MOZ, Nummer 52
Mai
1990
Vor 100 Jahren

Der 1. Mai

Plakat zum 1. Mai

Am Tag der Jahrhundertfeier des Sturms der Bastille trat in Paris ein Internationaler Sozialistischer Arbeiterkongreß zusammen. Die Creme der erstarkenden Arbeiterbewegungen Englands, Nordamerikas, Australiens und des europäischen Kontinents war anwesend. Am 20. Juli 1889, dem Schlußtag, wurde ein weilreichender Antrag eingebracht: „Es sei zu einem bestimmten Zeitpunkt eine große internalionale Kundgebung zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten und Behörden die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen ...“. In Hinblick auf die Maiereignisse in Chicago 1886 und in Anlehnung an einen Beschluß des amerikanischen Arbeiterbundes wurde als Termin der 1. Mai 1890 bestimmt.

Die Vorbereitung

Der Beschluß des Pariser Kongresses hatte es jeder einzelnen Arbeiterpartei überlassen, über die Form der Manifestation selbst zu entscheiden. In Österreich wollte man ganz exakt den 1. Mai feiern, d.h. an diesem Tag nicht zur Arbeit gehen und nicht, wie etwa in England und Deutschland, am ersten Sonntag im Mai. Diese Entscheidung fiel zwar zögernd und von Skeptizismus begleitet, aber sie fiel! Die allgemeine Arbeitsruhe sollte das Kernstück dieses 1. Mai werden und auch der zukünftigen. Im Gefolge der noch immer währenden wirtschaftlichen Stagnation, der starken Klassengegensätze und der weitgehenden Rechtlosigkeit der Arbeitnehmer, des Fehlens von Arbeitsschutz- und Sozialgesetzen hatte die Agitation eine starke Resonanz. Volksversammlungen und Vereinstreffen wurden abgehalten, ebenso wie sich lokale Organisationskomitees bildeten, um die Idee des 1. Mai zu verbreiten. Da die Behörden bereits bald auf die Illegalität des Vorhabens hinwiesen, war die Teilnahme nicht unriskant.

Kollektive Hysterie — „Die Soldaten in Bereitschaft ...“

Im Zusammenhang mit der schlechten sozialen Lage der Unterschichten kam es im Frühjahr zu einer Serie von Streiks. Bereits Anfang April hatten Auseinandersetzungen zwischen streikenden und arbeitswilligen Maurern auf verschiedenen Bauplätzen Wiens stattgefunden. Am 8. April kam es schließlich zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und hunderten Arbeitern in Wiener Arbeiterbezirken, nachdem bei Tumulten eine Reihe von Festnahmen erfolgt war. Die aufgebrachte Menge sammelte sich wieder, stürmte eine Wachstube, plünderte mehrere Geschäfte und legte Feuer. Beim Einsatz von Polizei und Militär wurden noch am selben Tag rund hundert Personen festgenommen. Weitere Tumulte und Tätlichkeiten folgten in anderen Bezirken in den nächsten Tagen. Eine Aufstellung zeigte im Zeitraum vom 1. bis 24. April allein in Wien 55 Streiks und Streikaufrufe. Behörden, Polizei und Bürgertum waren alarmiert. Besorgte Bürgermeister, Gemeindevorstände, Schloßherren und Fabriksdirektoren wandten sich an die Behörden mit der Bilte um militärischen Schutz. Die niederösterreichische Statthalterei beschied: „Die Soldaten sind in Bereitschaft!“

