Amelie Lanier, Transformation Osteuropas
 
1993

Der Niedergang der ungarischen Landwirtschaft seit dem Systemwechsel

Eine sozialistische kollektivierte Landwirtschaft begibt sich auf den Weltmarkt und erleidet dort Schiffbruch

Die Landwirtschaft Ungarns war im Gegensatz zu derjenigen anderer realsozialistischer Länder kein „Sorgenkind“ der Nation, sondern eine Stütze der Nationalökonomie. Größtenteils kollektiviert, und mit den nötigen landwirtschaftlichen Maschinen ausgestattet, galt die Landwirtschaft Ungarns mit überquellenden Märkten und billigen Salamis dennoch westlichen Beobachtern, aber genauso auch ungarischen Ökonomen stets als Muster dafür, wie sehr marktwirtschaftliche Momente die Erträge einer realsozialistischen Ökonomie verbessern, sofern man sie nur zuläßt. Als Beleg für diese These im Bereich der Landwirtschaft galt die unter Kádár erfolgte Gewährung des sogenannten „Hauslandes“, eines privaten Gemüsegartens oder Feldes, dessen Produkte von den Besitzern frei verkauft werden durften. An den Erträgen dieses Hauslandes sollte man ablesen, wieviel produktiver in Privatinitiative bestellter Boden im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sei. Übersehen wurde dabei gerne, daß der Besitzer des Gemüsegartens sämtliche Produktionsmittel, wie Treibstoff, Dünger, Pflanzenschutzmittel usw. bei der Kooperative „besorgte“, er selbst daher fast ohne Kosten produzierte, während sich die geklauten Chemikalien usw. bei den staatlichen Genossenschaften als Unkosten zu Buche schlugen. Der Verkauf geschah meistens über die Genossenschaft oder eine staatliche Organisation, sie konnten – im Unterschied zu heute – damit rechnen, daß ihnen ihre Produkte abgenommen wurden.
Soviel nur zum „Hausland“.

Im Jahr 1989 betrug der Nettoanteil der Landwirtschaft an der Gesamtproduktion 23,4%, der Exportanteil belief sich auf 21,7%, also mehr als ein Fünftel. Nach Zielländern aufgeschlüsselt betrug der Export landwirtschaftlicher Produkte 26% des Gesamtexportes in die RGW-Staaten, und 10,1% des Devisenexports. Die Anzahl der in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie Beschäftigten betrug im selben Jahr 21,8% der arbeitstätigen Bevölkerung. [1] Diese Zahlen sollen nur der Veranschaulichung dessen dienen, welche Rolle der Landwirtschaft in Ungarn zugekommen ist – in Zeiten, wo in Ländern mit weitaus geringeren Exportquoten und Beschäftigungszahlen (BRD, Frankreich) anläßlich der GATT-Verhandlungen ziemlicher Aufruhr herrscht.

Der wichtigste Exportmarkt Ungarns innerhalb des RGW, auch für Lebensmittel, war die Sowjetunion, und deren Bedarf ist im Grunde genommen unverändert hoch – nur ist sie (bzw. sind ihre Nachfolgestaaten) seit Jahren mehr oder weniger zahlungsunfähig. Zudem bedient z.B. die Russische Föderation mit ihren spärlichen Devisen lieber zunächst ihre Kreditzinsen im Westen, denn das gute Verhältnis zu Westeuropa und den USA ist ihr wichtiger als das zu ihren ehemaligen Verbündeten. Zudem sind diese aufgrund der früheren RGW-Arbeitsteilung immer noch in gewissem Grade auf sie angewiesen. Im Gegensatz dazu sind die GUS-Staaten, sobald es um Handel mit dem Westen geht, in der gleichen Lage wie Ungarn: sie müssen die Bedingungen annehmen, die der Weltmarkt und dessen Institutionen ihnen bieten, während mit den ehemaligen RGW-Partnern um alles gefeilscht werden kann, auch um Schulden.
Die UdSSR ist aus den Zeiten der Völkerfreundschaft her in Ungarn verschuldet. Die Regierung Németh hat seinerzeit die Umrechnung der Außenstände der UdSSR gegenüber Ungarn von Rubel in Dollar erwirkt – 1992 noch immer ungefähr 1,7 Milliarden $ –, und Boris Jelzin hat unlängst bei seinem Besuch in Ungarn bekräftigt, diese Schuld weiterhin anzuerkennen. Ein Teil wird inzwischen in Form von Militärausrüstung zurückgezahlt. Die Zahlungsfähigkeit und damit die Tauglichkeit als Handelspartner ist somit weiterhin nicht gegeben.
Dennoch bleibt die UdSSR bzw. ihre Nachfolgestaaten, nicht zuletzt wegen ihrer geographischen Lage, die zumindest das Problem der Transportkosten gering hält, immer der Hoffnungsträger der auf ihren Überschüssen sitzengebliebenen Produzenten. Die ungarische Regierung wird regelmäßig bestürmt, doch Exportstützungen in die UdSSR bzw. GUS-Staaten zu gewähren, d.h. im Grunde, Getreide oder Fleisch aufzukaufen und in die UdSSR gegen weitere auflaufende Schulden zu exportieren, also die UdSSR mit Lebensmitteln zu kreditieren. Verschiedene Betriebe versuchen auf eigene Faust Bartergeschäfte mit der Ukraine oder der Russischen Föderation einzufädeln, die meistens daran scheitern, daß sich beim potentiellen Käufer keine Produkte finden, die ein ungarischer landwirtschaftlicher Betrieb verwenden könnte. Oder man erhofft Abhilfe aus dem Westen: Kredite westlicher Staaten an die UdSSR für Lebensmittelexporte. So drängten die Außenminister der „3 von Visegrad“ (Ungarn, Polen, CSFR) den amerikanischen Vizepräsidenten Dan Quayle im Juni 1991 im slowakischen Bardejov, doch endlich der UdSSR zu helfen! Eine seltsame Bitte, wo doch gerade in diesen 3 Staaten alles getan wurde, um die sowjetischen Soldaten und alle Erinnerung an die einstige Abhängigkeit von der UdSSR loszuwerden. „Geholfen“ werden sollte natürlich mit aus Kredit und Hilfsgeldern finanzierten Lebensmittellieferungen, die in diesen drei Staaten einzukaufen gewesen wären. Die Beteiligung Ungarns an diesen Hilfslieferungen war jedoch völlig unbedeutend, angeblich bestand sie schließlich aus einem nicht allzu umfangreichem Posten Pflanzenöl. [2]
Ein anderer Hoffnungsträger sind westliche Getreideaufkäufer, die den ungarischen Landwirten ihre Ware abkaufen und der UdSSR auf Kreditbasis verkaufen.
Über ein solches Kreditgeschäft berichtet das HVG im April 1992: Das USA-Schweizer Unternehmen Finagrain exportierte – mit Garantien der ungarischen Regierung und der sowjetischen Außenhandelsbank, also wiederum unter Belastung des ungarischen Staatshaushaltes – und unter Mitwirkung ungarischer Banken 500.000 t Weizen in Nachfolgestaaten der UdSSR. Die Beteiligung der westlichen Firma hat das für sie erfreuliche Ergebnis, daß sie – zusammen mit einigen ungarischen Banken – ein gutes Geschäft gemacht hat. Die Produzenten sind zwar ihr Getreide losgeworden, aber zu ungünstigeren Bedingungen, als wenn sie direkt über die bisherige Außenhandelsfirma, die seit Jahren die Exporte in die UdSSR abgewickelt hat, exportiert hätten. Der ungarischen Regierung bleibt ein Verlust von 110 Millionen $, die die Kreditdeckung ausmacht, da die Auflösung der UdSSR Probleme in der Rechtsnachfolge mit sich bringt und keiner so recht für die Schuld geradestehen will. [3] Diese Verteilung von Gewinn und Verlust ist typisch für den gesamten Handel mit der UdSSR, und nicht nur mit der UdSSR.

