Internationale Situationniste, Numéro 1
 
1976

Der Lärm und die Wut

Von den wütenden jungen Leuten, vom Zorn der heutigen Jugend wird viel geredet. Deswegen wird viel davon geredet, weil von den unbegründeten Krawallen der schwedischen Jugendlichen bis zu den Proklamationen der englischen „angry young men“, die versuchen, sich zu einer literarischen Bewegung zusammenzugruppieren, dieselbe tiefe Harmlosigkeit und dieselbe beruhigende Schwäche wiederzufinden sind. Als Produkt einer Epoche der Auflösung der herrschenden Ideen und Lebensweisen, sowie der ungeheuren Siege gegen die Natur ohne eine wirkliche Erweiterung der Möglichkeiten im alltäglichen Leben, findet diese plötzliche Aufwallung der Jugend, die oft brutal gegen die ihr aufgezwungenen Lebensverhältnisse geht, im Grossen und Ganzen gleichzeitig mit der surrealistischen Geistesverfassung statt.

Ihr fehlen aber dessen Anwendungspunkte in der Kultur und der revolutionären Hoffnung. So dass im Hintergrund dieses spontanen Negativismus der amerikanischen, skandinavischen bzw. japanischen Jugend immer wieder der Verzicht mitklingt. In Frankreich war Saint-Germain-des-Prés schon in den ersten Jahren der Nachkriegszeit ein Laboratorium dieser — von den Zeitungen ungebührlich „existentialistisch“ genannten — Verhaltensweisen gewesen, was erklärt, dass die heutigen geistigen Vertreter dieser Generation in Frankreich (Francoise Sagan-Drouet, Robbe-Grillet, Vadim, der scheussliche Buffet) alle den Verzicht übertrieben veranschaulichen und naiv illustrieren.

Zeigt diese geistige Generation ausserhalb Frankreichs mehr Aggressivität, so geht ihr Bewusstsein davon von der einfachen Schwachsinnigkeit zur verfrühten Zufriedenheit — bei einer sehr ungenügenden Revolte. Der Gestank nach faulen Eiern, der den Gottesgedanken umschwebt, hüllt die mystischen Idioten der amerikanischen „beat generation“ ein und man findet ihn sogar in den Erklärungen der „angry young men“ (vgl. Colin Wilson) wieder. Im allgemeinen entdecken diese mit 30 Jahren Verspätung ein subversives moralisches Klima, das England ihnen in der Zwischenzeit völlig verheimlicht hatte, und sie meinen, sie seien an der Spitze des Skandals, indem sie sich öffentlich als Republikaner ausgeben. „Es werden weiter Theaterstücke gespielt“, schreibt Kenneth Tynan, „die sich auf die lächerliche Idee gründen, dass die Leute die Krone, das Empire, die Kirche, die Universität und die gute Gesellschaft immer noch fürchten und achten“. Die Wendung „es werden weiter Theaterstücke gespielt“ lässt den seicht literarischen Standpunkt dieser Gruppe der „angry young men“ erkennen, die schliesslich bloss ihre Meinung über einige konventionelle gesellschaftliche Formen geändert haben, ohne den Gebietswechsel der gesamten kulturellen Aktivität einzusehen, den man bei jeder avantgardistischen Tendenz dieses Jahrhunderts deutlich beobachten kann. Besonders reaktionär sind die „angry young men“ sogar dadurch, dass sie der Literaturübung einen bevorzugten Wert, einen Erlösungssinn, beimessen, was also heisst, dass sie heute als die Verteidiger einer Mystifizierung auftreten, die in Europa um 1920 entlarvt wurde und deren Fortleben eine größere konterrevolutionäre Bedeutung als die der britischen Krone hat.

Der gemeinsame Nenner dieser Gerüchte und Klangnachahmungen des revolutionären Ausdrucks ist es, den Sinn und die Grösse des Surrealismus — dessen Erfolg innerhalb der bürgerlichen Kunst natürlich eine sehr entstellende Wirkung hatte — zu ignorieren. Die Fortsetzung des Surrealismus wäre eigentlich die konsequenteste Haltung, wenn es nichts Neuem gelingen sollte, ihn zu ersetzen. Aber die sich ihm anschliessende Jugend — da sie die tiefe Forderung des Surrealismus kennt und den Widerspruch zwischen ihr und der Bewegungslosigkeit eines Pseudo-Erfolgs nicht überwinden kann — nimmt ihre Zuflucht gerade bei den reaktionärsten Aspekten, die dem Surrealismus schon bei seiner Bildung eigen waren — wie z.B. die Magie und der Glaube an ein goldenes Zeitalter, das sich anderswo als vorne in der Geschichte befinden könnte. Es ist so weit gekommen, dass man sich jetzt beglückwünscht, immer noch unter dem Triumphbogen des Surrealismus präsent zu sein, unter dem man auf hergebrachte Weise bleiben will, wie Gerard Legrand stolz schreibt: „ein kleiner Kern junger Männer, die trotzig bestrebt sind, die echte Flamme des Surrealismus am Leben zu erhalten“ („Surréalisme même“, Nr. 2).

Eine noch stärkere emanzipatorische Bewegung als die des Surrealismus von 1924 — der Breton beizutreten versprach, falls sie erscheinen sollte — kann sich nicht leicht gründen, da ihr befreiender Charakter von der Besitzergreifung höherer technischer Mittel der modernen Welt abhängt. Die Surrealisten des Jahres 1958 sind aber unfähig geworden, dieser beizustimmen und sie sind sogar entschlossen, sie zu bekämpfen. Was die Notwendigkeit für eine revolutionäre Bewegung in der Kultur nicht wegschafft, die vom Surrealismus geforderte Freiheit des Geistes und konkrete Freiheit der Sitten mit mehr Wirksamkeit zu übernehmen.

Für uns war der Surrealismus nur der Anfang eines revolutionären Experimentes in der Kultur, das fast sofort praktisch und theoretisch abbrach. Es handelt sich jetzt darum, noch weiter zu gehen. Warum kann man nicht mehr Surrealist sein? Nicht um der Aufforderung nachzukommen, die ständig an die „Avantgarde“ gerichtet wird, sich vom surrealistischen Skandal zu unterscheiden — keiner kümmert sich darum, ob wir uns jeden Augenblick originell verhalten. Und zwar aus guten Gründen: welche neue Richtung würde man uns vorschlagen? Im Gegenteil dazu ist die Bourgeoisie dazu bereit, all den Rückschritten Beifall zu spenden, die zu wählen es uns beliebt. Wenn man nicht Surrealist ist, dann um sich nicht zu langweilen!

Langeweile ist die dem alt gewordenen Surrealismus, den wütenden und wenig informierten jungen Männern und dieser Rebellion der behaglich lebenden Jugendlichen gemeinsame Wirklichkeit, die zwar ohne Perspektive ist, aber weit davon entfernt, ohne Grund zu sein. Die Situationisten werden das Urteil vollstrecken, das die heutige Freizeit gegen sich selbst fällt.

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