Demokratische Revolution oder Restauration?
Man muß sich auf die inneren Ursachen des Zusammenbruchs des „realen Sozialismus“ konzentrieren. Wo liegen sie? Die Anhänger der Theorie des „Kollapses“ bestehen vor allem auf der wirtschaftlichen Dimension dieses angeblichen Kollapses. Um die Gültigkeit dieser These zu überprüfen, werfen wir einen raschen Blick auf die Wirtschaftsgeschichte des wichtigsten Landes Osteuropas, sie dabei auf der Spur zweier amerikanischer, sicher keiner kommunistischer Sympathien verdächtiger Autoren rekonstruierend.
In den Jahren zwischen den beiden Kriegen sieht Paul Kennedy „Stalins Rußland sich rasch in eine wirtschaftliche Supermacht verwandeln“ (Kennedy, 1989, S. 24f). Gerade deshalb hat der aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Staat, trotz der Gebietsverluste durch den Frieden von Brest-Litowsk und der furchtbaren Zerstörungen, die der Erste Weltkrieg, der Bürgerkrieg und die Intervention der Entente hervorgerufen hatte, da Erfolg, wo das Zarenreich gescheitert war: das heißt Deutschland entgegenzutreten und es zu besiegen, das außerdem zum Zeitpunkt der Operation Barbarossa praktisch auf das produktive Potential des ganzen, unter der Führung des Dritten Reichs geeinten Europas rechnen konnte. Gewiß ist nach dem Frieden eine enorme Anstrengung für den Wiederaufbau vonnöten, wenn man bedenkt, daß „noch einmal die russische Wirtschaft wegen eines Krieges um zirka ein Jahrzehnt zurückversetzt wurde“; so kommt es zu „einem ,kleinen Wirtschaftswunder‘ was die Schwerindustrie betrifft, beinahe mit einer Verdoppelung der Produktion zwischen 1945 und 1950“ (Kennedy, 1989, S 499).
Wirtschaft und Ideologie während des Niedergangs des „realen Sozialismus“
Betrachten wir aber die weiteren Entwicklungen. „In den fünfziger Jahren wuchs die Sowjetunion schneller als die Vereinigten Staaten. Projiziert man die Wirtschaftstendenzen in die Zukunft, so hätte das russische Bruttosozialprodukt (BSP) im Jahre 1984 das der Vereinigten Staaten überflügelt“ (Thurow, 1992, S. 11). Zwar stimmt es, daß die Dinge sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entschieden weniger gut für die Sowjetunion entwickelten, aber nichts läßt an die Katastrophe denken. Zum Zeitpunkt, zu dem Gorbatschow an die Macht kommt, kalkuliert die CIA, daß sich die Wirtschaft der UdSSR von 1975 bis 1985 mit einer jährlichen Steigerungsrate von 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent der USA entwickelt habe. „Mitte der achtziger Jahre entwickelte sich die UdSSR noch besser. 1983 erzielt sie eine Steigerungsrate von 3,3 Prozent und 1986 wird ein noch besseres Resultat, 4,1 Prozent erreicht. Es gab keine Zeichen eines Kollapses. Im Gegenteil, dies ist der Zeitraum, in dem die Pläne des Präsidenten Reagan für das Programm der Star Wars das amerikanische politische Notizbuch füllen“.
Damit ist „das plötzliche Verschwinden des Kommunismus nicht weniger mysteriös als 770 Jahre vorher der Rückzug Dschingis Khans aus Europa“ (Thurow, 1992, S. 12f). Lassen wir den legendären mongolischen Kondottiere einmal beseite, der in Wirklichkeit auch in Rußland eingefallen war, weshalb es lächerlich ist, ihn mit den russischen oder sowjetischen Führern vergleichen zu wollen, fest steht, daß die Theorie des wirtschaftlichen Kollapses nichts erklären kann.
Natürlich kann man den statistischen Angaben über die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR die Realität der erschreckenden Mißverhältnisse zwischen (militärischer) Schwerindustrie und Leichtindustrie (Konsumgüter) entgegenhalten. Dieses erklärt sich einerseits aus dem der UdSSR praktisch im Verlauf ihrer ganzen Existenz von der kapitalistischen Welt aufgezwungenen Belagerungszustand, andererseits aus den hegemonischen Tendenzen, die sich schließlich innerhalb des „kommunistischen Lagers“ entwickelt haben. Dieses Mißverhältnis rückt also ein eher politisches als wirtschaftliches Problem in den Vordergrund. Wenn wir dann über die katastrophalen Folgen der von Osteuropa durchgemachten Veränderungen reflektieren, die einige jener Länder in Richtung Dritte Welt bringt, dann werden wir uns endgültig klar darüber, daß die Wirtschaft nicht die Erklärung für den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ abgeben kann.
Anderswo muß man nachforschen. Zunächst muß eine einleitende methodologische Überlegung angestellt werden. Will man die Geschichte eines Scheiterns rekonstruieren, so muß man sich davor hüten, den Werdegang dem Endergebnis anzugleichen. Noch in den fünfziger Jahren stößt die Sowjetunion auf einen breiten Konsens im Inneren und übt eine beträchtliche Anziehungskraft auch außerhalb ihrer Grenzen aus. Es sind das die Jahre, in denen Sacharow noch nicht zum erbitterten „Dissidenten“ geworden ist und in denen das englische Ehepaar Webb von der Labour-Party vom „sowjetischen Kommunismus“ als von einer „neuen Kultur“ spricht; es sind die Jahre, in denen Harold J. Lasky, auch er maßgeblicher Exponent der Labour-Party, seine Bewunderung für den gigantischen Prozeß der Einschulung und Bildung und die außerordentliche soziale Mobilität in der Sowjetunion zum Ausdruck bringt. Jahre, in denen selbst Bobbio über die neue Gesellschaft das schmeichelhafte Urteil formuliert, das wir oben zitiert haben. (Betreffende Textstelle aus dem ersten Teil: (...) als er — Norberto Bobbio — den an der Macht befindlichen kommunistischen Parteien das Verdienst zuschrieb, „eine neue Phase bürgerlichen Fortschritts in politisch rückständigen Ländern“ eingeführt zu haben, und als er sogar soweit ging, zu erklären, daß es nunmehr darum gehe, die Spielregeln und die formellen Garantien „in den sozialistischen Staat“ zu verpflanzen, der dazu aufgerufen sei, „einen Tropfen Öl in die schon vollendete Revolutionsmaschine zu gießen“, deren Errungenschaften daher als unverzichtbar zu betrachten seien (Losurdo, 1993 a, S. 245f).)
Die von der UdSSR und den „Bruderländern“ an den Tag gelegte Unfähigkeit, vom Ausnahmezustand zur Normalität überzugehen, dabei auf dem Weg der Demokratisierung und der Formalisierung und der Beachtung der Spielregeln voranschreitend, all das hat stark dazu beigetragen, das innere und das internationale Prestige des aus der Oktoberrevolution entstandenen Landes auszuhöhlen. Den Gnadenstoß hat vielleicht das progressive Hervortreten der Großmacht-Arroganz und der hegemonischen Bestrebungen des Großen Bruders gegeben. Es ist kein Zufall, daß die von Reagan und Johannes Paul II. vereinbarte Operation in erster Linie Polen zum Ziel hat, das Land, das vielleicht schmerzlicher als alle anderen das Gewicht der von der UdSSR auferlegten Unterdrückung und nationalen Demütigung verspürte. Ebenso wie die Revolution siegt auch die Konterrevolution, indem sie das schwächste Glied der Kette zerbricht, das Glied, in dem sich, neben vielen anderen, auch der nationale Widerspruch konzentriert (Losurdo, 1993b, Kap. VII).
Den hier und anderwärts von mir dargelegten politischen Gründen ist ein anderer, ideologischer im eigentlichen Sinne hinzuzufügen, der, wie mir scheint, bisher noch nie in Betracht gezogen worden ist. In den fünfziger Jahren (die sich, wie gesagt, durch für die UdSSR vielversprechende wirtschaftliche Entwicklungsrhythmen auszeichneten), proklamiert Chruschtschow das Ziel, gleichzeitig den Kommunismus und die Überholung der USA zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt ist der „reale Sozialismus“ ideologisch in der Offensive, so daß das Schicksal des Kapitalismus auf dem Gebiet der Geschichte und der Philosophie der Geschichte schon vorgezeichnet scheint. Die darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte beweisen den unrealistischen Charakter dieser Anschauung. Dazu gezwungen, ihre ehrgeizigen Ziele drastisch herabzuschrauben, erweist sich die Sowjetunion nicht in der Lage, eine Bilanz ihrer Geschichte aufzustellen und ein tiefes Überdenken ihrer Ideologie vorzunehmen. Ihre Führungsspitze versichert weiterhin, rasch auf die Verwirklichung eines Kommunismus zuzuschreiten, dessen phantastische Definition uns Marx und Engels in der Deutschen Ideologie geben: „In der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (MEW, Bd. 3, S. 33).
Wenn wir diese Definition übernehmen, dann setzt also der Kommunismus eine Entwicklung der Produktivkräfte voraus, die so außerordentlich ist, daß sie die Probleme und Konflikte, die die Verteilung des sozialen Reichtums und damit die Arbeit betreffen, die außerdem die Messung und die für die Produktion notwendige Kontrolle der Arbeit betreffen, beseitigt. So vorgestellt, scheint der Kommunismus das Verschwinden nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeitsteilung und in Wahrheit der Arbeit selbst, letzten Endes das Dahinschwinden jeder Form von Macht und Verpflichtung vorauszusetzen. Außerdem wird der Übergang zum Kommunismus von Marx und Engels als eine kurze oder sogar sehr kurze und relativ schmerzlose Periode angesetzt. Jahrzehnte reicher historischer Erfahrung hätten ein globales Überdenken dieser Themen und Probleme anregen sollen. In Wirklichkeit ist man nicht weit über die Bemühungen Lenins hinausgegangen, um die Theorie der sozialistischen Revolution neu zu formulieren und um sich gewissermaßen von dem langwierigen und komplexen Weg des Übergangs zu überzeugen; was fehlte, war das (absolut notwendige) radikale Überdenken der Theorie des Sozialismus und Kommunismus, der postkapitalistischen Gesellschaft insgesamt.
Je mehr die Erreichung des Kommunismus in eine ferne und unwahrscheinliche Zukunft entrückte, desto klarer wurde es, daß dem „realen Sozialismus“ jede mögliche Legitimation fehlte. Als die der Philosophie der Geschichte wegfiel, die auf das Entstehen einer völlig im Einklang lebenden Gesellschaft Bezug nahm, konnte eine Nomenklatura, die nach und nach immer autokratischer und immer korrupter wurde, gewiß nicht die nunmehr universale Legitimation unserer Zeit erhalten, eine Legitimation, die auf Demokratie und Volkssouveränität beruht. Außerdem untergrub der „reale Sozialismus“ mit seinen eigenen Realisierungen die Grundlagen seiner Existenz: die Welt der Konzentrationslager wurde immer unerträglicher für eine Gesellschaft, die dank der Massenschulbildung und der Verbreitung der Kultur und auch dank der Erlangung eines Minimums an sozialer Sicherheit immer selbstbewußter wurde. Wenn es in Osteuropa einen „Kollaps“ gegeben hat, dann ist er viel eher ideologischer als wirtschaftlicher Art.
Als die Schwierigkeiten innerhalb des „sozialistischen Lagers“ immer deutlicher wurden, erfuhr die wirtschaftliche Entwicklung eine Verlangsamung und die These der Philosophie der Geschichte hinsichtlich der unvermeidlichen (und kurz bevorstehenden) Krise des Kapitalismus geriet selbst immer mehr in die Krise. Als der Konsens immer geringer und der gewaltige Repressionsapparat mit steigender Unduldsamkeit ertragen wurde, wiederholte die sowjetische Führungsschicht trotz allem noch zu diesem Zeitpunkt immer lustloser ihr Stoßgebet über das Aufkommen des in der phantastischen Weise konzipierten Kommunismus, von der wir schon gesprochen haben. Und diese Stoßgebete übten ihrerseits einen sehr negativen Einfluß auf die Wirtschaft aus: die inzwischen offensichtlichen Versäumnisse und Mißverhältnisse erforderten energische Eingriffe, um die Arbeitsproduktivität anzukurbeln. Sicher wurde die Lösung dieses Problems nicht durch die Auffassung erleichtert, man bewege sich in Richtung auf einen von allgemeiner Müßigkeit gekennzeichneten Kommunismus, und auch nicht von dem verbreiteten ideologischen Klima, das als „Restauration des Kapitalismus“ alle Versuche abstempeln wollte, den Produktionsprozeß zu rationalisieren.
In gewissem Sinn hat sich der „reale Sozialismus“ als unfähig erwiesen, von der ideologischen Offensive zur Defensive überzugehen; er war auch nicht imstande, der immer bedrohlicheren Offensive des Westens irgendeine Ideologie oder Widerstandslinie entgegenzusetzen. Keinerlei Glaubwürdigkeit mehr hatten die Erklärungen über das Aufkommen einer Gesellschaft ohne Staat, ohne Arbeitsteilung und Arbeitskontrolle, einer Gesellschaft, die die Erfüllung aller Bedürfnisse gewährleisten würde. Die anfängliche Utopie hatte sich in eine Staatstheologie verwandelt, an die nicht einmal mehr die Priester glaubten, die den Auftrag hatten, sie zu proklamieren. So erklärt sich die kompakte Konversion leitender „kommunistischer“ Funktionäre und Gruppen zum Westen und sogar zum Neo-Liberalismus, die zur Konversion im übrigen auch vom Wunsch geleitet wurden, ihre Privilegien zu konsolidieren und am Reichtum und Glück des Kapitalismus nach dem mythisch verklärten Bild dieses Systems teilzuhaben, das die mächtigen westlichen Massenmedien unermüdlich verbreiteten.
Wir sprachen schon von dem tiefen Einfluß, den der russische Oktober auf den Westen ausgeübt hatte. Was ist dann aber geschehen? Dem kapitalistischen System, das sich durch die Übernahme von Elementen verstärkt hatte, die es dem idealen und politischen Gepäck der kommunistischen und Arbeiterbewegung und auch dem sich nach der bolschewistischen Revolution entwickelnden sozialen System entnommen hatte, war es seinerseits gelungen, eine starke Anziehung auf die Bevölkerung Osteuropas auszuüben, eine Anziehung, die sich nicht nur wegen des Fehlens einer wirksamen ideologischen Widerstandslinie seitens des „realen Sozialismus“, sondern auch aus einem anderen Grunde als unwiderstehlich erwiesen hat. Gerade die Revolution hatte in jenen Ländern auch die rückständigsten Massen ihrer traditionellen Schläfrigkeit und Passivität entrissen, bei ihnen Hoffnungen und Erwartungen hervorgerufen, die sie bisher nie zu hegen gewagt hatten, Hoffnungen und Erwartungen, die zu erfüllen die neuen Gesellschaften nicht imstande waren; dies geschah nicht nur wegen der großen Fehler, sondern auch wegen der Rückständigkeit, die auf ihnen lastete und deren Überwindung zunächst von der offenen militärischen Aggression und in der Folgezeit von der technologischen Quarantäne und von anderen, von den kapitalistischen Ländern unternommenen politischen und militärischen Initiativen noch erschwert wurde. Das Ergebnis war die akritische Massenzustimmung zu einem kitischi- gen und mythisch verklärten Bild des Kapitalismus. Ein amerikanischer Wissenschaftler hat belustigt beobachten können, daß „die meisten Leute hier (in Osteuropa) glauben, freier Markt bedeute, daß die Geschäfte voll und die Arbeit leichter sei. Sie haben keine Ahnung davon, was er wirklich bedeutet“, sie sind sich nicht klar darüber, oder besser sie waren sich nicht klar darüber, daß die leichten Arbeitsrhythmen des „realen Sozialismus“ durch weitaus schärfere ersetzt werden mußten, sie verstanden nicht, daß viele, vom vorangegangenen Regime garantierte „wichtige Bedarfsgüter“ ziemlich problematisch werden sollten (Thurow, 1992, S. 96f u. 87). Sie hatten keine Vorstellung vom Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Sie ließen sich vom Mythos des Westens gerade zu einem Zeitpunkt mitreißen, zu dem auch dieser die von der Arbeiterbewegung und von der Herausforderung des russischen Oktober abgerungenen Errungenschaften in Frage stellte.