Als Handelspartner fallen auch die anderen ehemaligen RGW-Mitglieder mehr oder weniger aus, da sie seit der Umstellung des bilateralen Handels auf $ lieber woanders einkaufen als in Ungarn, oder gar nicht. Der Handel mit Serbien und Montenegro, in dem der Lebensmittelexport zwischen einem Drittel und der Hälfte ausmachte, ist durch die Blockade zum Erliegen gekommen. Nach Slowenien und Kroatien gibt es Lebensmittelexporte, denen aber aufgrund von Größe, eigener Agrarproduktion und Devisenmangel dieser Länder enge Grenzen gesetzt sind.

Somit bleibt Ungarn als einziger aufnahmefähiger Markt für den Export der Westen. Da sind zunächst die EG-Staaten: Der Preis des Exports in diese Länder besteht darin, daß Ungarn seinen Markt in gewissem Grade den Importen aus diesen Ländern öffnen muß. So hat Ungarn z.B. im Jahr 1991 allein aus der BRD Lebensmittel im Wert von 115 Millonen DM (ohne Kaffee und Tabakwaren) eingeführt. [4] Insgesamt ist die Einfuhr von Lebensmitteln nach Ungarn von 1990 auf 1991 um 31% gestiegen. [5]
1992 sind nach mehr als 1-jährigen Verhandlungen die EG-Assoziationsabkommen in Kraft getreten: Sie bescheren einem Drittel des ungarischen Exports Zollfreiheit, die Lebensmittel sind – vor allem auf Druck Frankreichs – davon ausdrücklich ausgenommen. [6] Somit fallen die Lebensmittelexporte Ungarns unter die gewöhnliche Schutzzoll-Politik der EG. Es existieren sogenannte „Abschöpfungs“zölle, der österreichischen Vidierung gleichzusetzen, die „wettbewerbsverzerrende“, also deutlich unter dem Preisniveau des Importlandes liegende Preise mit hohen Schutzzöllen belegen. So z.B. das ungarische Rindfleisch mit 200%, wodurch der Export dieses Artikels von 100.000 t in den 70-er Jahren auf 1-2.000 im Jahre 1991 zurückgegangen ist. [7] Bei den Verhandlungen zu den Assoziationsverträgen mit den „3 von Visegrad“ stand die Abschaffung dieser Zölle gar nicht zur Debatte, sondern nur ihre Verringerung – nach ungarischen Vorstellungen um 60%, nach EG-Vorstellungen um 20%.
Mit Berufung auf EG-Normen kommt es zu ziemlichen Einmischungen in die landwirtschaftlichen Belange Ungarns: Die EG-Vertreter drängen Ungarn, die Tierhaltung in Großbetrieben aufzugeben und die Einkommensausgleichszahlungen an die Genossenschaften – als unzulässige Subventionierung – einzustellen. [8]
Eine weitere Methode des Protektionismus ist die Berufung auf in Ungarn nicht vorhandene EG-Gesetze: Es gibt keine Tierschutzgesetze in Ungarn, also ist auch die Qualität des Fleisches nicht gesichert – das ist der offizielle Grund Frankreichs und auch anderer EG-Mitgliedsstaaten, ungarische Fleisch- und Viehimporte zu beschränken. [9] Auch fehlende Umweltschutzbestimmungen ( – mit denen ansonsten Investoren angelockt werden) und angeblich unzureichende Hygiene-Verordnungen sind schnell zur Hand, wenn es darum geht, ungarischem Getreide, Vieh oder Geflügel der Zugang in EG-Staaten zu verwehren. Die im Herbst 1992 in einigen Komitaten Südungarns ausgebrochene Schweinepest ist ebenfalls Wasser auf die protektionistischen Mühlen westeuropäischer Staaten, auf einige Zeit verarbeiteten Fleischprodukten aus Ungarn einen Import-Riegel vorzuschieben. Ebenso die Berufung auf die mangelnde Qualität eines Produktes, so wie eben „Qualität“ agrarpolitisch definiert wird: Ein Apfel z.B. muß einen bestimmten Durchmesser haben und ein gewisser Teil davon muß rot sein, sonst wird er nicht zum Import in die EG zugelassen. [10]

Die Verhandlungen Ungarns mit der EFTA sind lange Zeit am Veto Österreichs gescheitert, das 2/3 des Warenverkehrs zwischen Ungarn und der EFTA auf sich vereinigt. Zankapfel sind auch hier die Agrar-Exportbestimmungen. Dabei ist die Handelsbilanz zwischen Österreich und Ungarn seit Jahren positiv für Österreich – das durchaus auch Lebens- und Genußmittel nach Ungarn exportiert –, 1991 mit 3,265 Milliarden S. Aus dem Verlauf der Verhandlungen geht klar hervor, wer hier wem Bedingungen setzen kann und dies auch tut. Schließlich haben sich die Regierungschefs Österreichs und Ungarns Anfang Oktober 1992 auf den mageren Kompromiß geeinigt, ihre landwirtschaftlichen Importe aus dem anderen Land drei Jahre lang jeweils um 10% zu steigern. [11] Die Verhandlungen sind übrigens bis heute nicht abgeschlossen.

