FŒHN, Heft 7/8
Juli
1986

Die Aufgabe der Literatur

„Die Wirklichkeit verrät die Kunst.“
„Nein. Die Kunst verrät die Wirklichkeit.“
„Das sowieso.“

Vom häufigen Umziehen der Kunst / Vom größten Fortschritt des Intellektuellen / Warum die Künstler Künstler sind / Von der Freiheit der Schokolade / Vom Budgetposten der inneren Sicherheit / Von dem, was vorne ist / Von dem, was nicht ins Haus kommt / Vom Motor literarischen Fortschritts / Vom politischen Extremismus / Darüber, wessen Geschöpf der Intellektuelle ist / Von der Selbstbesichtigung und von der Selbstbezichtigung und von anderem auch

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Die Kunstwirtschaft. Die Literaturwirtschaft. Die Theaterwirtschaft. Die Romanwirtschaft. Die Gedichtwirtschaft.

Romanwirtschaftromane. Gedichtwirtschaftgedichte. Verlagsliteratur. Buchhandelliteratur.

Wie geht es der Kunst? Wie geht es der Kunstwirtschaft? Schlechte Zeiten für Lyrik? Schlechte Zeiten für die Lyrikwirtschaft? Ist das Theater in der Krise? Ist die Theaterwirtschaft in der Krise? Der Roman überholt? Die Romanwirtschaft überholt? Die Romanwirtschaft wieder im Kommen? Der Roman wieder im Kommen?

Die Zentralsparkasse gibt die Literaturzeitschrift »Lesezirkel« heraus. Die CA vergibt jährlich einen Literaturkritiker-Preis, kauft Residenz-Verlag-Bücher und verschenkt sie an Bibliotheken, veranstaltet für ihre Kunden Lesungen. Die Länderbank vergibt den Länderbank-Literaturpreis. Die Bundeswirtschaftskammer hat 1978 einen Rudolf-Sallinger-Literaturpreis geschaffen, und die österreichische Industriellenvereinigung verleiht alljährlich den »Anton-Wildgans-Preis«. Förderungsliteraturförderer und Literaturförderungsliteratur. „Es haben sich immer wieder Menschen aus der Wirtschaft gefunden, dafür zu sorgen, daß Künstler in Österreich nicht verschwiegen werden“, sagt der Mensch Erhard Busek aus der Wirtschaft. Sparkasse Wacker Innsbruck, Raika Sturm Graz, CA-Peter-Altenberg-Preis, Z-Theodor-Körner-Preis. Wirnsberger für Atomic, Bernhard für Suhrkamp. „Zahlreiche Initiativen österreichischer Unternehmer und Unternehmen garantieren die Freiheit und die Vielfalt der Kunst“, heißt es in der Zeitschrift »Der Unternehmer« vom Mai 1978. Wir würden es anders formulieren.

Man sieht es der Kunst an, worauf sie abzielt. Die herrschende Literatur ist eine Literatur für die Herrschenden. Dem österreichischen Großkapital ein Residenzbändchen zwischen die Beine werfen? Wovon ist diese Kunst frei? Frei von Marktüberlegungen oder frei von Verantwortung? Von Industriekapital oder von Engagement? Von amtlicher Kulturpolitik oder von ins Leben Eingreifendem?

In Klagenfurt wird eine Literatur gegen die andere gelesen, wird die Miß Klagenfurt 1986 ermittelt. Was geht vor? Ein Schriftsteller-Tourismus, der nicht von Betrieb zu Betrieb, sondern von Symposion zu Symposion führt. Vom Kärntner Frühling zum Steirischen Herbst. Woran schreiben sie? An ihren Karrieren. Weil sie kein wesentliches Buch schreiben, müssen sie jedes Jahr eines schreiben. Die Gesetze, die regieren, sind die des Marktes: ständige Präsenz, niemalige Befriedigung des erzeugten Bedürfnisses. Es gab kein Bedürfnis nach dem, was in den Handke-Büchern zu lesen ist. Ein Bedürfnis nach Handke-Büchern wurde über die Person H. hergestellt. Literatur als Sucht. Sucht als Profit. Das Profitinteresse erzeugt die Sucht, und die Sucht bringt den Profit. Zwischen Künstler und Publikum vermittelt das Kapital, wie zwischen Fabrikant und Konsument. Frau Mayröcker in Wien V als emsige Außendienstmitarbeiterin der schweizerisch-deutschen Aktiengesellschaft »Suhrkamp«.

Kunstkünstler. Literaturliteraten. Das Wort „Künstler“ sagt, daß es ihnen um die Kunst zu tun ist. Kunst nicht als Mittel (zum Hineingreifen), Kunst als Selbstzweck. Der Künstler nicht als einer, der mit den Mitteln der Kunst arbeitet, sondern Jongleur der Mittel ist. Sich mit den Mitteln der Kunst produziert. Requisiteur. Weltmeister der Requisite. Herr Roth in der südsteirischen Einschicht in Heimarbeit für die Tochterfirma Fischer eines europäischen Mediengiganten tätig. Die Freiheit der Kunst darüberhinwegzusehen. Das Schuhwerk ist ein Produkt der Schuhindustrie. Literatur ist ein Produkt der Literaturindustrie. Aber auch die Literaturindustrie ist ein Produkt dieser Literatur.

Die herrschende Literatur, sooft sie sich auch zum Weggehen umzieht, kommt nicht vom Fleck. Sie weiß nicht weiter. Ja, sie hat nicht einmal bis hierher gewußt. In immer neuen Gewandungen das immer Gleiche. Eine bunte Sackgasse. Die bildende Kunst, Beispiel, ergeht sich in Sinn-Reizungen, Sinn-Täuschungen, Verblüffungen, Verwirrungen, Paradoxien, Vexierungen etc. Kunst ist eine Wucherung beim bürgerlichen Intellektuellen, der ansteht. Statt fortzuschreiten, ein horizontales Verbreitern in tausenderlei Ausformungen, Ziselierung des Plafonds, Ornamentierung, kunsthandwerkliche Bearbeitung des Bretts vorm Kopf. Geschäftigkeit im Stehen. Lieblingsvokabel: »Entfaltung«. Kunstfingrigkeit und Schreibfertigkeit. Narkotika, die unter der Bezeichnung »Literaturzeitschrift« zu haben sind. Welch eine Verirrung! Literatur, die nirgendwo hingeht, die sich in eine Literaturzeitschrift setzt. Literatur mit einem Zaun drum herum. Literaturzeitschriftenliteratur.

Kunst als Zerstreuung eines an seinem Ende angekommenen Kopfmenschen und die Zerstreuung aller, die nicht weiter kommen sollen, durch diesen. In den hergestellten Produkten ist auch die Weise ihres Konsums festgelegt. Fand das antike Theater im Freien, im Leben statt, so findet das der bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft im Saale statt. Welche Perversion! Welche Kastration!