Der Zusammenprall mit der Wirklichkeit hat rasch zu einer bitteren Enttäuschung geführt. In Polen „greift die Sehnsucht nach der Vergangenheit um sich“; „die Mehrheit meint, daß Walesa gehen müsse, daß Jaruzelski an der Spitze des Landes viel besser wäre und blickt auf die Streitkräfte — die Organisatoren des Putsches von 1981 — als auf den solidesten und beruhigendsten Bezugspunkt“ (P. Benetazzo in »La Repubblica« vom 7. Februar 1992). Wie uns auch die Ergebnisse der letzten Wahlen zeigen, gibt es eine Meinungsänderung selbst in dem Land, das mit seiner Rebellion und seinem nationalen Protest den Anfang vom Ende des „realen Sozialismus“ anzeigte. Wenn sich diese Meinungsäußerung politisch noch nicht adäquat artikuliert, so liegt das auch daran, daß es den Kommunisten bisher noch nicht gelingt, ihre Identität neu zu definieren, und das begünstigt die Vorherrschaft einer Philosophie der Geschichte, die, unter Umkehrung der in den ersten Jahren der Nachkriegszeit weit verbreiteten These, die Unübertrefflichkeit des Kapitalismus und damit die Unvermeidlichkeit seines Sieges in der ganzen Welt proklamiert.
Sozialismus und Staatskapitalismus
Nicht nur die herrschende Ideologie weist die hier dargelegte These der Restauration in Osteuropa zurück, sondern auch eine Linke, die darum bemüht ist, aufzuzeigen, daß die in Rußland mit der Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiken begonnene Epoche nichts anderes als ein Kapitel der Geschichte des Kapitalismus mit ganz besonderen Charakteristiken gewesen sei, da in diesem Land niemals ein wirklich alternatives soziales System aufgetreten wäre, und weil der ausgerufene Sozialismus nichts anderes repräsentiert hätte, als einen monopolistischen Staatskapitalismus. Trotz der scheinbar radikal angehauchten Töne haben wir es hier mit einer im Grunde genommen neo-menschewistischen Lesart der Geschichte zu tun, die aus der Rückständigkeit und Unreife der objektiven Lage Rußlands den unvermeidlich kapitalistischen Ausgang einer Revolution ableitet, die von ganz anderen Idealen und Zielen geleitet war. Allerdings umgeht diese Lesart einige grundlegende politische und theoretische Kernpunkte. Welche Aufgabe hatte nach dem Februar 1917 die russische Arbeiterbewegung und eine starke, sich auf den Marxismus und den Sozialismus berufende Partei? Sicher konnte die Aufgabe nicht darin bestehen, weiterhin den imperialistischen Krieg und ein Massaker zu erdulden, das sowohl nach der Anklage Lenins als auch der Rosa Luxemburgs einen „Völkermord“ darstellte. Es war gerade der Kampf für den Frieden, der die Machteroberung erforderte, und zu den Verdiensten des russischen Oktobers gehört es, ein Jahr nach seinem Ausbruch die Novemberrevolution in Deutschland angespornt und damit das Ende eines endlos langen Konflikts beschleunigt zu haben.
Was war jedoch mit der eroberten politischen Macht anzufangen? Schon im März 1918 lenkt Lenin die Aufmerksamkeit darauf, daß sich die sozialistische Revolution radikal von der bürgerlichen unterscheidet. Letztere wachse „aus dem Feudalismus hervor“ und zwar in dem Sinne, daß schon vor der Machtergreifung durch die Bourgeoisie „im Schoße der alten Ordnung die neuen Wirtschaftsorganisationen allmählich entstehen, die nach und nach alle Seiten der feudalen Gesellschaft ändern“. Die siegreiche Bourgeoisie „stand nur vor einer Aufgabe: alle Fesseln der früheren Gesellschaft hinwegzufegen, beiseite zu werfen, zu zerstören“, um weiterhin „das Wachstum des Kapitalismus“ zu fördern. In einer „ganz anderen Lage“ befindet sich dagegen die sozialistische Revolution, die „fertige (gesellschaftliche) Verhältnisse nicht vorfindet“ und die sich daher nach dem politischen Sieg dem Problem des „Übergangs von den alten, den kapitalistischen Verhältnissen, zu sozialistischen“ stellen muß (LW, Bd. 27, S. 75f). Unter diesem Gesichtspunkt kann die sozialistische Revolution nie auf das Reifwerden der objektiven Bedingungen rechnen oder jedenfalls nie in dem Maße, in dem es die bürgerliche Revolution tun kann.