Zu diesen sehr sperrigen ausländischen Märkten gesellt sich eine von Jahr zu Jahr schrumpfende Inlandsnachfrage, bedingt durch gestiegene Preise. Am Beispiel eines Grundnahrungsmittels, der Milch, läßt sich dieser Prozeß studieren:
Der Milchverbrauch ist in Ungarn infolge der Preiserhöhungen – auf mehr als das Doppelte – stark zurückgegangen, und zwar von 1987 auf 1990 um mehr als ein Viertel. Die Ursache dieser Preissteigerungen war die Kürzung der staatlichen Subventionen auf beinahe die Hälfte derer von 1987. Sie liegen damit prozentmäßig weit unter dem, was in Mitgliedsstaaten der EG und EFTA bei Agrarsubventionen üblich ist. [12] Die Freigabe der Milchpreise 1992 und die Einführung der Mehrwertsteuer von 8% auf bisher von ihr ausgenommene Grundnahrungsmittel wie Milch mit Anfang 1993 tun das ihrige, um diese Entwicklung fortzusetzen.
Zu den verringerten Subventionen gesellen sich steigende Produktionskosten für die Landwirtschaft, die sie durch Erhöhung der Agrar-Aufkaufspreise weiterzugeben versucht. Durch die Umstellung des RGW-Handels auf Dollarbasis hat sich das russische Erdöl und infolgedessen Benzin und Diesel beinahe auf österreichisches Preisniveau verteuert. Der Kunstdünger ist allein von 1989 auf 1990 um 60-85% teurer geworden, bedingt durch gestiegene Produktionskosten und Importsteuern auf sowjetischen Kunstdünger. [13] Ähnliches gilt für Pflanzenschutzmittel, sogar Wasser ist zu teuer: Obwohl die Dürre von 1992 diejenige von 1990 noch übertroffen hat, ist ein Ausbau der Bewässerungsanlagen unwahrscheinlich. Sogar die bestehenden werden nicht gerne in Anspruch genommen, wegen hoher Wassergebühren und Treibstoffpreise. [14]
Ein weiteres Problem für den Absatz im Inland stellen die Vertriebsorganisationen dar. Die großen Lebensmittelkombinate, bis dahin sichere Aufkäufer, sind selber ins Strudeln geraten, auch im Lebensmittelhandel gibt es Veränderungen, die auf die Produzenten zurückschlagen. Die Anzahl der Lebensmittelgeschäfte hat sich um 50% erhöht – bei sinkendem Umsatz, [15] die bisherigen Greißler wurden privatisiert, die neuen Besitzer verkaufen Lebensmittel nur mehr als einen Posten unter anderen, und zwar, weil sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Beliebt ist westliche Ware, auch wenn doppelt oder dreimal so teuer wie inländische: Die Firma Meinl, die die Csemege-Kette aufgekauft hat, bezieht 1/4 ihres Angebots aus dem Ausland, [16] bei manchen kleinen Geschäften liegt der Anteil höher.

Erklärtes Ziel der Subventionskürzungen ist es, die Produzenten dadurch zu Schrumpfung der Produktion zu bewegen, um die „Überproduktion“ zu stoppen.
Hier drängt sich die Frage auf: Was heißt eigentlich Überproduktion? Haben die Leute in Ungarn und Umgebung die längste Zeit zuviel Lebensmittel konsumiert, ohne es zu merken? Hat es eine Meinungsumfrage gegeben, in der festgestellt wurde, daß jetzt alle auf einmal Diät halten wollen? Keineswegs. Es verhält sich vielmehr so, daß ein leerer Magen heute keinen Skandal mehr darstellt, mit dem oppositionelle Samisdat-Blätter seinerzeit gegen den Sozialismus Propaganda gemacht haben. Inzwischen ist klar, daß einzig und allein die Verfügung über Geld den Zugang zu der Ware regelt, wer keines oder zuwenig hat, kann sich daher auch nichts leisten. Die Härte dieses Maßstabes ist gerade hier, bei den Lebensmitteln, auf die der Mensch nun einmal nicht verzichten kann, besonders deutlich.
Die Folgen des neuen Kriteriums, dem der Konsum der Bewohner Osteuropas unterworfen wird, wird übrigens auch nicht verschwiegen, nur werden sie gar nicht als solche besprochen: Geht es um das Ausmalen des Mangels, der in der Ukraine, Rußland und anderen traditionellen Importländern von ungarischen Agrarprodukten herrscht, so ist das als Ausmalung der Unfähigkeit der dortigen Politiker und Landwirte etc. zu verstehen: Wie gut geht es doch den Ungarn vergleichsweise immer noch! Daß unter anderem auch das ungarische Getreide und Geflügel dort fehlt, – dieser Gedanke verbietet sich von selbst und offenbart ein mangelndes Verständnis der Gesetze der Marktwirtschaft.
Geht es um die mangelhafte Ernährung, die sich bei ungarischen Rentnern, Arbeitslosen und inzwischen auch schon Schulkindern feststellen läßt, so ist das ein Aufruf an soziale Institutionen, Ausgleichszahlungen oder Ausspeisungen, Schulmilch usw. zu gewähren – aber die Bebilderungen des Elends und das Zitieren entsprechender Statistiken führen nie zur Frage nach dem Grund dessen, warum sich wachsende Teile der Bevölkerung nicht mehr die nötigen Nahrungsmittel leisten können. Denn: Wer nicht zahlen kann, kann daher auch nicht essen! Das ist die Vernunft der Marktwirtschaft, während die Unmenschlichkeit des Sozialismus darin bestanden hat, der Bevölkerung billige Lebensmittel quasi aufzudrängen.