Befriedigungskultur des Kulturbetriebs. Backhähnchen, mager und knusprig. Das Schauspielhaus bringt Schauspielhausaufführungen, das Konzerthaus Konzerthauskonzerte. Das Theater ist eine Liebhaberei wie das Markensammeln: die Premierenkollektion, die Regisseurkollektion, die Sujetkollektion. Richtet sich der Fahrplan nach dem Zug oder der Zug nach dem Fahrplan? Die Speisekarte nach der Küche oder nach den Speisenden? Der Kunstgegenstand schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Kunstproduktion produziert daher nicht nur einen Kunstgegenstand für das Kunstpublikum, sondern auch ein Kunstpublikum für den Kunstgegenstand.

Das Theater als Fortbildungsschule des Systems. Das Theater der kapitalistischen Demokratie als Volkshochschule der kapitalistischen Demokratie. Einübung in die Verhältnisse: die da oben für uns da herunten. — Das Theater von einem, dessen Hirn den Menschen als Produzenten der Geschichte sieht, muß anders aussehen als dieses vom vor die Sesselreihen hingestellte.

Eine andere Kunst kann nur sein unter anderen Voraussetzungen. Der Wille ist eine Voraussetzung, seine ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Führen die technischen Neuheiten nicht zu einer neuen Kunst? Nein, nur zu einer neu frisierten. Die Anwendung des Computers in der Bühnen-Technik, damit die Maria Stuart sein kann wie vor 150 Jahren. Der Staat läßt sich uns die Staatskunst etwas kosten. Die Sozialpartner geben die vierzehnte Senkung des Eckzinssatzes, die Philharmoniker die zweiundzwanzigste Wiederaufnahme der Unvollendeten. Kunstförderung in diesem Staate ist wie Parteienförderung, sie dient der Zementierung der Macht, sie ist ein Budgetposten der inneren Sicherheit. Den Rosenkavalier zu spielen, ist besser, als ihn nicht zu spielen. Die Museen des Adels und des Großbürgertums zu erhalten und auszubauen, ist besser, als es nicht zu tun. Die Bücher des Residentverlages durchzufinanzieren, ist ein Dienst am Bestand, nein, einer an der Verfestigung des Systems. „Den Beruf des Künstlers kann man sich nicht frei erwählen“, heißt es in einer Werbeschrift für den Austrofaschismus, 1935. „Die Fähigkeit zur Kunstausübung ist eine Gnade, die wenige mit auf die Welt bekommen, um ihre Mitmenschen zu erheben und zu beglücken.“ Eine Ideologie, die wenig von ihrer Brauchbarkeit eingebüßt hat. Warum spricht keiner von der Gnade des Tischlerns? Des Schweißens? Des Geschirrspülens?

Die herrschende Kunst ist eine Kunst der Herrschenden, eine zum Herrschen. Alles was in institutionalisierten Medien daherkommt, institutionalisiert diese. Was das Burgtheater auch bringt, es reproduziert das Burgtheater. Womit der ORF auch gefüllt wird, es ist zur hohem Ehre des ORF. Immer siegt das Medium über den Inhalt. Was der »Kurier« auch bringen mag, von der Attentatsmeldung bis zum Cupfinale, er bringt sich selber. Der Inhalt wird benützt. Er ist das Transportmittel, nicht der Markenname ist es. Bertolt Brecht hat in seinen Werken die kleinen Leute, die Niederen, zu den Helden gemacht, die sie in der Wirklichkeit auch sind. Die herrschende Klasse hat Bertolt Brecht zum Helden gemacht, der ganz ohne die kleingemachten Leute besteht. Der Name wird zum vermarktbaren Medium, das unaufhörlich nur sich selber bringt. Taschenbuch für Taschenbuch. In den Auslagen der Buchhandlungen liegt derzeit ein Buch, dessen Cover zu zwei Dritteln vom Namen Mario Puzo ausgefüllt ist; ganz klein, ganz nebenbei findet sich auch noch der Titel des Buches (»Der Sizilianer«). Das neue Persil. Der neue Puzo.

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Warum ist die meistgestellte Frage nach Dichterlesungen, die Frage „Warum schreiben Sie?“, bei den Gefragten so verhaßt? Weil sie zu konkret ist. „Für wen schreiben Sie?“ Sie sagen, für ihr Publikum. Nein, sie schreiben für sich selber. Die Künstler sind gerade wegen ihres Geltungsbedürfnisses Künstler geworden. Um herauszuragen. Ein asoziales Moment! Jetzt sollen sie auf diese Position verzichten? Eine Primadonna soll Statistin sein? Widernatürlich! Der Künstlerberuf ist häufig eine Reaktion auf frühkindliche Beschädigungen durch das System. Handke, Bernhard und andere. „Ich schreibe, weil mir etwas fehlt“, bekennt Martin Walser. Nicht Gnade ist es. Kompensation ist es. Wir könnten auch von uns sprechen. Denke jeder an Beispiele, die er weiß. Das kapitalistische System ruft seine Künstler selbst hervor. Herauskommt bürgerliche Kultur. (Wie sich das verletzte Individuum ins Künstlertum schmeißt, so die brüchig gewordene Bourgeoisie in die Konsumation von Kultur, die einen letzten ganzheitlichen Weltanschauungsersatz bietet.) Der Kapitalismus ist, manche wissen es, viele spüren es, anarchistischer Natur, jeder gegen jeden, und bringt folgerichtig den Individualismus hervor. In diesem System wird die Erfindung zum Patent, die Entdeckung zum Geschäft. Der Wert der Idee liegt in ihrer Auswertbarkeit. Statt Anwendung der Errungenschaft zum Wohle aller, Verkauf an die ihrer Bedürftigen, anstelle gegenseitiger Unterstützung, „würgende Konkurrenz“. Kapitalismus ist politischer Extremismus. Originalität ist dementsprechend zum ersten Qualitätskriterium von Kunst gemacht worden. Der Kapitalismus als Basis der faschistischen Ideologie der Begnadung, der Inspiration, der Einzigartigkeit. Der Faschismus als Wächter der kapitalistischen Praxis. Gerade das System, das den Menschen zwingt, sich zu verkaufen, um leben zu können, gerade es bedarf des Mythos der Freiheit des Menschen.

Dem Künstler ist die Rolle zugeteilt, diese Freiheit zu verkörpern. Seine Freiheit besteht darin, gelbe oder grüne Bilder zu malen, rechteckige oder mehr quadratische, und sie hört dort auf, wo er diese Arbeiten verkaufen muß. Die Freiheit, die ihm ganz bleibt, ist die Freiheit zu verhungern. (Die Parodie auf seine Freiheitsdeklamationen liefert der Kapitalismus selbst in einem Werbeslogan, in dem, des Absatzes einer Salbe wegen, Freiheit für die Füße gefordert wird. Wieder ist es eine gar beschränkte Freiheit, die der Füße von Schmerzen. Freiheit für die Füße müßte aber auch heißen, dem Bundeskanzler ins Gesäß treten zu dürfen.)

Die Freiheit, der sie hinterherjagen, ist eine abstrakte Freiheit, wie es eine abstrakte Wahrheit ist, der sie nachspüren, wie es ein abstraktes Wesen des Menschen ist, dem sie huldigen. Ihre Freiheit ist eine ohne von und für. Die Kunst habe frei zu sein, heißt es. Frei wovon? Frei wofür? Frei von den Interessen der Massen? Frei für die Dekoration der Salons der Besitzbürger? Wo die Freiheit der Kunst so wenig existiert wie die elementarste Freiheit des Menschen, die, seine Haut nicht zu Markte tragen zu müssen, da muß sie in die Verfassung, damit jedes Mal, da ihre Inexistenz in Erscheinung tritt, auf die Existenz in der Verfassung verwiesen werden kann.

Die Freiheit der Kunst ist es, zu produzieren (in der Sprache der Verführer: zu schaffen), was auf dem Markt verlangt wird. Kunst existiert im Kapitalismus nur als Ware. Statt Freiheit der Kunst könnte man auch Freiheit der Schokolade fordern.

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Was meint der Kuckuck, wenn er den ganzen Langes hindurch „kuckuck“ schreit? Sich. Und um was ist es den Künstlern, den bürgerlichen und besonders auch den linksbürgerlichen, zu tun? Um sich. Ob es, Beispiel 1, ein »Kunst-ist-frei-Frühschoppen« (Wien, Jänner 1986) ist, wo sie sich feiern, was rundum auch geschehen mag, nichts geht den Künstlern über die Künstler. Beispiel 2: Schreibt ein linksbürgerlicher Schriftsteller an einen zweiten linksbürgerlichen Schriftsteller: „Mir geht es leidlich; denn noch immer schafft es der Literaturredakteur der »FAZ«, neue Rezensenten auszuspüren, die mich mit dem Elan des germanistischen Drittsemesters verfolgen.“ (H.P. Piwitt in »Konkret« 2/86) Wer sich selbst zur Marke stilisiert hat, wähnt natürlich nicht sein Werk verfolgt, sondern sich. Der Text ist etwas, das man wie einen Traggl fallen läßt, und die einzige Reaktion, um die sie sich sorgen, ist die im Feuilleton.

Es auf den Künstler anlegen, heißt verbürgerlichen. Schriftsteller werden heißt, sich herauszustrampeln aus der Masse. Die Kunst als Mittel begriffen, sich weiter zu bringen, nicht als eines, die Gesellschaft weiter zu bringen. Die bürgerliche Kunst gründet auf der Individualisierung und erzeugt sie. Sie macht, schau hin, aus einem dreihundertköpfigen Theaterpublikum dreihundert einzelne, ganz und gar für sich erlebende Besucher. Sie ist von höchster politischer Brauchbarkeit. Sie steht jedem Ansatz dazu, daß sich die Kurzgehaltenen zusammentun, entgegen.

Die Flucht des Künstlers in die Innerlichkeit ist auch eine Reaktion auf den menschenfeindlichen Kapitalismus. Es ist die falsche.

Eine Kunst, deren Werke nach ihrem Grad an Originalität gemessen werden, führt unausweichlich zur Darstellung des Gekröses des Herrn Poeten. „Nach innen“, seufzt Handke, „geht der geheimnisvolle Weg.“

Der Individualismus schlägt sich nieder im Konkurrenzkampf der Autoren. Es geht nicht um die, für die man — gerüchteweis — schreibt. Patentierungen, Monopolisierungen von Gedanken, Alleinvertretungsansprüche. Das Urheberecht schützt jede Formulierung 70 Jahre über den Tod ihres Schöpfers hinaus. Kommerzielle Nutzung der Idee anstatt Anwendung zum Fortschritt der Gesellschaft. Wer so auf geistigem Eigentum beharrt, hat im kapitalistischen System seine Stütze und ist diesem eine. Der reine Dichter verdankt seine Existenz dem privatwirtschaftlichen Profitsystem, und er dankt sie ihm auch. Der bürgerliche Intellektuelle ist keine Kreation seiner selbst, sondern ein Anpassungsprodukt, das alle Möglichkeiten, die das System ihm bietet, zu nützen und alle Grenzen, die es ihm steckt, zu verteidigen weiß.

Das Kleinbürgertum, dem unsere Dichter enstammen und angehören, ist ökonomisch gekennzeichnet durch seine Lebensbedingungen und Erwerbsverhältnisse, ideologisch durch seine Desorientiertheit. Die Abneigung gegenüber den Praktiken des Kapitals macht aus ihnen so wenig einen Verbündeten der Klasse der Arbeiter wie die Sympathie für eine Veränderung aus ihnen Kämpfer gegen die bewahrenden Kräfte macht. Der kleinbürgerliche Intellektuelle hat sich scheinbar zwischen den Klassen eingerichtet und ist vollauf beschäftigt mit der Abwägung aller Für und Wider. Er ist die personifizierte Unentschlossenheit. Ein chinesischer Lehrer hat über diese Gestalten gesagt: „Die Redensart: »Die Sache hat ihre Vor- und Nachteile«, die in jedem chinesischen Essay vorkommt, drückt die Denkweise der Intellektuellen adäquat aus. In Wirklichkeit hat jede Sache ihre Vor- und Nachteile, sogar das Reisessen: es ist nahrhaft, aber auf die Dauer erlahmt dabei die Verdauung. Wenn man jede Situation von allen Seiten prüft, ehe man etwas unternimmt, wird man unfähig zu handeln.“

Sein Individualismus verwehrt dem Künstler Einordnung und Organisation, nicht sein Wissen. Im Gegenteil, sein Nichtwissen um die ökonomische Basis, auf der er produziert, verhindert seinen politischen Fortschritt. Hat der große Karl Kraus sich nicht gerade deswegen in die Ordnung der Sprache geflüchtet, weil er sich in der politischen Wirklichkeit nicht zurechtgefunden hat?

Die Intelligenz, deren Existenzbedingungen denen des Kleinbürgertums in vielem ähnlich sind, schreckt sich vor nichts mehr als vor der Entscheidung, das heißt: vor dem Handeln. Belege, wohin man sieht. Ein Kollege, dem ich den Titel eines neuerschienenen Buches nenne, das sein Schreibthema behandelt, bemerkt — noch bevor er notiert: „Hoffentlich ist Literatur angegeben!“ Andernfalls nämlich hätte er nach der Lektüre seine Arbeit zu tun. Ein anderer, Philosoph, gibt sich nach der ersten Lesung eines grundlegenden Textes von Mao Tse-Tung enttäuscht. Das sei eine recht einfache Philosophie, nicht sehr hochstehend. Mag sein, daß solche Schriften auch deswegen von den Intellektuellen nicht angenommen werden, weil sie davon intellektuell nicht gefordert werden. Eher aber deswegen, weil sie zum Tun aufgefordert werden. Die Ansprüche an den Geist können gar nicht hoch genug (gerade noch diesseits und schon ein bißchen jenseits des Verstehens), die Ansprüche an das Handeln können gar nicht minimal, ja inexistent genug sein, damit das Werk von den Intellektuellen akzeptiert wird. Ihre Vorliebe für politische Sekundärliteratur (»Probleme des Eigentumsbegriffes beim jungen Marx«) anstelle der Primärtexte charakterisiert auch ihre Position zwischen Annäherung und Distanz. Eine tief in sich eingegrabene Abscheu vor allem Deutlichen, zum Voranschreiten Drängenden, läßt den Intellektuellen dankbar nach allem fassen, was ihm ein Verweilen ermöglicht. An jedem Knöttchen geht für ihn eine Welt weg, die er mit 10 Büchern erkunden muß.

In seiner Ausweglosigkeit ist er daheim. Norbert C. Kaser schrieb in einem Brief knapp vor seinem Tod: „wir sind ueberhaupt eine recht eingeklemmte generation. rueckwaerts geht es nimmer & vor dem vorwaerts graut uns.“ Sein Verweser destilliert daraus den verräterischen Titel des Nachlaßbandes „Eingeklemmt“ und hat damit unverhofft Autor wie Herausgeber auf den Punkt gebracht. In der Perspektivelosigkeit gefällt es ihnen. Sie setzen den Untergang des Kapitalismus mit dem Untergang der Welt gleich und sind von Angst ganz voll. Vor Jahren war ein Buch über die verbrannten Dichter ein großer Verkaufserfolg. Es ist ein einziges Gesuhle in Hoffnungslosigkeit. Ein Preislied auf die Gescheiterten, vom Ungemach Verfolgten, auf die Verhinderten. Panoptikum tragischer Charaktere. (Und kein Wort über die Durchgekommenen, die Kämpfer, die Renn und Weinert.)

Zur Resignation gesellt sich das Selbstzerstörerische. Von der Selbstbesichtigung zur Selbstbezichtigung ist es hinüber wie herüber nur ein Schritt. Die Aggression, die die Verhältnisse im Kleinbürger erzeugen, richtet sich leicht gegen ihn selbst. Er ist sich nur wichtig, es dreht alles sich um ihn, also zerbricht er auch an sich. (Siehe Kaser. Sie haben ihn verrecken lassen, und er hat ihnen den Gefallen getan und ist ihnen verreckt. Das ist unser Vorwurf.) Die Verehrung der sich selbst ums Leben gebrachten Künstler kennzeichnet die Verehrer.

Eine harmlosere, aber auch wenig brauchbare Ausformung des sich das Erkennen standhaft versagenden Schriftstellers ist der Satiriker. Auch heimisch in unseren Blättern: der Zyniker. Die konsequenteste Reaktion auf die Orientierungslosigkeit hat, dem Vorbild Karl Kraus nachgedacht, der Schriftsteller Franz Schuh angekündigt: Nicht mehr schreiben, um dann wenigstens nichts geschrieben zu haben. (Uni Wien, 17.10.1985) Dieses Aufhören freilich ist alles andere als das Anfängen des Handelns!

„Ich als Anarchist“, so schrieb der Autor Walter Klier von sich in einem Zeitungsartikel, in dem er Peter Handke seines kleinbürgerlichen Denkens wegen schalt, gar nicht ahnend, wie recht er mit seiner Selbstcharakterisierung doch hat. Denn weltanschaulich ist der Anarchismus die Kehrseite der Bürgerlichkeit. Belegbar an jedem Satz Kliers und an einer Aussage Handkes wie dieser: „Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist, hier und woanders, (höchstens eine anarchistische).“

Für den Anarchisten existieren die ökonomischen Bedingungen der sozialen Revolution nicht. Der Individualismus, dem er lebt, führt auch zur Vereinzelung im Kampfe. Die Aufsichbezogenheit zur Aufsichgestelltheit. „Durch die Schrecken des Kapitalismus wild gewordene Kleinbürger“ hat ein politischer Kopf nach dem ersten Weltkrieg die damals in Mode geratenen Radikalsten und Anarchisten genannt. Der Anarchist, das ist der Kleinbürger, der nicht aus und nicht ein weiß und zu blindwütigem Terror neigt. Handke angesichts eines Kinopublikums in einer Nachtvorstellung: „Mein Wunsch, daß man sie zusammentun würde, die linke Scheiße und die rechte Scheiße, die liberale Scheiße dazu, und eine Bombe daraufschmeißen.“ Der Unterschied zum kleinbürgerlichen Faschisten?

Der Anarchist ist etwas ganz und gar Weltabgewandtes, unfähig zum organsierten Kampfe, zu Solidarität, zu politischer Arbeit. Ein Gedicht, anderes Beispiel, des von manchen als linker Autor angesehenen Ludwig Fels beginnt mit den Zeilen: „Morgen geh ich zu meiner Geliebten / der unvergänglichen Genossin Anarchie / die mir Lust bereitet / seit ich denken kann.“ Endend: „Sie säugt und tränkt / die ganze Welt / meine Geliebte / die unvergängliche Genossin / Anarchie.“

Die russischen Radikalisten der Jahrhundertwende hatten schon die Theorie vom exzitierenden Terror, der seit 1968 besonders unter deutschen Kleinbürgern en vogue ist. „Jeder Zweikampf eines Helden“, formulierten sie, „weckt in uns allen Kampfgeist und Mut.“ Wieder, immer noch beim Gegenstand Kleinbürger, denken wir an den Helden Karl Kraus, der mit Vorliebe sich duelliert hat. All diesen Irrungen liegt eine maßlose Überschätzung des Einzelnen, ein grundloses Vertrauen auf die eigene Wunderkraft und eine hochmütige Verkennung jener Kräfte zugrunde, die die gesammelten Massen aufzubringen vermögen. Objektiv sind Anarchisten gegenproduktiv und haben die Funktion der Zersetzung des organisierten Kampfes. Da ist neuerdings noch ein Schauplatz, wo wir unsere beiden ungleichen Gleichen, Handke, Klier, antreffen, der in und um Hainburg. Turrini ist da, Roth, Nöstlinger und Henisch sind es, Linksopportunisten sonder Zahl. Was machen sie da? Sie zeigen uns, für welche Seite sie sich bei allem scheinbaren Durchlavieren durch die Kämpfe der Klassen entschieden haben. Gehen wir näher heran!

Die soziologische Skizze eines klarköpfigen Beobachters aus jenen Tagen hat manches für sich:

Linksintellektuelle haben vielfach Phase der Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung durchlaufen, den Marxismus (mindestens) gestreift, „Kapital“ und „Arbeit“ problematisiert. Jetzt sind sie, wie nie anders angestrebt, anderswo gelandet, vom Wissen ist ihnen ein Gewissen geblieben. Daß so ein beladenes Gewissen auch einmal entlastet werden will, hat uns der kaum verborgene, nur patschert auf die Gewerkschaftsbosse umgelenkte Haß auf die Arbeiter gezeigt. Der Schriftsteller Gerhard Ruiss: »Die Intellektuellenfeindlichkeit im ÖGB ist ein richtiger Kulturkampf, angezettelt von Gewerkschaftsbonzen.« Wie arbeiterfeindlich muß einer sein, um sich über Intellektuellenfeindlichkeit zu beklagen! Schön pervers. Man stelle sich vor, die Antisemiten beklagten sich darüber, daß die Juden ihnen ablehnend gegenüberstünden! Andere versuchen, die Arbeiter durch das Zitieren ausfälliger Bemerkungen über die Protestierer zu treffen („Falter“). Die mit den weißen Krägen, Reservoir der Grünen, haben innere Aversion entwickelt gegen den Schmutz. Sie sind für reine Natur, für weiße Krägen. Fabriken erinnern an Arbeit. An Arbeiten. An Arbeiter. Rühren an das schlechte Gewissen. Erinnern an die Jugendideale, die verschwommenen verflossenen. Die ökologische Bewegung ist im Angriff auf den Arbeiter. Man will Landschaft pur, Landschaft, in der auch keine Fabrik steht. Mit der Abschaffung der Fabrik meint man den Arbeiter abschaffen zu können. Indem man ihn »sinnvolle Produkte« herstellen läßt, meint man, ihn sinnvolle Arbeit tun zu lassen. Dieser Behandlung des Arbeiters vorausgegangen ist Verklärung der Geschichte der Arbeiterbewegung, die Entfernung des Arbeiters aus der Gegenwart und seine Heroisierung in der Vergangenheit. Problemloser Umgang des Intellektuellen mit dem Arbeiter! Der neue österreichische Heimatfilm ist ein einziges Polieren des Proleten. Ganze Verlage haben sich der Veredelung des Arbeiters in den ruhmreichen Zwischenkriegsjahren verschrieben. Dafür ist er aus den Medien völlig verdrängt bzw. auf eine statistische Größe heruntergemacht. Auf der Kulturseite mumifiziert. (Bezeichnend, daß ökologische Bewegung, die an der Elimination des Werktätigen arbeitet, gerade jetzt entsteht, da sich der Arbeiter infolge der Krise ins öffentliche Bewußtsein schiebt. Unter dem Schein der Beglückung des Arbeiters kann man sich seiner entledigen. In Wahrheit beläßt man ihn genau dort, wo er ist: in den Fängen des Kapitals.)

Die ganz banale Wahrheit, Walter Benjamin hat sie formuliert, daß der revolutionäre Kampf sich nicht abspielt zwischen dem Kapitalismus und dem Geist, sondern zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat, mögen die Intellektuellen nicht anerkennen. Oberhuber, Rektor, ließ im Dezember 1984 in Wien Plakate affichieren folgenden Inhalts: „Der Rektor der Hochschule für angewandte Kunst ist der Auffassung, daß die gesellschaftlich wichtige Rolle von Kunst und Wissenschaft in der Zweiten Republik noch nie in einer Art diskriminiert worden ist, wie durch die Maßnahmen und Aussagen der letzten Tage.“ Auch so ein schlauer Dummkopf, der bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten die dritte wählt. Aber, K.A. Wittfogel: „Zwischen den Fronten gibt es kein neutrales Feld, zwischen den Fronten wird man erschossen.“

Noch einen haben wir da, zwischen den feindlichen Linien hin- und hertapsend, der, auf die Darstellung von Innereien spezialisiert, nicht wohin weiß mit dem, was sich da außerhalb seiner abspielt. So flüchtet er, Gerhard Roth, sich ins Feuilleton der »Zeit« und schlägt dort rasend um sich, um am Ende der vier Spalten völlig lädiert und kenntlich geschlagen dazustehen. Mit Bert Brecht steht man skeptisch vor diesen peinlichen, beunruhigenden Unfällen, wo einer außer sich gerät. Wohin gerät er da? Es wird aber bald klar, daß er sich nur von der Grammatik befreit hat, nicht vom Kapitalismus. Was er angreift, SPÖ und SPÖ-Politik, nennt er „plump“, „tollpatschig“, „clownesk“, „kafkaesk“, „fett“, „schwerfällig“, „gehimwäscheartig“, „rostig“, „zerschlissen“, „ausgehöhlt“, „besinnungslos“, „protzig“, „tölpelhaft“, „pharisäerhaft“, „opportunistisch“ (Auswahl). Außer Rand und Band und Syntax. Schauderhaft, aber lehrhaft auch, wie einer, der nicht weiß was ist, auch keine Wörter mehr findet, wie einem das Vokabular, das er bemüht, beim Hinfassen auseinanderstiebt wie eine Vogelschar. Schrecklich anzusehn, aber man muß es ansehn, dieses mitleiderregende Imkreislaufen, unerträgliche, fast neurotische Gehabe, einem in einen Zookäfig gesperrten Tiere ähnlich, man muß, um von der Verlorenheit unserer Linksintelligenz eine Vorstellung zu haben. Wie wenig doch die Wut nützt, die sich nicht auskennt, und wie wenig der Wunsch vermag, die Wahrheit zu sagen, bei dem, der sie nicht weiß. (B. Brecht)

Diese von den Satten angeworfene grüne Bewegung hat auch unter den Künstlern des Landes, den ewig indifferenten, aller geheuchelten Neutralität zum Trotz, unbeabsichtigt, aber in den meisten Fällen eindeutig, die Entscheidung für oder gegen das System befördert, für oder gegen seinen Sturz. Der Geist weht, ganz entgegen der landläufig gemachten Ansicht, keineswegs links.

4

Wohin gehört der Kunst-Arbeiter grund seiner ökonomischen Verhältnisse? Und wohin tendiert er? Für welche Seite spricht er sich in Stellungnahmen aus und gegen welche in seinen Werken? Prüfen wir die subjektiven Absichten eines Künstlers, d.h. ob seine Motive richtig und gut sind, richten wir uns aber nicht nach seinen Deklarationen, sondern danach, inwieweit das Ergebnis seines Tuns den Zielen entspricht. Es interessiert uns nicht, wer sich als links, als feministisch, als revolutionär bezeichnet, es interessiert uns derjenige wahnsinnig, der revolutionär ist. Wenn der »engagierte deutsche Schriftsteller« Siegfried Lenz, der von der SPD engagierte, in einem Fernseh-Interview anläßlich seines Sechzigers kürzlich voller Stolz in die Kamera sprach, daß er sehr scharf zu trennen wisse zwischen dem politischen Menschen Lenz und dem Schriftsteller Lenz, so stellt das genau jene Lösung dar, die viele Künstler für sich gefunden zu haben meinen. Es ist ein dualistisches Konzept: Politik fortschrittlich — Kunst bürgerlich.

Der Schriftsteller C. schreibt gute Literatur, heißt es. Gut für wen? Gibt es eine abstrakte Qualität? Eine über den Klassen stehende? Es ist nicht die Frage, ist es gut oder schlecht. Was B. schreibt, ist irrelevant, es hat nichts zu tun mit den heutigen Menschen, es ist so getan, als ob es nicht getan wäre. Schriftsteller klagen über das mangelnde Interesse an (ihrer) Literatur, sie mit ihrer Literatur des mangelnden Interesses an der Wirklichkeit. Nicht: die Arbeiter interessieren sich nicht für die Literatur; die Literatur interessiert sich nicht für die Arbeiter.

In den Feuilletons haben sich auf den Kopf gestellte Kriterien für die Bewertung der Kunst durchgesetzt, künstliche, wie geringe Absetzbarkeit des Kunstprodukts, jahrelange »konsequente« Arbeit an einem Werk etc. etc.; ist es kurz, ist es lang?

Unsere Kriterien: — Wem nützt dieses Kunstwerk, wem nützt dieser Text? Wem nützt er nicht? — Wird bloß der Kunst ein politischer bzw. der Politik ein künstlerischer Anstrich gegeben oder wird mit den Mitteln der Kunst in die Politik eingegriffen? — Konkretisiert der Schriftsteller oder abstrahiert er? — Werden Zusammenhänge auf- oder zugedeckt? — Wird die Sache, die gezeigt wird, im Fluß gezeigt? — Wird unserer Zeit gegenüber der Standpunkt der Vergangenheit eingenommen oder der der Zukunft? — Werden die Widersprüche in den Dingen gezeigt? — Arbeitet der Künstler an seiner Aufhebung oder an seiner Inthronisation? — Erzeugt er einen kollektiven Rausch oder fördert er die Erkenntnis? — Vereinzelt der Konsum des Kunstprodukts oder führt er die Konsumenten zusammen (Bsp.: ein Rockkonzert mit zigtausend Besuchern macht u.U. zigtausend Einzelne aus ihnen, die die Augen schließen, mit dem Schädel wippen und sich den Takt auf die Hosen trommeln. Ein Handke-Bestseller, vieltausendfach verschlungen, befestigt die vielen tausend Individuen unter ihren Leselampen in ihrem Eskapismus. Andererseits kann auch ein im stillen Kämmerlein für sich gelesenes Buch zu einer Solidarisierung führen mit Menschen, die das Buch nicht kennen.)?

„Jede Literatur, so meine These“, paraphrasiert Franz Schuh eine Notiz des Karl Marx vor 125 Jahren, „hat, sofern sie eine ist, auch die ihr adäquate Form der Öffentlichkeit.“ Umgekehrt gilt, daß die literarische Öffentlichkeit die ihr adäquate Literatur hat. Um die dieser literarischen Öffentlichkeit adäquate Literatur und um die dieser Literatur adäquate Öffentlichkeit brauchen wir uns nicht weiter kümmern. (Das von den Lenz und Grass erzeugte Publikum hat die Handke und Strauß erzeugt. Die erzeugen jenes Publikum, das uns zu formen sucht.) Nicht wir scheitern an den Ansprüchen der Literatur, sondern die Literatur scheitert an unseren Ansprüchen.

Ein sich linker Schriftsteller nennender Kulturfunktionär hat vor kurzem bezüglich der Situation der Schriftsteller in Österreich und der Marktsituation für kleine Verlage und Literaturzeitschriften in ein ORF-Mikro hineingeklagt: „Es wird immer schlechter!“ Das ist der gar nicht linke Blick voll von Bedauern zurück, dem das Ziehen der Konsequenzen aus dem Erkannten so gar nicht entspricht. Das Ideal ist ein früherer Zustand. „Es wird immer schlechter!“ Natürlich. Sie werden immer schlechter. Die Mittel, mit denen sie auf die sich wandelnden Verhältnisse (nicht) reagieren, sind den Verhältnissen immer weniger angemessen. Der Gedanke, daß es ganz und gar unzweckmäßig, ganz und gar verbraucht ist, in ein Buch hineinzuschreiben, muß sich doch denken lassen! Die Rückwärtsgewandtheit, die Verkehrtheit der Künstler in Österreich hat »Hainburg« gezeigt. Die mit den Händen zu greifende, durch nichts wegzuargumentierende Wahrheit, daß es nur vorne weitergeht, wird ignoriert. Wir wollen nicht frühere Zustände wiederhaben, wir wollen kommende. Um Himmels Willen! Liegt die Vergangenheit vor uns oder die Zukunft?

Heraus aus den Büchern? Aber die Sachen, die sie in die Bücher hineinschreiben, können doch nur dort bestehen. Der Wirklichkeit halten sie nicht stand.

Wer davon ausgeht, daß die herrschende Wirklichkeit keinen Einfluß auf das Denken hat, darf auch davon ausgehen, daß sein Denken keinen Einfluß auf die Wirklichkeit hat. Alte Praktiken stehen veränderten Verhältnissen gegenüber. Auch die Vorstellung von der Resistenz des Geistes durch Insistenz ist anarchistisch. Es ist ein Tun, das nicht von den Tatsachen ausgeht, sondern von den Wünschen.

5

Die Produktionsgrundlagen der Gesellschaft haben sich vor und seit 150 Jahren geändert. Die Kunst tut so, als hätten sie sich nicht. Meint, wenn sie nur so tut, als hätten sie sich nicht, hätten sie sich nicht. Der Künstler ist sich, jedem geschichtlichen Fortgang zum Trotz, treugeblieben, d.h., er ist mit seinem Idealismus den hinter uns gelassenen Zuständen treu geblieben. Für den Kapitalismus dieses Jahrhunderts gilt, daß sich die freie Konkurrenz der Unternehmer zum Monopol gewandelt hat und wandelt. Daraus folgt ein gewaltiger Fortschritt in Richtung der Vergesellschaftung der Produktion. Dies gilt auch für den Prozeß der technischen Erfindungen und Entwicklungen. Für die Kunst soll das alles nicht gelten? Der Schriftsteller als einer, der von der »Inspiration« bis zum druckfertigen Manuskript alleine werkt, den die vergesellschaftete Produktion seines Werkes, vom Satz bis zur Auslieferung, nicht anficht? Zwei Zeitalter nebeneinander? Literaturindustrie dort und — wie ein gescheiter Mann schon vor 60 Jahren sagte — „Heimarbeiter, die an fetischisiertem Material mit fetischisierten Verfahren arbeiten und diese Verfahren gleich einem Heiligtum bewahren“, da?

Alle großen Leistungen werden heute kollektiv erbracht, ob auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Technik oder der Politik (ja, auch im Sport, wo hundert Hände einen Meister formen!). In Mißachtung des von den Antiquierten hochgejubelten Genius. Sie sagen zwar, ein Goethe ist heute nicht mehr möglich, bauen aber an den Ersatzgoethes. Wir sagen, Goethes Werk von einem Goethe, oder besser: ein Werk wie das Goethes von einer Person wie Goethe, ist nicht mehr möglich, wohl eine Person wie Goethe, wohl ein Werk wie seines — und mehr.

Parallel zur Vergesellschaftung der Produktion findet sie auch auf dem Terrain der Kunst, dem Terrain der geistigen Produktion statt. Vorne ist vorne! Das Denken der Ignoranten ist von der gesellschaftlichen Praxis losgelöst. Sie murren darüber, daß die Entwicklung zu rasch voranschreitet, wollen sie aufhalten oder rückgängig machen. Der Aktion werfen sie vor, daß sie sich nicht mehr an ihre Reaktion hält. Viele jagen, je näher die Kollektivierung, die der Kapitalismus mit sich bringt, rückt, desto verzweifelter der Autonomie nach. Wenn sie nicht mehr wissen wohin, schließen sie die Augen. Marianne Fritz, jüngstes Beispiel, sperrt sich ein, schreibt tausendseitige Texte, tritt nicht öffentlich auf und ist dafür von Verlag und Feuilleton hochhinaufgehoben worden.

Ob man tot ist oder lebt, darauf kommt es nicht an. Ob man was tut oder nicht, darauf! Es ist nicht die Aufgabe der Literatur, die Wirklichkeit in eine frühere künstlerische Form zu übersetzen. Die Form des Romans leistet nichts mehr. Sie ist ein Sarg für die Wirklichkeit. Kann sein ein schöner Sarg.

Der sich absolut setzende Künstler setzt natürlich auch sein Produkt absolut. Literatur nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck. Damit wird das neben Inhalt und Form dritte Kriterium, das der Funktion des Kunstprodukts unterschlagen. Wenn die Funktion außer acht gelassen wird, ist es gleichgültig, an welchem Thema ich meine Kunst abführe. Es kann auch die Bauchspeicheldrüse sein.

Hier unterscheidet sich der linksopportunistische Schriftsteller vom revolutionären Schriftsteller: ersterer füllt wohlfeile politische Inhalte in die hergebrachten Gefäße der Kunst, letzterer trachtet, für die Inhalte eine der Funktion entsprechende Form zu finden. Form ist eine Frage des Bewußtseinsstandes, viel mehr als Inhalt. Die Inhalte liegen griffbereit, linke, rechte, alternative, ein jeder kann sich greifen, wonach sein Herz oder der Zeitgeist lechzt.

Was immer sie auch darstellen, den Kleinhäusler oder den Lehrling, sie werden die Form nie sprengen, weil sie nichts wollen. Der Kunst einen politischen Touch geben, ist das gerade Gegenteil von: mit den Mitteln der Kunst politisch arbeiten. Wenn ich politisch handeln will und mich dazu des Schreibens bediene, werde ich nie und nimmer die Backform Roman füllen wollen, werde ich unausweichlich zu neuen, der Aktion eben möglichst entsprechenden Formen kommen. Mein Ziel, einen Weg zu bahnen, treibt mich dazu an, nach neuen Mitteln zu suchen, zumal die alten dafür nicht taugen. Der politische Kampf ist ein Motor literarischen Fortschritts.

Der bürgerliche Künstler, der seiner Zeit ein Jahr vorauseilen, im Herbst die (Frankfurter) Frühjahrsmode präsentieren will, hat null Veranlassung, nach mehr als nach etwas ein wenig anderem zu suchen, mehr als einen neuen, auffallenden, aber noch erträglichen Sinn-Reiz zu kreieren.

Die erste Frage ist: Wofür soll der Gegenstand, den ich formen will, taugen? Für eine Lyrikanthologie? Für ein Residenz-Buch? Zum Amüsement? Die Form, auch das Thema, ist abhängig von der Funktion, die ich dem Kunstgegenstand bestimme. Will ich mit meiner Arbeit in den Hörspiel-ORF hinein, werde ich Thema und Form eines ORF-Hörspiels wählen müssen. Es wird immer davon abhängen, was der Text soll. Soll er auf den Literaturmarkt? Soll er in die Praxis eingreifen? Je nach dem wird er ausschauen. Die ihm zugedachte Funktion entscheidet über die Form. Die erzielte Qualität der Form entscheidet über die tatsächliche Funktion.

In der Lesebuchsprache ist nichts mehr vermittelbar, zwischen zwei Rowohlt-Buchdeckeln ist nichts mehr vermittelbar. Dieser Umstand, nein, das Sehen dieses Umstandes, zwingt zu neuen Formen. Natürlich nur, wenn man etwas Neues sagen will, unbedingt sagen will. Dem gegenüber steht die mal buntscheckige, mal dreist gemusterte, mal aufschreckend grelle Gewandung des Immergleichen. Die richtige, d.h. fortschrittliche politische Einstellung wird den Schriftsteller nicht mehr in ein Buch hineinschreiben lassen, sie wird ihm verwehren, hier und heute noch in Storys zu machen. Sie wird ihm seine Zurückgezogenheit vermasseln.

Der Holzfäller verändert die Welt mittels seiner Axt. Der Schriftsteller mittels Sprache. So wenig es auf Seiten des Holzfällers mit der Präparation der Axt getan ist, so wenig ist es das auf der Seite des Schriftstellers mit der Organisierung der Sprache. Beide haben mit ihrem also bereiteten Werkzeug in die Wirklichkeit einzugreifen. Daß sie das mit einem funktionierenden, der Funktion entsprechenden Instrument, einer scharfen Waffe, besser können, denkt sich.

Ob der Mensch schustert, tischlert oder ein Kleid näht, seine Tätigkeit wird nach ihrer Nützlichkeit beurteilt. Nur die des Künstlers nicht. Ja, hier ist Nützlichkeit dem Wert des Produktes geradezu abträglich, scheint es. Die Kunst, einen Stuhl zu zimmern, wird sehr wohl am Ergebnis geprüft, an der Brauchbarkeit des Möbels. Der Text wird nicht an seiner Funktion in der Wirklichkeit gemessen. Die Beurteilung des Kunstwerks bleibt der Willkür des Betrachters überlassen. Als gäbe es die Kriterien gut und schön unabhängig von der Funktionalität. Für gutes Design gilt, daß schön funktionell und funktionell schön ist. Nicht das Thema führt zur guten Form, zur Schönheit, sondern die Funktion.

Eine Formulierung ist nur so gut wie das, was sie bewirkt. Ein Sessel ist so gut wie das Sitzen darauf ist. Das eine, Schönheit, ist ohne das andere, Nützlichkeit, nicht zu haben. Nützlich ist schön.

Eine törichte Vorhaltung gegenüber der „politischen Kunst“ ist, daß dabei die Kunst auf der Strecke bleibe. Doch ist im Gegenteil höchste Kunst nötig, um politisch wirksam zu werden, durch das Dickicht der Zerstreuungs- und Affirmationsliteratur hindurch. Das Ziel, die Wirklichkeit zu verändern, schreit nach den Mitteln der Kunst.

Sie entnehmen der Wirklichkeit Stoff, formen ihn und stellen das Geschaffene nicht mehr in die Wirklichkeit zurück. Sie überprüfen die Tauglichkeit des Hergestellten nicht in der Praxis, nicht durch seine Leistung in der Wirklichkeit. In Wahrheit ist nichts Geschaffenes ohne Funktion. Selbst das Kunstwerk, das meint, ohne eine zu sein, hat eine, hat die der Täuschung. Die Tauglichkeit des Kunstprodukts erweist sich in der Praxis, nicht im Kulturjournal. Jenes mißt jedes neue Werk an älteren Werken, an früheren, nicht an den Erfordernissen der herrschenden Zustände. Der Beurteilungsraster, der über jeden neuen Text gelegt wird, stammt aus der Vergangenheit. Wir aber haben den Standpunkt der Zukunft eingenommen und fragen, was leistet dieser Text für die Veränderung der Praxis auf diese Zukunft hin? Im Feuilleton ist die horizontale Neuheit, die Originalität gefragt, nicht die qualitative. (Originalität als erstes Kriterium infolge der inhaltlichen und formalen Uniformität!) Hier wird deutlich, daß die herrschende Kulturkritik eine bewahrende, stabilisierende Aufgabe hat. Sie hat die ungemein schwere Aufgabe, die Fiktion aufrecht zu erhalten, daß die Kunst kein Produktionsprozeß unter anderen Zweigen der Produktion ist.