Man sollte sich den Zeitpunkt vor Augen halten, zu dem Lenin diese wichtige Überlegung anstellt. Wenige Wochen sind seit dem Oktober verstrichen und die Hoffnungen auf eine Ausbreitung des revolutionären Brandes in Richtung Westen und in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern sind groß. Dennoch besteht Lenin darauf, die Besonderheit und die besonderen Schwierigkeiten der sozialistischen Revolution hervorzuheben, die mühsam und progressiv die neuen sozialen Verhältnisse in einem vollkommen fremden Bereich einführen muß. Dies bedeutet, daß in einer ganzen historischen Phase, deren Dauer man jetzt noch nicht festsetzen kann, vollkommen heterogene Besitz- und Wirtschaftsformen koexistieren. Wenn dem so ist, dann versteht man, wie dogmatisch die Position derjenigen ist, die glauben, die mit dem russischen Oktober begonnenen Geschehnisse als ein besonderes Kapitel der Geschichte des Kapitalismus lesen zu können, indem sie sich abmühen, all das aufzuzählen, was in der Sowjetunion nicht sozialistisch war. In Wirklichkeit tritt schon in der Marxschen Konfiguration der Sozialismus als etwas Gemischtes auf, in dem Sinne, daß in seinem Bereich, trotz der Übernahme der politischen Macht durch eine zur Realisierung des Kommunismus entschlossene Arbeiterklasse, weiterhin das „bürgerliche Recht“ gilt, das die Arbeitsteilung und die Entlohnung der Arbeit regelt. (MEW, Bd. 19, S. 20f). Selbst unter den besonders günstigen und sogar irrealistischen Bedingungen, die die Kritik des Gothaer Programms voraussetzte (sofortige, vor jedem äußeren Druck und vor jedem internationalen Konflikt geschützte Kollektivierung der Produktionsmittel in den wichtigsten kapitalistischen Ländern), gibt es keinen Platz für die „Reinheit“ des Sozialismus. Es muß kaum darauf hingewiesen werden, daß der Übergang zur neuen Gesellschaft sich um so gewundener und komplexer erweist, „je rückständiger das Land ist, das infolge der Zickzackwege der Geschichte die sozialistische Revolution beginnen mußte“ (LW, Bd. 27, S. 5) und je ungünstiger und dramatischer der internationale Zusammenhang ist, in dem die Revolution agieren muß.
Der Zwitternatur der für die sozialistische Übergangsphase typischen sozialen Verhältnisse Rechnung tragend, zählt Lenin im Mai 1918 die „verschiedenen Typen ökonomischer Gesellschaftsstruktur“ auf, die es im sowjetischen Rußland gebe: „1.) Die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist; 2.) die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern, die Getreide verkaufen) [die das herrschende Element bilden]; 3.) der privatwirtschaftliche Kapitalismus; 4.) der Staatskapitalismus; 5.) der Sozialismus“.
Aber all das beunruhigt den großen Bolschewisten nicht, der hervorhebt, daß die Kategorie „Übergang“ das gleichzeitige Vorhandensein von „Elementen, Teilchen, Stückchen sowohl des Kapitalismus als auch des Sozialismus“ und in Wirklichkeit auch vorkapitalistischer Verhältnisse bedeute (LW, Bd. 27, S. 328).
Das ist ein theoretisches Ergebnis, das diejenigen, die den russischen Oktober als ein besonderes Kapitel der Geschichte des Kapitalismus interpretieren, problemlos übergehen. Der Rückgriff auf die Kategorie Staatskapitalismus scheint nicht so sehr auf die Erklärung, als vielmehr auf die Auslöschung des konkreten geschichtlichen Prozesses abzuzielen, in dem Sinne, daß die unterschiedlichsten politischen Realitäten und die schärfsten Konflikte in einer Nacht verschwinden, in der alle Katzen grau sind. Einen Wendepunkt in der modernen Geschichte bildet die Überwindung der patrimonialen Staatsauffassung (Staat, der je nach Belieben des Besitzers, wie jeder Privatbesitz, erblich übertragbar und aufteilbar ist). Aber was sollten wir von einem Gelehrten sagen, der vom Verbleiben und sogar vom Erstarken des Staates in der Neuzeit und davon ausgeht, daß das Individuum weiterhin einem Machtapparat ausgeliefert und untergeordnet bleibt, und der dann die These formuliert, daß mit dem Untergang der feudalen Gesellschaft und der patrimonialen Staatsauffassung nichts Neues unter der Sonne geschehe? In Wirklichkeit impliziert dieser Untergang enorme Veränderungen. Einerseits beschwört er das Gespenst des Leviathan (er läßt die neue Gefahr einer politischen Macht auftauchen, die eine bisher unbekannte Kraft und Kontrollfähigkeit hat), andererseits bildet er die Voraussetzung für die Bestätigung der modernen Figur des Individuums und des Menschen, der Rechte hat, die er in der politischen Wirklichkeit geltend machen möchte. Wer nicht auf dem mythischen Gesichtspunkt des nihil sub sole novi stehenbleiben will, sollte sich dafür einsetzen, die neuen Veränderungen, die neuen Gefahren (die weitere Ausdehnung des Leviathan) und die neuen Emanzipationsmöglichkeiten zu untersuchen, die die Durchsetzung eines angeblich monopolistischen Staatskapitalismus mit sich bringt: selbst wenn er die Machtverhältnisse innerhalb der Fabrik unverändert ließe, würde die Überwindung des Privatbesitzes der Produktionsmittel das Überleben der Bourgeoisie als sozialer Klasse erschweren; und das vor allem, wenn man bedenkt, daß auf ihr ständig die Gefahr einer politischen Macht lasten wird, der inzwischen das Recht und die Aufgabe zuerkannt worden ist, die Produktionsmittel zu kontrollieren.
Bisher haben wir vom monopolistischen Staatskapitalismus im allgemeinen gesprochen. Aber das zur Frage stehende Problem muß weiterhin präzisiert werden. Welche neuen Widersprüche und welche neuen Emanzipationsmöglichkeiten ergeben sich mit einem Staatskapitalismus, der keiner bürgerlichen Macht, sondern einer von kommunistischen Idealen inspirierten Partei unterworfen ist? Hier liegt der von den „Reinheits“-Fanatikern peinlich umgangene Punkt, auf den Lenin jedoch schon vor der Oktoberrevolution hinweist. Sogar in einem Staat, der nicht von einer kommunistischen Partei kontrolliert wird, der aber „revolutionär-demokratisch“ in dem Sinne ist, daß er „in revolutionärer Weise alle Privilegien abschafft“, und der „sich nicht davor fürchtet, auf revolutionäre Weise den Demokratismus voll und ganz zu verwirklichen“, sogar in einem solchen Staat bedeutet „der staatsmonopolistische Kapitalismus ... unweigerlich, unvermeidlich einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin“ (LW, Bd. 25, S. 368). Das gelte um so mehr für einen von einer kommunistischen Partei kontrollierten Staat, hebt der große Bolschewik nach der Machtergreifung gegen diejenigen (mehr noch gegen die Menschewiki als gegen die „linken Kommunisten“) hervor, die „das Schreckgespenst des ,Staatskapitalismus‘“ an die Wand malen, um letzten Endes die Vergeblichkeit der Oktoberrevolution zu behaupten (LW, Bd. 27, S. 335 und S. 327).
Nicht nur Lenin, sondern auch Mao (zumindest der Mao vor der Kulturrevolution) haben im Staatskapitalismus (oder in einem, je nach den Umständen, mehr oder weniger breiten Sektor der öffentlichen Wirtschaft), der von einer kommunistischen oder Arbeiterpartei kontrolliert wurde, eine Voraussetzung oder ein konstitutives Element des Prozesses des Aufbaus des Sozialismus erblickt. 1953 hatte Mao erklärt: „Die Umwandlung des Kapitalismus in Sozialismus erfolgt durch den Staatskapitalismus“, und ein paar Jahre später: „Wenn wir ein bißchen Geld ausgeben, kaufen wir uns diese Klasse“, die nationale Bourgeoisie, deren Produktionsmittel öffentliches Eigentum wurden, die aber feste Zinsen für Kapital und Eigentum erhielt, und die daher im Produktionsprozeß weiterhin eine Rolle spielte (MW, Bd. 5, S. 119 und S. 387).
Diese Ungleichmäßigkeit und dieser Widerspruch zwischen Wirtschaft und Politik wird von links und rechts zum Vorwand genommen, um zu unterstreichen, daß die Bourgeoisie und der Kapitalismus trotz der Revolution weiter existieren. Aber diejenigen, die das behaupten, sind nicht in der Lage, die Charakteristiken der Übergangsphase zu verstehen, deren sich hingegen Gramsci bewußt war, der im Jahre 1926 einen „nie in der Geschichte gesehenen“ Tatbestand anmerkte: eine politisch „herrschende Klasse“ befand sich „insgesamt“ in „Lebensbedingungen, die unter denen standen, die bestimmte Elemente und Schichten der beherrschten und untergeordneten Klasse kennzeichneten.“ Dies war aber notwendig, weil das Proletariat die Macht weder ergreifen noch beibehalten kann, wenn es nicht in der Lage ist, besondere und unmittelbare Interessen den „allgemeinen und andauernden Interessen der Klasse“ zu opfern (CPC, S. 129f).
In gewissem Sinn hat die heutige chinesische Führungsschicht nur die von Mao in den fünfziger Jahren aufgezeigte politische Linie auf breiterer Skala angewandt (mit den Problemen und Widersprüchen, die das mit sich bringt). Natürlich kann der Übergang zum Sozialismus vermittels eines breiten Sektors der von einer kommunistischen Partei kontrollierten Wirtschaft in öffentlicher Hand einer Unterbrechung oder einer mehr oder weniger drastischen Repression unterworfen sein (und in diesem Zusammenhang spielen, abgesehen von der Wirtschaft, relevante, eindeutig politische Faktoren, wie der Grad der demokratischen Beteiligung, die Zusammensetzung und die ideologische Formierung der Führungsgruppe und ihre Beziehung zu den Massen usw. eine Rolle). Man sollte auch nicht vergessen, daß der Übergangsprozeß, wie der Zusammenbruch in Osteuropa gezeigt und Mao Zedong gut verstanden hat, immer reversibel ist. Keinen Sinn hat es, wie es hingegen die „Puristen“ tun, das unbeständige Gleichgewicht der Übergangsphase in eine stabile wirtschaftlich-soziale Formation, in den monopolistischen Staatskapitalismus, zu verwandeln, der als Unterart des Kapitalismus ohne Beziehung zum Sozialismus aufgefaßt wird.
Die Theorie, die die mit dem russischen Oktober begonnenen Geschehnisse mit einem Kapitel der Geschichte des Kapitalismus gleichsetzt, ist nicht in der Lage, die Geschichte und die wirklichen Widersprüche des 20. Jahrhunderts zu erklären. Marx stellt sich das Problem, warum es den Jakobinern, trotz der leidenschaftlichen revolutionären Hingabe und trotz des Terrors, auf den sie zurückgreifen, nicht gelingt, die ersehnte Wiederherstellung der antiken polis zu verwirklichen, und er erklärt diesen Mißerfolg mit dem irrealen und utopistischen Charakter des politischen Programms Robespierres. Die linken Liquidatoren der Geschichte des „realen Sozialismus“ fragen sich nicht einmal nach den Gründen, die die Kommunisten in den verschiedenen Ländern, gegen ihren Willen, schließlich dazu geführt haben sollten, einen monopolistischen Staatskapitalismus hervorzubringen. Sie stellen sich nicht einmal die Frage nach dem eventuell irrealistischen und utopischen Charakter der Idee von Sozialismus und Kommunismus, die sich bei den Klassikern findet und die dann von den Bolschewisten und von den anderen Protagonisten der Revolutionen übernommen worden ist, die sich unter der Fahne des Marxismus und des Kommunismus entwickelt haben. Sich diese Frage nicht stellend, enden die Anhänger der Theorie des monopolistischen Staatskapitalismus praktisch damit, die These vorauszusetzen, wonach ganze kommunistische Führungsschichten im gesamten Bereich des „realen Sozialismus“ und praktisch in der ganzen Zeitspanne seiner Entwicklung die Marxsche Lehre mißverstanden oder verraten hätten. Es ist kaum möglich, sich eine dem Historischen Materialismus schärfer widersprechende These vorzustellen, die gleichzeitig um so schmeichelhafter für diejenigen ist, die sich selbst zu einmaligen und zu den einzigen unbestechlichen Interpreten einer Art heiliger Lehre erklären: Aber die Theorie des Staatskapitalismus kann nicht einmal den Zusammenbruch des bis vor kurzer Zeit in Osteuropa bestehenden Systems erklären: wie kommt es, daß sich die neue Führungsschicht zu einem Privatisierungsprozeß der Wirtschaft und zu einem sogar schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus genötigt sieht, obwohl dieser gefährliche Proteste der Volksmassen auszulösen droht? Tatsache ist, daß der öffentliche Besitz der Produktionsmittel verbunden mit der Proklamation des Rechts auf Arbeit und der anderen wirtschaftlichen und sozialen Rechte die Herausbildung einer Reserve-Lohnarmee, die „freie“ Disponibilität der Arbeitskraft und die „freie“ Intensivierung der Arbeitsrhythmen, die die neue Bourgeoisie unbedingt braucht, unmöglich machte oder stark behinderte.
Für eine Neudefinition des „Kommunismus“
Wir sprachen vom extrem komplexen Charakter des Übergangsprozesses. Aber Übergang wozu? Von ihren marxistischen Überzeugungen ausgehend, haben sich die Protagonisten der sozialistischen Revolutionen dieses Jahrhunderts in Wahrheit mit dem Problem eines doppelten Übergangs konfrontiert gesehen: vom Kapitalismus (vielmehr oft von vorkapitalistischen sozialen Verhältnissen) zum Sozialismus und vom Sozialismus zum Kommunismus. War es ihnen auf der Grundlage der historischen Erfahrung gelungen, mehr oder weniger tief den ersten Übergang neu zu überdenken (der von Marx und Engels als ein kurzer, schmerzloser und irreversibler Vorgang vorgestellt wird), so war es ihnen dagegen nicht gelungen, das Gleiche durchzuführen, was den zweiten Übergang betrifft. Es war ihnen nicht gelungen, die beiden Übergänge in einem einzigen Prozeß zu vereinen, dessen Ziel, der Kommunismus, weiterhin so utopistisch konzipiert wurde, daß es den Prozeß des Aufbaus der postkapitalistischen Gesellschaft und ihre korrekte Widerspiegelung im Bewußtsein der Menschen stark beeinträchtigte. Mit ihrem dogmatischen Festhalten an einer akritischen Utopie präsentieren die Anhänger der Theorie des monopolistischen Staatskapitalismus als Abhilfe für den im Osten stattgefundenen Zusammenbruch gerade die Utopie, die eine seiner entscheidenden Ursachen war.
Gewiß, wenn wir das mit dem Oktober begonnene historische Geschehen mit der schon zitierten Definition von Kommunismus vergleichen, die sich in der Deutschen Ideologie findet („morgens zu jagen und abends zu fischen.“), dann erscheint alles Lichtjahre weit entfernt nicht nur vom Kommunismus, sondern auch von der kurzen sozialistischen Übergangsphase, die zum Kommunismus hinführen sollte, und die daher jene völlig neuen sozialen Verhältnisse gewissermaßen schon in sich tragen sollte, die zu verwirklichen sie berufen ist. In diesem Fall macht man einen akritischen Gebrauch von der Utopie, in dem Sinne, daß diese, durch Kontrasteffekt, das Gegenwärtige und wirklich Mögliche auf eine unförmige und völlig wertlose Masse reduziert. Ebenso wie im Bereich des Christentums alle Menschen Sünder sind, weil sie alle unendlich weit entfernt von der absoluten moralisch utopistischen Vollkommenheit Gottes sind, so erscheint angesichts einer so emphatisch utopi- stischen Definition von Kommunismus alles in einem Lichte unabänderlicher Misere (der „reale Sozialismus“ ebenso wie bürgerliche Demokratie oder Faschismus). Es hat daher keinen Sinn, zwischen den unterschiedlichen Phasen und den verschiedenen Aspekten des mit dem Oktober begonnenen Geschehens zu unterscheiden und die Frage nach der Aufstellung einer Bilanz der Vorstöße und der Rückzüge, der Fehler, der Schrecken und der Erfolge, die es begleitet haben, aufzuwerfen. Aber nur wenige Seiten nach der oben zitierten gibt die Deutsche Ideologie eine ganz andere und mit der vorhergehenden schwer in Einklang zu bringende Definition von Kommunismus: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (MEW, Bd. 3, S. 35).