Die Landwirtschaft soll durch die Subventionskürzungen gezwungen werden, auf besser verkäufliche Produkte umzusteigen, um ihr Einkommen zu sichern.
Es wird dabei so getan, als wäre seinerzeit eine Fehlplanung bei der Einrichtung der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie geschehen, die nun berichtigt werden muß. So ist es aber nicht. Die ungarische Landwirtschaft hat sich als Lieferant von billigen und gefragten Lebensmitteln jahrzehntelang bewährt und nicht „überproduziert“, lediglich der Zweck, zu dem sie so eingerichtet worden ist und infolgedessen die Umstände, mit denen sie konfrontiert war, haben sich geändert. Wie darauf reagiert gehört, macht den Großteil der Streitigkeiten zwischen den einzelnen Agrar-Kontrahenten aus.
Um auf andere Produkte umsteigen zu können, sind zunächst einmal Investitionen erforderlich. Das ist aber genau das, was die durch die mangelnden Verkaufsmöglichkeiten und Übernahme von Altschulden verschuldeten Betriebe eben nicht leisten können. Die „Produkträte“, die die landwirtschaftlichen Produzenten beraten sollen, welche Ware jetzt gerade gefragt wäre, können daran auch nicht viel ändern. Und dann: Auf welche Produkte sollen sie denn umstellen, um Verkaufsschlager zu produzieren? Kiwi, Bananen und Orangen, als Symbole der Westöffnung stark nachgefragte Güter, wachsen auf der Tiefebene nun einmal nicht, bei anderen Produkten ist es aber fraglich, ob sie den Verkaufserfolg bringen, der Weizen, Milch, Fleisch und deren verarbeiteten Produkten versagt bleibt. Sie müssen genauso an mangelnder Kaufkraft und protektionistischen Schranken scheitern wie die traditionellen landwirtschaftlichen Produkte Ungarns.

Immer wieder wird hier die alte und dumme Leier strapaziert, nach der es nur auf den Willen und die Gerissenheit ankommen soll: Wenn man nur schlau ist, heißt es, so macht man gute Geschäfte, ungeachtet mangelnder Mittel und Märkte, die etwas ganz Nebensächliches darstellen und immer nur eine Ausrede sind für Leute, die nicht geschäftstüchtig sind. Dieser als Behauptung formulierte Wunsch hat natürlich seine Umkehrung: Die Leute, die ihr Zeug nicht gewinnbringend verkaufen können, sind ungeschickt, dumm, durch lange Jahre des Sozialismus deformiert, usw. Exemplarisch als Vertreter dieser Ansicht hat angesichts des Weizen-Überangebots von 1991 ein gewisser János Demeter, Sachverständiger des Landwirtschafts-Ministeriums, den Landwirten den schlauen Rat gegeben, doch endlich! nach jahrelangem Zureden! statt Weizen Kukuruz anzubauen [17] – die starrköpfigen Menschen hatten sich jedoch den Rat längst zu Herzen genommen und konnten im Dezember mit einem glänzendem Ergebnis aufwarten: Eine Rekordernte bei Kukuruz, die nach ersten Befürchtungen „das Ende vieler Betriebe bedeuten kann“, [18] da sich herausstellte, daß es für Kukuruz weniger Absatzmöglichkeiten gibt als für Weizen. (Daß sie den Kukuruz schließlich doch angebracht haben, steht auf einem anderen Blatt, und hatte seine Ursache in Mißernten bei Kukuruz in einigen westeuropäischen Ländern.)

Die Landwirtschaft wird natürlich durch den Entzug der Mittel um nichts konkurrenzfähiger, sondern es wird notgedrungen gespart: Man verwendet kaum mehr Dünger (1992 um 80% weniger als 1991) und Pflanzenschutzmittel, [19] kauft billigeres Saatgut bzw. verwendet nicht spezielles Saatgut, sondern Teile der Vorjahrsernte. [20] Die Saatfläche wird verkleinert, noch vor der Dürre des vergangenen Sommers wurde die Menge der gesamten zu erwartenden Getreideernte auf 13 Millionen t geschätzt – gegenüber 15 Millionen t 1989. [21] Im August bereits gibt es andere Meldungen: Die Rede ist von einer Schrumpfung von 31% gegenüber dem Vorjahr, also 1991. [22] Kukuruz ist 1992 fast gar keiner geerntet worden.
Der Maschinenpark der meisten Betriebe ist seit Jahren nicht mehr erneuert worden. Oft reicht das Betriebskapital nicht einmal für die Reparaturen an den bestehenden Geräten. Maschinen haben außerdem den Nachteil, daß sie nachdrücklicher auf Fütterung beharren als Menschen. Es ist schon vorgekommen, daß die Mitglieder einer Kooperative aus ihrem privaten Sparstrumpf das Geld für den Treibstoff vorgeschossen haben, um die Ernte einbringen zu können.
Oder es wird geschlachtet. Der Rinderbestand ist von 1991 auf 1992 um 14-20% gesunken, der Schweinebestand um 21% (teilweise als Dürrefolge des Jahres 1990 – der Kukuruz als Futtermittel war zu teuer), [23] der des Geflügels um 5-6%, im Jahr davor allerdings um 30%. [24]

Alle diese Maßnahmen führen natürlich nicht nur zu quantitativer Verringerung der Produktion – insgesamt um 0,2% 1989, um 3,3% 1990, um 7-9% 1991, [25] – sondern auch zu deutlichen Qualitätsverlusten. Angesichts dessen mutet das Gejammer der zuständigen Politiker, die ungarischen Landwirte müßten endlich lernen, auf Qualität zu achten, weil nur so Exporte in den Westen gesichert werden könnten, [26] etwas absurd an. Auch hier wird der Grund für die mangelnde Qualität verdreht, er soll in der Vergangenheit liegen: die seinerzeitige Produktion sei nur auf Masse und Billigkeit angelegt gewesen, unter Vernachlässigung der Qualität. (Man beachte hier: „billig“ ist ein Vorwurf an die Produktion – Qualität hingegen hat teuer zu sein!)
Selbst wenn die Qualität der bisherigen Agrarprodukte – mit der österreichische Einkaufstouristen übrigens durchaus zufrieden sind – wirklich zu wünschen übrig gelassen hätte, sind den Produzenten inzwischen erst recht alle Möglichkeiten genommen, um diese Qualität auch nur zu halten, geschweige denn zu verbessern.

