Das Fliegenglas zerschlagen!
Die Dekonstruktion herrschender Diskurse entreißt der Aktualität den Schleier der Notwendigkeit. Die hier verwendeten Ansätze operieren in einem Gefüge von Wahrheitsregimen, die ihre je eigenen Normalitäten konstituieren und das Wesen und die Tatsache ihrer Konstitution gerne verschleiern. Die Tatsache umfasst die Erkenntnis, dass es kein Außerhalb sozialer Praxis gibt, keinen privilegierten Ort der Kritik oder der wie immer gewünschten Fundierung. Die Vorstellung von Wahrheit: Wahrheiten sind das Resultat ständiger Wiederholungen in Sprachspielen. Die Performanz dieser Sprachspiele wird im Text von Stefan Vater auch an eindrücklichen Beispielen demonstriert; eine Praxis, die das Durchbrechen herkömmlicher Denk- und Rezeptionsschemata erleichtert. Die Erinnerung eines Kinderspiels, „Der Hase läuft über das Feld“, inkludiert viele der hilfreichen, theoretischen Entwürfe, die in geordneten Schleifen den Text durchziehen und das Erkenntnisinteresse deutlich werden lassen. Die Explizierung der analytischen Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins wird in diesem Kontext wichtig. Die auch darin enthaltene Möglichkeit des Schummelns im Sinne einer „Praxis ohne völlige Klarheit“ wirkt tröstlich in einem „immens machtstrukturierten Zusammenhang“, der „von wortgewaltigeren und brutaleren Kindern diktiert wurde“ und deutet die jedem Machtgefüge eingeschriebenen Versuche der Störung, des Stotterns und herbeigeführten Rauschens an:
Ich spielte als Kind „Der Hase läuft über das Feld“ — ein Kinderspiel, dessen Regeln ich gar nicht aufschreiben möchte, weil ich sie nicht kenne. Dennoch habe ich „Der Hase läuft über das Feld“ als Kind gerne und überzeugt gespielt, obwohl es keine formulierbaren Regeln gab. Und ich habe „Der Hase läuft über das Feld“ gespielt, bevor ich auch diese nicht existierenden Regeln praktisch imitieren konnte und so tun, als wüsste ich, was gespielt wird. (S. 20)
Die üblichen Vorwürfe der Beliebigkeit oder Willkürlichkeit, die poststrukturalistischen Ansätzen — etwa im Rückgriff auf Foucault oder Deleuze — entgegengebracht werden, teilen weiterhin die Sehnsucht nach universeller Unterscheidung von richtig und falsch und beschwören die Auseinandersetzung im Zeichen des besseren Arguments, des rationalen Diskurses. Die widerständige — in der gewünschten Perspektive lustvolle — Praxis ist ebenso wenig Trägerin des per se Guten, weder der revolutionären Veränderung um ihrer selbst Willen noch des ganz Anderen, Utopischen oder der simplen Übernahme von Staatsgewalt/allgemein privilegierter Positionen, wie die vorhandenen Dispositive („... die Tatsache, dass Macht eigentlich nirgends ist, als in der Anordnung der Gegenstände.“ S. 38) auf ihre negativen, beschränkenden und disziplinierenden Aspekte reduziert werden können.
Die Funktion der Diskursanalyse, die Gewalt herrschender Formationen in der Normalisierung strikter Grenzen des Sagbaren, Wünschbaren oder Erreichbaren zu dekonstruieren und dadurch die Fülle der Möglichkeiten zu eröffnen, wird im zweiten Teil des Werkes in eine methodologische Auseinandersetzung übertragen. Die stark an Foucault orientierte, angewandte Diskurstheorie von Autorinnen um die Zeitschrift KultuRRevolution vermittelt Werkzeuge der Demontage hegemonialer Diskurse, die als einzig vernünftig Praxis sozialer Ordnung erscheinen. Die Zerbrechlichkeit des nationalen bildungspolitischen Diskurses wird im Komplex der Auseinandersetzung um die Einführung von Studiengebühren an hiesigen Universitäten und deren Repräsentation in sozialwissenschaftlichen Expertisen nachgezeichnet; der Autor verfolgt entlang einer mikropolitischen Perspektive eine interventionistische Forschungsstrategie.
Die skizzierten theoretischen Bezugspunkte und Strategien bilden Vorlieben ab, deren Adäquanz in der Öffnung des Blicks liegt, der in einem letzten Teil zu „theoretischen Lockerungsübungen“ schweift, die das Gelingen „alternativer Verwendungen normalisierter Sinngitter“ etwa in der antidefinitorischen Strategie der EZLN offenlegt. Die Praxis der De- und Rekonstruktion provoziert die Wiederholung vielfältiger Singularitäten, um das Auftauchen von Formen der Subversion in der kulturellen Grammatik zu erleichtern, Erwartungshaltungen immer wieder zu enttäuschen.
Stefan Vater: Diskurs-Analyse-Intervention. Europäische Hochschulschriften, Reihe XXI Soziologie, Bd. 380, Peter Lang, Frankfurt aM, 2002
Stefan Vater ist Soziologe, Philosoph. Lektor für Bildungssoziologie an der Universität Linz und wiss. Mitarbeiter der Pädagogischen Arbeits- und Forschungsstelle des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen.