Grundrisse, Nummer 26
Mai
2008
Michael Willenbücher:

Das Scharnier der Macht

Der Illegalisierte als homo sacer des Postfordismus

Berlin: b_books, 2007, 12 Euro

Mit „Das Scharnier der Macht“ legt Michael Willenbücher eine Studie zur Rolle illegalisierter MigrantInnen im postfordistischen Kapitalismus vor. Gleichzeitig ist es eine sozialphilosophische Verortung der Illegalisierung mit weitreichenden Implikationen für die Staatstheorie. Bemerkenswert ist es auch, da es ein Werk aus dem Kanakattak (www.kanak-attak.de) Umfeld ist. Leider verrät das Buch wenig über den Diskussionszusammenhang dieser Gruppe.

Kapitel 2 („homo sacer“) legt theoretische Grundlagen für die der italienische Philosoph Giorgio Agamben als Ausgangspunkt dient. Im Gegensatz zu Vertragstheorien der Staatlichkeit sieht Agamben im Ausnahmezustand (bzw. der Macht diesen zu erklären) den ultimativen Ausdruck und die Fundierung der Staatsmacht. Der homo sacer ist im römischen Rechtssystem jene Person, die vom Kaiser für vogelfrei erklärt wurde, also getötet werden kann und damit quasi außerhalb des normalen Rechtssystems steht. Willenbüchers Buch ist der Versuch „Agambens Erweiterung von Foucaults Biomacht-These für eine Analyse der Illegalisierung von Migranten und Flüchtlingen im momentanen EU Migrationsregime in Gebrauch zu nehmen“ (S. 28f). [1] In späteren Kapiteln werden illegalisierte MigrantInnen, die in Lager untergebracht auf ihre Abschiebung warten, gleichsam zum modernen homo sacer, der außerhalb der üblichen Rechtsnormen steht.

In Kapitel 3 steht der Begriff der „Illegalisierung“ im Zentrum. Statt „illegale Migranten“ verwendet der Autor den Begriff der Illegalisierung um auf die (staatlichen) Prozesse hinzuweisen, durch die Illegalität erst erzeugt wird. Ein großer Teil dieses Kapitels ist der Korrektur von gängigen Klischees gewidmet: Der größte Teil der Illegalisierten durchschwimmt nicht in stiller Nacht kalte Flüsse (wie die Medien oft suggerieren), sondern reist legal ein: mit Touristen- oder sonstigem Visum, aber ohne Arbeitserlaubnis. In der Folge gibt es keine scharfe Grenze zwischen „legalen“ und „illegalen“ Migrantinnen, sondern verschiedene Konfigurationen und Mischformen wie z.B. legaler Aufenthalt aber illegale Arbeit.

Kapitel 4 („Zonen der Ausnahme“) umfasst rund die Hälfte des Buches und enthält ausführliche Abschnitte zu Migrationsregimen, postfordistischen Arbeitsverhältnissen, Grenze, Citizenship und zum Lager. Moderne Nationalstaaten haben unterschiedliche Migrationspolitiken verfolgt (die sich in unterschiedlichen „Regimen“ geäußert haben). Während in der fordistischen Phase Anwerbung und gezielte Integration in den Arbeitsmarkt (aber nicht notwendigerweise eine gesellschaftliche Integration) im Vordergrund standen, verfolgt der postfordistische Staat eine Strategie der Illegalisierung, der auch eine Vorreiterrolle bei der Etablierung prekärer Arbeitsverhältnisse zukam. Der tatsächliche Effekt der verschärften Grenzkontrollen und der restriktiven Immigrationspolitik ist aber „nicht Abschottung (…), sondern Entrechtung“ (S. 78). Die so geschaffene entrechtete Schicht von ArbeiterInnen spielt für verschiedene Wirtschaftssektoren (Bau, Landwirtschaft, Reproduktionsarbeit) eine zentrale Rolle. Die Illegalisierung wird damit zu einem wesentlichen „Scharnier der Macht“ im Postfordismus. [2]

Die verschiedenen Abschnitte des 4. Kapitels bewegen sich auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus, viele Themen werden oft sehr knapp diskutiert. Im Abschnitt „Grenze“ wird die EU Migrationspolitik diskutiert, die versucht ein System von Auffanglagern in Nicht-EU Staaten zu etablieren, die de facto einen rechtfreien Raum konstituieren (würden). Im Abschnitt „Citizenship“ wird die Migration als die Ankunft der subalternen, post-kolonialen Subjekte in Europe interpretiert und die Menschrechte als genuine Menschen- und nicht bloß Staatsbürgerrechte eingefordert.

Kapitel 5 („Outro“) kehrt zu konzeptionellen Fragen zurück und diskutiert das Spannungsverhältnis von Agambens staatszentrierter Analyse und der These von Hardt und Negri von der „Vorrangigkeit der subalternen Praxen, die der Souveränität uneinholbar voraus“ seien. Wie dies allerdings auf die frühere Diskussion rückwirkt wird nicht hinreichend klar.

Insgesamt hat Willenbücher ein interessantes und, trotz der Komplexität vieler der vorgebrachten Argumente, ein sehr lesbares Buch geschrieben. Besonders gelungen sind die Abschnitte über die staatliche Produktion von Illegalität und die Interpretation der Grenze: „Die Grenze atmet. Ihr Ziel ist nicht die Abschottung, sondern die Selektion und Filterung. Ihr Effekt ist die Produktion einer extrem flexibilisierten Arbeitskraft“ (S. 123). Daneben lassen andere Abschnitte Fragen offen.