Der Weltmarkt, auf den die ungarische Landwirtschaft aufgrund politischer Entscheidungen geraten ist, kennt den Standpunkt der Versorgung nicht. Deshalb existieren hungernde Afrikaner einerseits und „Milchseen“ oder übervolle Getreidelager in kapitalistischen Staaten andererseits nebeneinander und kommen nicht zueinander. Lebensmittel verschenken, um Leute satt zu machen, würde nämlich die Preise verderben und das Geschäft zerstören, das mit den Lebensmitteln gemacht wird. Denn der Markt, erst recht der Weltmarkt, ist die Sphäre des Geschäfts und die nicht zahlungsfähige Nachfrage kommt dort gar nicht vor.
Die Kollektivierung in Ungarn war genau dem Gegenteil dessen geschuldet, sie sollte die Ernährung der Bevölkerung nicht den schwer kalkulierbaren Erträgen von Kleinbauern und dem Geschäftsinteresse von Zwischenhändlern aussetzen. Die Entscheidung von Rákosi & Co., zu kollektivieren, war dabei keineswegs durch reine Menschenfreundlichkeit motiviert: Man schrieb das Jahr 1949 und die ungarische Regierung hatte Großes vor, aus Ungarn sollte eine Industrienation werden, und um die dabei notwendigen Arbeitskräfte tauglich zu erhalten, wollten die damaligen Politiker Ungarns die Versorgung mit erschwinglichen Nahrungsmitteln sicherstellen. Die Grundlagen der Lebensmittelproduktion wurden unter staatliche Aufsicht gestellt und die Landwirtschaft verlief von da an zentral geplant. Und diesem Auftrag der Volksernährung ist sie bis zum Systemwechsel nachgekommen.
Jetzt finden sich die Agrarproduzenten mit einem neuen Auftrag konfrontiert, er lautet: Bereichert Euch! – damit wir dann durch Euch zu Steuergeldern und Devisen kommen – und sie können dieser neuen Aufgabe nicht nachkommen. Es ist eben nicht so, daß eine sozialistische Wirtschaft nur eine unproduktivere oder uneffizientere Abart der kapitalistischen ist, der durch Beigabe von ein paar Tropfen Eigeninitiative auf die Sprünge geholfen werden kann, sondern die gesamte Einrichtung der Produktion dient einem ganz unterschiedlichen Anspruch: „Versorgung“ und „Geschäftemachen“ schließen einander aus, und aus diesem Grund muß sich inzwischen jedes Weizenkorn die Beschimpfung gefallen lassen, es sei aus falschen Gründen mit falschen Methoden zustandegekommen und stelle eine einzige Belastung der Wirtschaft dar. Obwohl das Körnchen selber sich in nichts von seinen Artgenossen im Westen unterscheiden muß.

Die ungarische Regierung kennt nur ein Allheilmittel: Mehr privat, weniger Staat

Vor diesem Hintergrund spielt sich die Debatte um Wiedereinführung des Privateigentums in der Landwirtschaft ab. Propagandistisch wird hier alles aufgefahren, was gut und teuer ist. Der Chef der Kleinlandwirtepartei unternimmt landesweit eine rührselige Kampagne für das Recht auf Genugtuung ehemals enteigneter Bauern. Für alles, was in der Landwirtschaft seit einigen Jahren schiefgeht, werden dunkle Machinationen der Leiter der Kooperativen, der „Grünen Barone“, verantwortlich gemacht, die angeblich an ihren Sesseln kleben, anstatt mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Sogar als Zuhälter werden sie von Politikern der Regierungspartei [27] beschimpft.

Praktisch wird mittels zweier Gesetzeswerke mit den bisherigen Verhältnissen aufgeräumt:
Die beiden Entschädigungsgesetze von 1991 und 92 sehen eine Teilentschädigung für alle Enteignungen seit 1939 vor. Für die Landwirtschaft ist vor allem das erste Entschädigungsgesetz wichtig: Es betrifft die Enteignungen von 1945, – übrigens unter dem damaligen Landwirtschafts-Minister und später in der westlichen Propaganda zum Freiheitshelden aufgestiegenen Imre Nagy –, die den Großgrundbesitz auflösten und den Boden in Parzellen an die Landbevölkerung verteilten, sowie die Enteignungen von 1949, als im Zuge der Kollektivierung die Besitzer ebendieser Parzellen ebenso wie die restlichen Kleinbauern ihr Land in die Kooperativen „einbrachten“.
Je nach geschätztem Wert des Grundes erhält der frühere Besitzer – sofern er seinen Anspruch anmeldet – eine gewisse Summe in Form von Entschädigungsscheinen. Diese Entschädigungsscheine kann er verkaufen, oder er kann damit auf Versteigerungen Land erwerben. Ursprünglich geplante Bestimmungen darüber, daß der solchermaßen erworbene Boden auch landwirtschaftlich genutzt werden muß, sind fallengelassen worden – solche Bestimmungen widersprechen dem Begriff des Privateigentums, das eben der freien Verfügung des Eigentümers anheimgestellt ist. Ebenso die Bestimmung, daß der neue Eigentümer in der Gemeinde wohnen muß, wo sich der Grund befindet – dies würde einen Verstoß gegen das Grundrecht der Freizügigkeit darstellen. Damit – mit der möglichen Trennung von Eigentümer und Landwirt – ist die Grundrente, also die Möglichkeit, aus der bloßen Verfügung über Grund und Boden ein Einkommen zu beziehen, dem Prinzip nach wieder in die ungarische Landwirtschaft eingeführt. Daß es auch Leute gibt, die darauf spekulieren, also sich durch Verpachtung ein Einkommen sichern wollen, zeigt die Bemerkung eines Agrarfachmannes, daß viele der Aufkäufe bei Versteigerungen durch Personen erfolgen, die bisher nicht in der Landwirtschaft tätig waren, z.B. Rechtsanwälte. [28]
In diesem Zusammenhang wird in der öffentlichen Diskussion das Problem des Wertes des Grundes gewälzt. Denn die Grundlage der Schätzpreise ist ein Wert in Goldkronen aus dem 18. Jahrhundert. Diese Bemessungsgrundlage ist scheinbar absurd, sie ist jedoch genauso gut wie jede andere, denn Boden hat zunächst einmal überhaupt keinen Wert, genausowenig wie Luft, Wasser und andere natürliche Voraussetzungen der Produktion. Unter der Bedingung, daß Privateigentum sein soll, wird ihm ein Wert verliehen, der sich an den zu erwartenden Erträgen orientiert. Etwas Besseres als das Urbarium Maria Theresias, das zur Verhinderung des Bauernlegens den Wert der Leibeigenen-Gründe bestimmt hat, haben die ungarischen Landwirtschafts-Politiker offenbar nicht gefunden. Fest steht nur: Die Erträge der Kooperativen, zeitlich etwas näherliegend, wollten sie nicht zur Grundlage nehmen.
Die landwirtschaftlichen Genossenschaften sollen aufgelöst und der Boden in Privatbesitz überführt werden. Ein entsprechendes Gesetz, das sogenannte Übergangsgesetz für die Genossenschaften, ist Anfang 1992 erlassen worden. Demnach sollen die Mitglieder der Genossenschaft mitsamt ihrem Grund, mit dem sie seinerzeit bei der Zwangskollektivierung in die Kooperative eingetreten sind, aus dieser wieder austreten. Zusätzlich steht ihnen ein Teil des genossenschaftlichen Vermögens (Maschinen, Chemikalien, Gebäude, Vieh usw.) zu, deren Übergabe aber zum Teil durch den Charakter der Immobilie, teils durch die nicht vorhandenen Finanzmittel der Kooperativen gewisse Grenzen gesetzt sind.
Es gibt Gesetzesvorschläge, den Aufkauf des Bodens durch Ausländer zu beschränken oder zu unterbinden, bei denen auch antisemitische Töne nicht fehlen – Israel hetzt seine überschüssigen Sowjeteinwanderer auf unsere gute Erde! [29] – die aber auf die Dauer nicht haltbar sind. Denn das Kapital, das für eine privatwirtschaftliche Landwirtschaft auf großer Stufenleiter unabdingbar ist, gibt es eben nur im Ausland. In Österreich wird bereits für Grundkauf in Ungarn geworben: Beste Böden, viel billiger als in Österreich und überhaupt nicht überdüngt. [30]
Angebot (viel) und Nachfrage (wenig) tun hier ihre Wirkung: Viele der neuen Grundbesitzer werden anscheinend ihres Besitzes nicht froh und verkaufen ihn „zu einem Spottpreis“, [31] also zumindest unter dem gesetzlich festgelegten Schätzwert.
Die Versteigerungen des Grundes, die seit Herbst 1992 stattfinden, haben bisher ein Ergebnis: Die Genossenschaften bewirtschaften das zum Verkauf ausgeschriebene Land nicht mehr, säen kein Wintergetreide, sodaß eine weitere Verringerung der Saatfläche stattfindet.