Man muß sich daher fragen, ob das mit dem Oktober begonnene historische Geschehen, die Erfahrung des „realen Sozialismus“ mit allen ihren Fehlern und Schrecken, unter die reale Bewegung der Emanzipation subsumierbar ist, die den Kommunismus kennzeichnet. Und man muß sich auch fragen, ob unter diese Definition heute die Versuche, die Experimente, die Kämpfe subsumiert werden können, die China, Korea, Kuba, Vietnam (um nicht von Laos, Kambodscha und der Mongolei zu sprechen) zu Protagonisten haben. Man kann der Ansicht sein, diese Länder seien dazu bestimmt, das Ende der osteuropäischen zu nehmen, und dies vielleicht sogar kurzfristig, und dennoch — möge das nun gefallen oder nicht — bis jetzt ist die Geschichte des „realen Sozialismus“ (mit allen zerreißenden Widersprüchen und den dramatischen Problemen, die diesem politisch-sozialen Regime eigen sind) noch nicht zu Ende, selbst wenn das mit dem Oktober begonnene historische Geschehen in eine vollkommen neue Phase eingetreten ist. Will man dieses Geschehen weiterhin im Lichte der Theorie des monopolistischen Staatskapitalismus oder anderer, ähnlicher interpretieren, so bedeutet dies, den Sieg eines chinesischen Jelzin oder die Machtübernahme durch einen Anhänger oder Lakaien des „demokratischen“ Bill Clinton anstelle des „totalitären“ Fidel Castro für irrelevant oder sogar wünschenswert zu halten. Es bedeutet, China, Korea, Kuba, Vietnam zur Kapitulation aufzufordern. In der dramatischen Situation, in der sich Kuba nach dem in Osteuropa erfolgten Zusammenbruch befindet, ist dieses Land andererseits gezwungen, dem internationalen Kapitalismus gegenüber Zugeständnisse zu machen, andererseits muß es an den Opfergeist, an erneute Produktionsanstrengungen und an eine strengere Arbeitsdisziplin seiner Bürger appellieren. Dies aber ist vom Gesichtspunkt der „Puristen“ aus der endgültige Beweis dafür, daß auch das Regime, das auf der Insel nach dem Sturz Batistas und der Übermacht der nordamerikanischen Gesellschaften errichtet wurde, nichts Neues unter der Sonne darstellt!
Diesem gleichzeitig dogmatischen und kapitulierenden (und unheilbar ökonomistischen) „Marxismus“ sollte man die Definition des Kommunismus als „wirkliche Bewegung“ entgegensetzen. Es geht keineswegs darum, die Eduard Bernstein teure Formel (die Bewegung ist alles, das Ziel nichts) wiederaufzunehmen, eines Bernstein, der sich weigerte, das Wesentliche, das heißt, die politische Macht der Bourgeoisie und die imperialistische Arroganz der Großmächte in Frage zu stellen (bekannt ist das Wohlwollen, mit dem der deutsche sozialdemokratische Leader auf die „zivilisierende“ Mission des Kolonialismus blickte). Das Ziel, das Bernstein hatte auslöschen wollen (damit die auf nationaler und internationaler Ebene bestehenden, politischsozialen Verhältnisse verewigend), existiert in Wirklichkeit weiter. Es geht darum, eine postkapitalistische und postimperialistische Gesellschaft aufzubauen, eine Gesellschaft, die man sich aber nicht mehr in den Farben einer abgeschmackten und akritischen Utopie vorstellen kann und darf. Gerade die Distanzierung von dieser Utopie bildet die Grundbedeutung der Definition des Kommunismus als „wirkliche Bewegung“.
Dieser Beitrag ist die zweite Hälfte eines Aufsatzes (aus dem Italienischen übersetzt von Erdmuthe BRIELMAYER), der in »Topos« 3/1994 bei Pahl-Rugenstein erschienen ist. Der Autor ist Teilnehmer der Veranstaltung „80 Jahre Oktoberrevolution“ (siehe Rückseite dieses Heftes). Wir danken für die Abdruckgenehmigung.
Anmerkungen
- Alexis Berelowitch, 1993, L’occidente, o l’utopia di un mondo normale, in: »Europa/Europe«, Nr. 1, 1993.
- »Der Spiegel«, 1992, Kriege führen für den Frieden, 23. März, S. 202 - 211 (Interview mit Karl R. Popper von Olaf Ihlau).
- Carlo Jean, 1993, „Guerre giuste“ e „guerre ingiuste“, ovvero i rischi del moralismo, in: »Limes. Rivista italiana di geopolitica«, Nr. 3 (JuniAugust).
- Paul Kennedy, 1989, Ascesa e declino delle grandi potenze, ital. Übersetzung Mailand, Garzanti.
- Domenico Losurdo, 1993a, Democrazia e bonapartismo. Trionfo e decaden- za del suffraggio universale, Turin, Bollati Boringhieri.
- Domenico Losurdo, 1993b, Marx e il bilancio storico del Novecento, Rom, Bibliotheca.
- Rosa Luxemburg, 1968, Die Krise der Sozialdemokratie (1916), in: Politische Schriften, hg. von. O. K. Flechtheim, Frankfurt a. M., Europäische Verlangsanstalt
- Edgar Quinet, 1984, Le Christianisme et la Revolution francaise (1845), Paris, Fayard.
- John Rawls, A Theory of Justice (1971); ital. ÜbersetzungUna teoria della giustizia, Mailand, Feltrinelli.
- Ralf G. Reuth und Andreas Bönte, 1993, Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam, München-Zürich, Piper.
- Lester Thurow, 1992, Head to Head. The Coming Econonmic Battle among Japan, Europe and America, New york, Morrow.