der HerausgeberInnen und ÜbersetzerInnen der slowenischen Ausgabe von John Holloways Buch: „Change the World without Taking Power“. Auf diesem „globalisierungskritischen“ Umweg über Mexiko haben wir erstmals erfahren, welchen Umfang und welche Bandbreite emanzipatorische Bewegungen bei unserem zweiten südlichen Nachbarn, Slowenien, inzwischen erreicht haben. Die dabei zum Tragen kommenden theoretischen Auffassungen des Autors widersprechen vielen hierzulande gängigen Vorurteilen über die Bewegungen in den früher realsozialistischen Ländern und verdienen allein deswegen schon aus dem Schatten gerückt zu werden, in dem sie bisher verborgen lagen. Dass sie nicht in allem der „Redaktionsmeinung“ der grundrisse entsprechen, die es im Übrigen selbst nicht gibt (ein paar entschiedene Distanzierungen aller derzeitigen Redakteure ausgenommen), soll hier nur der Vollständigkeit halber nochmals angemerkt werden.

Aus dem Slowenischen übersetzt und gekürzt von Bernd Maier & Nika Sommeregger.

[1Adresse der Universität in Ljubljana.

[2Monatlich erscheinende politisch-literarische Revue unter der Chefredaktion des Lyrikers und Kinderbuchautors Niko Grafenauer. Erscheint seit Mai 1981. Besonders wichtig das Supplement für politische und soziale Essayistik „Ampak“ („Aber“).

[3Die Angesprochenen waren vor der Aufspaltung Jugoslawiens wegen Verrats militärischer Geheimnisse inhaftiert.

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