Die Entscheidung des Staates, die Grundbedingung für die kapitalistische Konkurrenz, das Privateigentum, einzurichten und sich dann aus der Wirtschaft zurückzuziehen, damit dieses Eigentum seine angeblich wohltätige Wirkung entfalten möge, führt zwar in allen Sparten zu Produktionsrückgang, Konkursen, usw. Dieses Verfahren birgt jedoch gerade in der Landwirtschaft das Risiko in sich, die Grundlagen des Staates zu gefährden: Die Lebensmittel sind nun einmal strategische Güter, an denen die Funktionalität der gesamten Bevölkerung hängt. Es kann der Regierung daher nicht gleichgültig sein, wenn die landwirtschaftliche Produktion in Quantität und Qualität solche Einbußen erleidet, wie zur Zeit die ungarische, sondern sie sieht sich genötigt, erneut einzugreifen, sowohl mit finanziellen Stützungen, als auch mit gesetzlichen Maßnahmen:

Die Landwirtschaft und ihre Umgestaltung belasten Staatshaushalt und Kreditwesen

So sehr die Privatisierung von Grund und Boden und die Verpflichtung auf den freien Markt durch Abbau der Subventionen auch ein ureigenstes Anliegen der ungarischen Regierungspolitiker ist, so ernsthaft ihre Bemühungen, jegliche Erinnerung daran zu tilgen, daß es ein Stück Ökonomie im Sozialismus gegeben hat, das tatsächlich gut funktioniert hat;– so soll doch nicht übersehen werden, daß diese Regierung in der Frage der Landwirtschaft nicht viel Handlungsspielraum besitzt: Zu den Auflagen des IWF, denen sich Ungarn seiner hohen Auslandsschulden wegen nicht entziehen kann, gehört eine Obergrenze der Staatsverschuldung von 5% des BNP. Das ist für Ungarn ein Ding der Unmöglichkeit, noch dazu bei ständig rückläufiger Produktion. Die 5% sind also im weiteren Sinne als Vorschrift und Druckmittel gedacht, die Staatsverschuldung möglichst gering zu halten. (Um z.B. die 1990 und 1992 dürregeschädigten Landwirte in irgendeiner Form unterstützen zu können, mußte Ungarn um Sondervollmachten beim IWF ansuchen.) Die Regierung versucht daher, wo sie nur kann, ihre Ausgaben zu kürzen und ihre Einnahmen zu steigern. Wo früher Subventionen erteilt wurden, sind jetzt Steuern und Abgaben verlangt.
Diese Praxis trifft die Landwirtschaft hart, denn es handelt sich hier um eine Sparte der Ökonomie, die sogar in kapitalistischen Staaten besonders hoch subventioniert wird. (So werden die Agrarprodukte in EG-Staaten mit 40%, in den EFTA-Staaten mit 65% gestützt.) [32]
Eine neue Landwirtschafts-Marktordnung soll Abhilfe schaffen. Die bisherige Marktordnung hat vor allem durch Interventionskäufe und Preisfestlegungen dafür gesorgt, daß die Aufkaufspreise für Agrarprodukte niedrig geblieben sind. [33] Das ist immer noch billiger als Aufkaufsgarantien für die selben Produkte. Außerdem wurden Ausfuhrverbote erlassen, sobald die Inlandsversorgung gefährdet schien.
Die Rede ist nun davon, daß Kontigente für Milch, Kukuruz und Weizen eingerichtet und in diesem Rahmen Aufkaufsgarantien wiedereingeführt werden sollen, damit die Landwirte zumindest irgendwelche kalkulierbaren Einkünfte vor Augen haben können. Das Gesetzeswerk ist für 1993 geplant, und es ist noch gar nicht klar, welches Ministerium die notwendigen Gelder zu Verfügung stellt. [34] Der zuständige Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums hat die die Marschrichtung für dieses neue Gesetzeswerk bereits vorgegeben: Es „soll die Landwirte zu den sparsamsten Lösungen veranlassen.“ [35] Damit unterscheidet es sich nicht sehr von der bisherigen Marktordnung.
Die einander widersprechenden Aufgaben dieser geplanten Marktordnungsreform bestehen darin, die Einkommen der Landwirtschaft zumindest in einem solchen Ausmaß zu sichern, daß die Produktion fortgesetzt werden kann, gleichzeitig die Versorgung der Bevölkerung in einem solchen Ausmaß und zu solchen Preisen zu garantieren, daß es nicht zu Hungerrevolten, Plünderungen kommt – und das, ohne den Staatshaushalt zu belasten. Es ist abzusehen, daß es zumindest letzteres nicht ganz gelingen wird.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Verschuldung der Kooperativen und ihrer geplanten Auflösung. Gegen zahlreiche Kooperativen wurde bereits der Konkurs eingeleitet [36] – was wird aus diesen Schulden, wenn privatisiert wird? Die zukünftigen Kleineigentümer können damit nicht belastet werden. Zwingt man die Banken, bei denen diese Schulden aufgelaufen sind, sie zu streichen, so gefährdet das das ohnehin auf unsicheren Füßen stehende Kreditwesen Ungarns. Übernimmt der Staat diese Schulden, so belastet er das Budget durch uneinbringliche Außenstände.

