„Das Volk gefällt mir aber nicht“
Ohne Polemik und mit Akribie beweisen Alan Horne und John Kramer, zwei Historiker des Trinity College in Dublin, in Deutsche Kriegsgreuel 1914 auf 700 spannenden Seiten, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist.
Nach der Erfahrung des Kriegs von 1870/71 — zentraler Referenzpunkt für die preußische Militärdoktrin, die sich jedoch bis 1914, wie Horne und Kramer darlegen, hin zu einer Ideologie des Vernichtungskriegs radikalisiert hat — war die Figur des „Franktireurs“, des nicht uniformierten, versteckten, aus dem Hinterhalt angreifenden „Freischärlers“ ein gängiges Stereotyp geworden. Es verband sich mit den aggressiven und zugleich paranoiden Zügen des deutschen Nationalismus, der Idee einer feindlichen „Einkreisung“ Deutschlands und der Bedrohung der völkischen Einheit durch „innere Feinde“ — nationale Minderheiten, Katholiken, Proletarier.
Diese verbreiteten Vorstellungen verdichteten sich zu einer kollektiven „Autosuggestion“ erschreckenden Ausmaßes, die zum Zeitpunkt der Invasion Belgiens und Nordfrankreichs im August 1914 allen auffindbaren Quellen nach eine reine Schimäre darstellte. Dennoch fand der an jeder Ecke lauernde, „feige und hinterhältige“ Franktireur über Berichte der militärischen Leitung vor Ort Eingang in die offiziellen Militärberichte, verbreitete sich über Medien und Postkarten im Hinterland. Diesen Fragen widmen Horne und Kramer einen wesentlichen Teil ihrer Studie. Sie beleuchten dabei sowohl den „Legendenkomplex“, die Erzählungen und Gerüchte über „belgische Gräuel“, deren Struktur immer wieder die gleiche ist, als auch die ideologischen und mentalitätshistorischen Voraussetzungen. Ein interessantes Detail: Die Autoren stellen einen Zusammenhang zwischen der deutschen Kolonialpolitik, im speziellen dem „Vernichtungsfeldzug gegen die Herero in den Jahren 1904 bis 1907“ (S. 253) und der gesteigerten Skrupellosigkeit in der Gewaltausübung gegen ZivilistInnen beim Einmarsch in Belgien her.
Im ersten Teil des Buchs richten Horne und Kramer ihre Aufmerksamkeit auf die konkrete Wirklichkeit der deutschen Invasion in Belgien, wo das deutsche Militär nach „Schlieffen-Plan“ unter Missachtung aller völkerrechtlichen Bestimmungen einmarschierte. Sie verarbeiten und vergleichen Archivmaterial aus acht Ländern und rekonstruieren minutiös aus den vorhandenen Quellen — die Akten des deutschen Generalstabs und der preußischen Armee wurden im Zweiten Weltkrieg vernichtet — die ersten drei Kriegswochen. Bereits in den ersten drei Tagen der Invasion, vom 5. bis zum 8. August, fanden Massenhinrichtungen von ZivilistInnen, Plünderungen und die Zerstörung von Dörfern statt, es wurden fast 800 Menschen umgebracht und 1300 Gebäude in Brand gesetzt.
Die feste Überzeugung, dass die deutschen Soldaten einem unkontrollierten „Volkskrieg“ gegenüber stehen, der von bewaffneten ZivilistInnen geführt werde, ließ jeden unkontrollierten Schuss, meist aus den eigenen Reihen, zu einem Vorwand für ein brutales Vorgehen gegen die Dorfbevölkerung werden. Erzählungen über „Gräuel“ an deutschen Soldaten — Mädchen oder alte Männer etwa, die den Soldaten die Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen hätten — folgte unmittelbar die „Vergeltung“. Laut Horne und Kramer wurden während der Invasion etwa 6.500 ZivilistInnen vorsätzlich von deutschen Soldaten getötet und mindestens 15.000 Häuser zerstört.
Die „Wahnvorstellung“ des Franktireur-Kriegs externalisierte die eigene Panik und „produzierte ein Bild des Feindes, das eine gewalttätige Entladung der Angst ermöglichte“ (S.158).
Dieses Vorgehen des deutschen Militärs führte bei den Alliierten zur Bestätigung der eigenen Position als „Kampf gegen die Barbarei“ und zu einer Propaganda-Kampagne über die „deutschen Gräuel“ — deren Darstellung sich ebenfalls zu „Legenden“ verselbständigt hatte —, die in den neutralen Ländern große Wirkung erzielte und der die deutsche Regierung und Militärführung nur wenig entgegenzusetzen hatte.
Horne und Kramer weisen darauf hin, dass es nach dem Krieg in den alliierten Staaten eine zunehmende Skepsis gegenüber den eigenen Darstellungen „deutscher Gräuel“ gegeben hat und diese als übertriebene Propaganda entlarvt wurden. Auch das stand einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der tatsächlichen Vorfälle im Weg. In Deutschland hingegen hielt sich — gestärkt durch die sogenannte „Schmach von Versailles“ und mangelndes Unrechtsbewusstsein — der „Franktireur-Mythos“ ganz allgemein als Hass gegen „irreguläre Kämpfer“ und als Rechtfertigung für Kriegsverbrechen.
John Horne, Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hamburger Edition: Hamburg 2004, 741 Seiten, Euro 41,20.