Zunächst fällt eine gewisse Asymmetrie in der Behandlung der MigrantInnen als soziales Subjekt auf. Während in Kapitel 3 die Heterogenität der Gruppe der Illegalisierten betont wird, sprechen die späteren Teile zumeist generalisierend von den Illegalisierten. Angesichts der staatlichen Entrechtung und der Lager scheinen die Unterschiede zu verschwinden. Im Laufe des Buches werden Illegalisierte und MigrantInnen mitunter nahezu synonym verwendet. Bei den vielfältigen Dimensionen der in Kapitel 5 behandelten Fragen (von den Auswirkungen auf den Arbeitmarkt bis zu Schubhaftlagern) sollte jedoch klar sein, dass es sich je nach Fragestellung um recht unterschiedliche betroffene soziale Gruppen handeln kann.

Das Buch behauptet, dass “illegale Migration heute die dominante Form der Migration ist” (S. 9). Diese These erhält jedoch nicht die kritische Diskussion, die sie angesichts ihrer Zentralität für das Buch und ihrer Mehrdeutigkeit verdient hätte. Die These ist zweifellos korrekt aus der Sicht potenzieller MigrantInnen in Afrika oder Asien: für sie gibt es im Normalfall keine Alternative zur illegalen Immigration. Ob sie aus nationalstaatlicher Sichtweise (die der Autor als „methodologischen Nationalismus“ zurückweist) quantitativ korrekt ist, ist zweifelhaft: eine Mehrheit der Zuwanderung ist, auch wenn naturgemäß verlässliche Zahlen nicht verfügbar sind, vermutlich legal. [3] In Bezug auf die (derzeit) in der EU lebenden Migrantinnen ist sie quantitativ irreführend: Ein klarer Großteil der MigrantInnen (im Gegensatz zu den Neuzuwanderungen) ist legal. [4] Dies ist nicht notwendigerweise im Widerspruch zu Willenbachers These. Diese ist wohl, dass illegale Migration wegen ihrer großen gesellschaftlichen Ausstrahlungskraft „dominant“ wird. Was ist aber mit dominant gemeint? Dominant in Bezug worauf? Eine ausführlichere Diskussion wäre hier notwendig gewesen.

Willenbüchers Analyse verortet die Illegalisierung von MigrantInnen im Herz der staatlichen Souveränität (über den Ausnahmezustand) und der postfordistischen Produktionsweise (da über die Entrechtung der Prekarisierung Vorschub geleistet wird). Aus der Betonung der Illegalisierung durch den Staat könnte gefolgert werden, dass der Leidensweg der MigrantIn mit der Erlangung einer unbefristeten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ein Ende findet. Diese Interpretation ist vom Autor nicht beabsichtigt. Es bleibt jedoch der/dem LeserIn überlassen die Effekte der Illegalisierung auf die legalen MigrantInnen weiterzudenken. Ergibt sich beispielsweise eine einheitliche MigrantInnenschicht oder kommt es zu verstärkter Stratifizierung innerhalb der MigrantInnen?

Das Buch hat mehrere Leerstellen. So expliziert der Autor die politischen Konsequenzen seiner Analyse nicht. Theoretisch bleiben Klasse und vor allem Rassismus (bzw. deren Wechselwirkungen mit der staatlichen Illegalisierung) eigenartig unterbelichtet. Dies ist wohl Absicht, hinterlässt aber bei der/dem LeserIn den Eindruck der Unvollständigkeit der Analyse. Die Analyse des staatlichen Rassismus stößt ja bereits in den Lagern, in denen der Ausnahmezustand gilt, also einem Kernbereich der Analyse, an ihre Grenzen. Zurecht weist Willenbücher immer wieder auf die Übergriffe, Misshandlungen und Folterungen in den Lagern (bzw. bei der Abschiebung) hin. Der homo sacer scheint dort aber eine Hautfarbe zu haben: schwarz. Es geht also nicht nur um staatliche Migrationspolitik, sondern auch um Rassismus als sozial-psychologisches Phänomen.

Insgesamt liefert Willenbücher also neben überzeugenden Argumenten auch interessante Thesen, die der weiteren Untersuchung bedürfen. Angesicht der Wichtigkeit des Themas kann Mensch sich nur mehr solche anregenden Studien wünschen.

[1Das Buch hat einen impliziten Fokus auf Deutschland, mit diversen Exkursen in andere Länder. Angesichts des erklärten Fokus auf das EU Migrationsregime, gibt es bemerkenswert wenig Diskussion der EU Erweiterung.

[2Ein Vergleich zwischen der unterschiedlichen Politiken Deutschlands und Großbritanniens hinsichtlich Osteuropas (aus dem in beide Ländern nun die meisten MigrantInnen kommen), wäre in dieser Hinsicht interessant gewesen, wird aber im Buch nicht untersucht.

[3Die legale Zuwanderung nach Deutschland betrug 2005 rund 500.000 Menschen. Mir ist keine Quelle bekannt, die eine höhere Zahl für illegale Zuwanderung angibt. Beschränkt Mensch eine solche Rechnung auf die Zuwanderung aus nicht-neu Staaten (inkl. Ost-Europa), würde sich das Verhältnis jedoch vermutlich umdrehen.

[4Wiederum gibt es natürlich keine verlässlichen Zahlen. Die OECD (International Migration Outlook 2007) schätzt die legalen Migrantinnen für Deutschland auf rund 13% der Bevölkerung, die illegale Migration wird für Europa auf 1-3% der Bevölkerung. Willenbacher referiert ähnliche Zahlen.

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