Die Entschädigungsscheine haben, wie nicht anders zu erwarten, wenige dazu angestachelt, sich als freie Kleinbauern zu versuchen – sie sind dafür zu einem Ersatz-Zahlungsmittel geworden, das von diversen Broker-Firmen zu ungefähr 3/4 des Nennwerts in Bargeld oder Einkaufsgutscheine verschiedener Firmen umgetauscht wird. In vielen Geschäften, aber auch bei Kauf von Immobilien aller Art kann in Entschädigungsscheinen gezahlt werden. Damit hat die Entschädigung bisher ein Ergebnis gehabt: Sie hat die Inflation angeheizt, indem sie die Menge der umlaufenden Zahlungsmittel durch Ersatz-Banknoten erhöht hat. Die Höhe dieser Geldersatz-Zettel belief sich am 1.12.1992 bereits auf 21 Milliarden Forint (fast 3 Milliarden Schilling), eine stattliche Summe.
Zur Privatisierung anstehende Banken bieten ihre Aktien gegen Entschädigungsscheine an, um nicht auf ihnen sitzenzubleiben. Die Entschädigungsscheine sind seit Herbst 1992 auf der Budapester Börse zugelassen, wo sie sehr gut zu den ganzen anderen Papieren passen, die dort kursieren und hinter denen genausowenig reale Akkumulation steht wie hinter den Entschädigungsscheinen.
Die Entschädigungsscheine erhöhen kurzfristig die Kaufkraft, führen aber bald zu einer Veränderung im Wertausdruck des Geldes, um das man sich dann weniger kaufen kann. Sie sind also nichts, das der (Agrar- oder Industrie-)Produktion zugute käme.

Einer Reform soll auch der Agrarkredit unterzogen werden. Das alte staatliche Aufkaufssystem ist 1991 aufgelöst worden, damit ist auch der Vorschuß-Kredit auf noch nicht eingebrachte Ernte verschwunden. Gegenwärtig werden Hypothekarkredite zu einem Zinssatz von 35-40% vergeben – bei einem errechneten landwirtschaftlichen Durchschnittseinkommen von 10%. [37] Es gibt einen Kreditrahmen, den die ungarische Regierung extra für die Neuanfänger in der Landwirtschaft bestimmt hat – aber deren Kapitalschwäche schließt sie oft vom Erhalt eines Kredites aus, weil sie nicht genügend Deckung bieten können. [38] Jetzt sind der Landesverband der Sparkassen und die Banken aufgerufen, sich auf eine neue Art von Kreditnehmern einzustellen und denen auch Kredite zu geben: Kleinbauern ohne Eigenkapital und ohne Erfahrung in Kreditdingen, „die hilfesuchend ihren Rocksaum ergreifen werden“. [39] Das ist nicht ganz die Art von Kundschaft, die von Geldinstituten gemeinhin für solid angesehen wird. Um sie ihnen dennoch schmackhaft zu machen, plant die Regierung die Einführung von Kreditgarantien durch die Gemeindeverwaltungen oder andere „regionale Organisationen“, also letzten Endes wieder durch den Staatshaushalt.

Das Ergebnis all dessen ist, daß die Regierung zwar die Subventionen gekürzt und dadurch die Krise im Agrarsektor verschärft hat, aber sich selbst kaum etwas erspart hat. An anderer Stelle muß der Staat doch wieder intervenieren und Mittel zur Verfügung stellen, um Schlimmeres zu vermeiden. Und dieses Löcherstopfen ist das ziemliche Gegenteil dessen, was die Politiker Ungarns durch Einführung der Marktwirtschaft erreichen wollen: Daß die Produktion profitabel wird und der Staat dadurch in erhöhtem Maße über Mittel verfügt.

Das Ergebnis des ganzen: Schaden garantiert, Nutzen fragwürdig

Die öffentliche Besprechung dieser ganzen Widrigkeiten ist in dem Widerspruch befangen, daß die Einführung des Privateigentums in der Landwirtschaft zwar begrüßt wird, die unangenehmen Folgen dieses Schrittes aber als Probleme besprochen werden, die man am liebsten vermeiden würde. Darin unterscheiden sich die radikalen Regierungskritiker, wie die Vertreter des Agrarbundes oder der Oppositionspartei FIDESZ, nicht von den Regierungsvertretern im Landwirtschaftsministerium und deren Anhängern.
Als Wunschtraum wird immer die „moderne“ Farm-Wirtschaft genannt – sie gilt als Inbegriff der „Effizienz“. Unter diesem Stichwort werden die guten Geschäfte bewundert, die amerikanische Farmer mit ihrem Getreide und Hornvieh machen. Daß diese Produkte überhaupt nicht für die Bevölkerung der USA da sind, die einen für eine kapitalistische Industrienation ungewöhnlich hohen Anteil von unterernährten Bürgern aufweisen, ist den Anhängern der Farm-Wirtschaft klar. Somit würde eine effiziente Farm-Wirtschaft auch den ungarischen Konsumenten nichts Gutes verheißen.
Es ist den Kommentatoren freilich auch nicht entgangen, daß die amerikanischen Farmer im Unterschied zu den bisherigen Angestellten ungarischer Kooperativen und anderen potentiellen Eigentümern über Betriebskapital verfügen. Da also „privat“ und „effizient“ gleichzeitig in Ungarn nicht zu haben ist, so enden diese Vergleiche meistens mit der bedauernden Schlußfolgerung, daß man dann zwar über eine uneffiziente Landwirtschaft verfügt, die nicht einmal den Produzenten sein Auskommen sichert, die aber wenigstens dem Menschenrecht auf Privateigentum entspricht.