In der letzten Aprilwoche wurden besonders in Wien die Banken von verängstigten Kunden förmlich gestürmt, um Bargeld, Wertpapiere und Familienschmuck in Sicherheit zu bringen. Die Zeitungen berichteten von Hamsterkäufen und Engpässen in der Lebensmittelversorgung, „da manche Parteien sich für zwei bis fünf Tage versorgten. Namentlich das Fleisch ging aus." Aus der aufgeheizten Almosphäre suchten auch andere politische Kräfte Kapital zu schlagen. Unter der Gleichung Kapitalismus = Judenherrschaft trat massiver Antisemitismus zutage. Das damals zwanzigjährige Dienstmädchen Marie hatte etwa aufgeschrieben: „Auf allen Straßenecken klebten Streifen, ob gedruckt oder geschrieben, weiß ich nicht mehr genau, auf welchen stand: ‚Nieder mit den Juden‘, ‚Hoch Schönerer‘. Ich war bei einer Judenfamilie im Dienst, und da die Hausmeisterin mit Bestimmtheit sagte, die Juden werden am 1. Mai erschlagen, so konnte mich nichts aufhalten, den Posten zu verlassen.“

Mehr als 100.000 im Wiener Prater

Am 1. Mai selbst war die Situation allerdings entschärft, da bereits viele Unternehmer und Meister den Arbeitern und Arbeiterinnen ‚freiwillig‘ arbeitsfrei gaben, obgleich die Statthalterei dies untersagt halte. ‚Entschärft‘ hatte man auch die sozialdemokratische Partei, indem deren Parteivorsitzender Victor Adler just seine Haftstrafe wegen „anarchistischer Bestrebungen“ und „Aufreizung“ zu einem so gewählten Zeitpunkt anzutreten hatte, daß er sich am 1. Mai im ‚Landl‘, dem Wiener Landesgericht, in Zelle 32 befand. Die Aktivitäten des 1. Mai in Wien begannen sehr zeitig: „Schon gegen sieben Uhr begannen sich die Straßen mit festtäglich gekleideten Arbeitern zu füllen, welche den als Versammlungsorte bezeichneten Sälen zuströmten“, schrieb die „Neue Freie Presse“, das Blatt des liberalen Bürgertums, und berichtete von rund 60 „zahlreich besuchten“, aber „in absoluter Ruhe“ verlaufenden Gehilfen- und Vereinsversammlungen. Ein Heer von Parteiordnern sorgte für Disziplin. Es gab in Wien, Linz, Graz und Steyr — den Orten mit wahrem Massenbesuch — keinen einzigen Zwischenfall. Am frühen Nachmittag sammelten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zum gemeinsamen und abschließenden Praterbesuch. Mehr als 100.000 waren gekommen. Der Parteiführer Wilhelm Ellenbogen hielt mit Pathos dazu fest: „Und nun zogen in der leuchtenden Pracht des Maitages in begeisterten endlosen Scharen mit freudestrahlenden Gesichtern die feiernden Arbeiter mit Weib und Kind heran, in glänzender Disziplin den klugen Anordnungen ihrer eigenen Ordner folgend und sich auf die verschiedenen Gasthäuser verteilend. Mitten unter den geladenen Gewehren und Kanonen stieg aus hunderttausend Kehlen zur gleichen Zeit das ‚Lied der Arbeit‘ zum Himmel empor. Die Begeisterung des Bewußtseins, daß man eine Macht geworden, daß eine neue Zeit begonnen, erfüllte jedes Herz.“

Der 1. Mai 1890 markierte diese Wende mit Sicherheit. Die Domestizierung der Arbeiterschaft und die Teilhabe ihrer Vertreter an der politischen Macht — auch die Lernphase der neuen Verhandlungstechniken und Verhaltensformen — sollte noch länger dauern, aber sie hatte unwiderruflich begonnen. Die Konfliktkultur veränderte sich. Der Arbeiter hatte, wie sich Victor Adler ausdrückte, den „Weg in die Civilisation“ begonnen, den „Weg in die Moderne“. Gerade auch in Hinblick auf diesen 1. Mai hatte der österreichische Parteiführer im nächsten Jahr an Friedrich Engels geschrieben: „Wir sind von einer Sekte oder einer Horde Radaumacher zu einer politischen Partei avanciert, die Anerkennung sich erzwungen hat und mit der man rechnet!“

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