Das Elend auf dem Land hat Ungarn in der Zwischenkriegszeit den Ruf eingetragen, das „Land der 3 Millionen Bettler“ zu sein. Die Maßnahmen der Regierung sind dazu angetan, diesen Zustand schnellstmöglich wieder herbeizuführen. Allerdings war damals die Besitzstruktur in der Landwirtschaft durch den Großgrundbesitz geprägt – die 3 Millionen Bettler stellten die besitzlosen Landarbeiter. Großgrundbesitz kann heute nur entstehen, wenn ausländisches Kapital sich in der ungarischen Landwirtschaft einkauft – im Inland gibt es keine zahlungsfähige Nachfrage. Aber ausländische Investoren wären mit den gleichen Exportbeschränkungen konfrontiert wie die bisherigen Kooperativen. Es darf also bezweifelt werden, daß aus dem Ausland eine besondere Nachfrage nach ungarischem Grund und Boden auftreten wird.
Also wird das Parzellenunwesen die zukünftige ungarische Landwirtschaft dominieren, die unproduktivste Form der Bewirtschaftung, die gleichzeitig mit dem höchsten Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft einhergeht. Denn Familienbetriebe ohne Eigenkapital, die auf einer Briefmarke Landwirtschaft betreiben, können sich die Geräte weder leisten noch ausnützen, die bisher für die landwirtschaftliche Produktion eingesetzt wurden. Also wird statt Traktor und Egge die gute alte Spitzhacke wieder zu Ehren kommen, statt Pflanzenschutzmitteln das gute alte – und biologisch einwandfreie! – Unkrautjäten. Auch an anderer Stelle läßt sich noch sparen: Das Schwein kriegt die Haushaltsabfälle, die Kuh weidet am Bahndamm. Vielleicht nimmt man im Winter die Kleintiere zu sich in die gute Stube – das spart Heizkosten.
Und da für solche Kleinbauern auch Arbeitslohn teuer ist, wird sich der – im sozialistischen Ungarn nicht übliche – Einsatz der eigenen Kinder als kostenlose Arbeitskräfte bei diesen diversen Tätigkeiten einbürgern. Dabei ist die menschliche Arbeitskraft in Ungarn die einzige Ware, die ständig billiger wird, es gibt von Jahr zu Jahr mehr Arbeitslose aller Alters- und Berufsgruppen und offen ausgesprochene Hoffnungen diverser Regierungspolitiker, die Landwirtschaft möge diese überschüssigen Menschen „aufsaugen“, als Selbstversorger irgendwo dahinwerkeln lassen, damit nicht die touristischen Zentren durch sie verschandelt werden. Auch dieser wenig idyllische Wunschtraum wird von Fachleuten dementiert: Die Produktionskosten sind heute so beschaffen, daß jeder Landwirt für den Markt produzieren muß, weil er über Bargeld verfügen muß, um Dünger, Energie, Grundsteuer usw. bezahlen zu können. [40]
Die im letzten Jahr öfters laut gewordene Befürchtung, die Deckung des Inlandsbedarfs könne gefährdet sein, entbehrt dabei jeder Grundlage. Einen Inlandsbedarf in der Art von „Verbrauch pro Kopf“, der gedeckt werden müßte, gibt es nicht mehr. Der Inlandsbedarf wird dadurch bestimmt, was die Leute sich leisten können. Die Kaufkraft in Ungarn schwindet von Jahr zu Jahr, damit werden auch weniger oder billigere Lebensmittel nachgefragt. Aber auch auf diesem Markt ist die ungarische Landwirtschaft schon lange nicht mehr der alleinige Herr, sondern muß mit ausländischen Agrarproduzenten konkurrieren, die ihre Waren auf dem von ihnen als dynamisch bezeichneten Markt absetzen. Sodaß der ungarische Staat, der sich von der Öffnung gegenüber dem Westen vor allem Technologie-Importe und Investoren, die die Produktion modernisieren, versprochen hat, nicht nur in dieser Frage durch die Finger schaut: Ein jährlich wachsender Teil der Devisenimporte geht für Lebens- und Genußmittel auf, die die Handelsbilanz belasten und die Wirtschaft nicht voranbringen, sondern unproduktiv verzehrt werden.
Im Export kann die ungarische Landwirtschaft, was die agrarpolitisch definierte „Qualität“ (Größe, Länge, Geradheit, Rundheit usw. – lauter quantitative Bestimmungen) betrifft, nicht mit Agrarproduzenten wie z.B. Holland, Frankreich oder den USA konkurrieren. Es kann sie höchstens im Preis unterbieten, indem der Staat die Produktionskosten, die in Forint anfallen, gar nicht ins Verhältnis setzt zu den Devisen, die er damit erwirtschaftet, und die er schon für den Schuldendienst dringend braucht. Das ist eine Exportpraxis, die die Staaten der Dritten Welt seit Jahrzehnten praktizieren und die das Eingeständnis der Weltmarktuntauglichkeit der eigenen Nationalökonomie und Währung ist – die solchermaßen wiederum ständig reproduziert wird: Ungarn wird also zu einer Bananenrepublik für Getreide und Schweinefleisch, was von ziemlich rücksichtsloser Vernutzung der landwirtschaftlichen Arbeitskraft begleitet ist. Das ist der Preis für die Mitgliedschaft im goldenen Westen, für die FREIHEIT.

Erschienen in: EUROPAEISCHE RUNDSCHAU 2/93. Die gedruckte Version des Artikels wurde gekürzt. Die vorliegende Version ist die ursprüngliche, ungekürzte.

Als eine Art Fortsetzung: „Enteignung“ österreichischer Landwirte in Ungarn?! (2014)

[1Mez#gazdasági statisztikai zsebkönyv 1989 – Statistisches Handbuch für die LW

[2Népszabadság – ungarische Tageszeitung, 29.7.1992

[3HVG – ungarische Wochenzeitschrift für Wirtschaftsfragen 16/1992

[4Népszabadság, 13.6.1992

[5Népszabadság, 18.11.1992

[6HVG 8/1992

[7HVG 43/1991

[8Népszabadság, 7.12.92

[9HVG 1/1992

[10HVG 9/1992

[11Salzburger Nachrichten, 11.11.92

[12HVG 3/1991

[13HVG 23/1990

[14HVG 24/1992

[15Salzburger Nachrichten, 5.8.92

[16HVG 29/1992

[17HVG 26/1991

[18HVG 39/1991

[19HVG 39/1991 und 14/1992

[20HVG 50/1991 und Népszabadság, 9.5.1992

[21HVG 14/1992

[22HVG 33/1992

[23HVG 38/1990

[24HVG 12/1992 und 36/1992

[25WIFO-Studie; in: Salzburger Nachrichten, 14.11.1992

[26Népszabadság, 16.9.1992

[27HVG 49/1992

[28HVG 37/1992

[29HVG 45/1992

[30Presse, 28.11.1992

[31HVG 37/1992

[32HVG 48/1992

[33Népszabadság, 18.11.1992

[34HVG 42/1992

[35Népszabadság, 7.12.1992

[36HVG 33/1992

[37HVG 33/1992

[38HVG 8/1991

[39Népszabadság, 14.9.1992

[40Népszabadság, 29.7.1992

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