Je weniger ein Schriftsteller weiß, was er sagen soll und wie er es sagen soll und wem er es sagen soll, desto mehr wird er auf seine Inspiration setzen. Je klarer ihm aber das Ziel, desto unentbehrlicher wird ihm der Verstand sein — und nicht nur der eigene. Er wird auch die Fähigkeit zu entwickeln wissen, alle verfügbaren Kräfte zur Erreichung des Zieles zu sammeln.

Immer schreiben wir über eine Sache, über die wir einmal etwas schreiben möchten. Immer gehen wir von uns aus. Nur solche Dinge nehmen wir wahr, von denen wir meinen: »Da fällt mir etwas dazu ein!« Es geht nicht ums Einfallen, es geht nicht darum, was sich das Köpfchen dazu denkt, sondern darum, was Fakt ist. Es gibt Dichter, die ein Dichterleben leben und es in biographischen Jahrbüchern begleiten. Gibt Dichter, die schreiben über gefundenes, zuweilen auch gesuchtes Material, aber es ficht ihre Biographie nicht an. Und es gibt solche, die in das Material, das sie gesucht haben oder von dem sie gefunden worden sind, eindringen und es zum Bestandteil ihrer Biographie werden lassen. Sergej Michailovic Tretjakov hat uns in seiner Arbeit ein Beispiel dieses »operierenden Schriftstellers« gegeben. Die eigene Biographie gestalten, heißt damit auch, die Wirklichkeit verändern. Der Schriftsteller ist des Materials wegen da, nicht umgekehrt. Geschaffen wird eine andere Wirklichkeit, der Schaffende ist der eingreifende Schriftsteller, sein Werzeug ist die Kunst.

„Ich bin nicht wichtig“, sagt der fortschrittliche Künstler, „aber was ich tun sollte, ist wichtig! Später wird man auf den Friedhof getragen.“ Das Wissen ist nichts, wenn es nicht bis zum Handeln reicht. Der größte Fort-Schritt, den ein Intellektueller machen kann, ist der Schritt zum Handeln. Der Dichter, der nur beschreibt, ohne aus dem Beschriebenen die sich ergebenden Schlüsse zu ziehen, gleicht dem Manne der ein Loch aushebt, ohne etwas hineinzutun, mit der Ansicht, es werde schon jemand etwas anzufangen wissen mit dem Loch.

6

Welches sind die Produktionsmittel des Schriftstellers? Es sind, neben unmittelbaren Arbeitsmitteln wie Kugelschreiber und Schreibmaschine, solche wie Bildung und Wissen um die Produktion von Literatur unter den gegebenen Umständen. Wem gehören diese Produktionsmittel? Dem Schriftsteller. Die Schriftstellerei ist, könnte man sagen, ein Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln. Die Produktionsverhältnisse der Kunst sind noch, wir sagten es schon, auf einem frühkapitalistischen Stand, einem, der bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in vielen Bereichen vorgeherrscht hat. Die Einstufung des Künstlers als Unternehmer durch das Finanzamt ist keine Finte des Amtes, sondern entspricht den ökonomischen Grundlagen. Und diesen entspricht das Selbstverständnis der Künstler als Selbständige, als Freie. Die Freiheit, die sie meinen, ist folgerichtig die Freiheit des Wettbewerbs beim Verkauf von Meinungen und Kenntnissen. Rundherum haben sich die Produktionsweisen entwickelt, die Künstler aber verharren in ihren anachronistischen Ansichten und meinen Widerstand gegen eine Entwicklung, die lange schon über sie hinweggegangen ist. In Wahrheit sind sie konservativ, so bunt sie auch pinseln, so fetzig sie auch dichten, weil die Umstände ihrer Produktion konservativ sind. Der Stehsatz „Es wird immer schlimmer!“ zeigt, von welcher (geschichtlichen) Warte aus sie die Entwicklung verfolgen. (Getreu den Ansichten, die der Kapitalismus von uns verlangt, sehen sie ihn als Zustand, nicht als geschichtliche Periode. In Wirklichkeit wird es immer kürzer bis dahin, wo es besser wird.) „Es wird immer schlimmer!“ kann nur heißen, es wird für den kleinen selbständigen Unternehmer schlimmer. Das ist der Gang des Kapitalismus zum Monopol.

Der Betreiber einer Schriftstellerei erzeugt mit den ihm gehörenden Produktionsmitteln, durch Arbeit mit denselben, eine Ware, die verkauft wird. Den Erlös schafft — wie überall — die im Produkt enthaltene Arbeit. Er wird zum Teil, soweit er das zum Leben Notwendige übersteigt, wieder in die Produktionsmittel investiert (Maschinen, Bildung, Reisen). Die Produktion wird fortgesetzt. Der kapitalistische Produktionsprozeß reproduziert wie überall die Produktionsverhältnisse. Wessen Arbeit beutet der Schriftsteller-Unternehmer, der wie jeder Unternehmer Arbeit ausbeutet, aus? Vornehmlich seine eigene (häufig auch die seiner Frau). Er ist sein eigener Lohnarbeiter und zugleich dessen Kapitalist, der die Produktionsmittel besitzt und zur Verfügung stellt. Der Künstler verkörpert die beiden Seiten des kapitalistischen Wirtschaftens, hier der Arbeiter mit seiner Arbeitskraft, dort der Unternehmer mit seinen Produktionsmitteln, in einer Person. Und er reproduziert sich als Arbeiter einerseits und als Unternehmer andererseits — in alle Ewigkeit hinein.

Seine gesellschaftliche Stellung, die er gerne als eine über den Klassen sieht, ist bestenfalls eine zwischen der Klasse der Arbeiter und der Klasse der diese auspressenden Kapitalisten. Seine tatsächliche Stellung im Produktionsprozeß ist verantwortlich für den Standpunkt, den er vertritt.

Die ökonomischen Bedingungen, unter denen er produziert, trennen ihn von den arbeitenden Menschen, denen nichts als ihre Arbeitskraft gehört. Vorzugsweise produziert er dann auch für die gesellschaftliche Zwischenschicht. Der Schriftsteller, der dem Bürgertum die Figur des Arbeiters nahebringt, lehrt dieses, nicht die Arbeiter. Lehrt es in dessen Form. Auf dessen Niveau. Die Funktion des Kunstprodukts bestimmt seine Form.

Autorenförderung ist Untemehmerförderung, die es dem Jungautor gestattet, sich Produktionsmittel (Fachkenntnisse bzgl. Marktlage und Produktstyling z.B.) anzueignen. Der Literaturpreis ist eine Sondersubvention oder eine Investititionsprämie. Der Staat weiß es, und der Künstler will es nicht wissen. Er liebt den schönen Schein.

Natürlich ist der Unternehmer Dichter abhängig vom Unternehmer Verleger, aber ist es nicht ebenso der Spinnereiunternehmer vom Webereiuntemehmer? Was er tun kann, wenn er es tun kann, ist, er kann das Unternehmen Verlag übernehmen (s. Konsalik), wie der Besitzer der Spinnerei die Weberei übernehmen kann.

7

Wofür die Mühe des langen Hinsehens? Was lernen wir aus der Anschauung der Verhältnisse? Welche Schlüsse ziehen wir aus unseren Erkenntnissen? Welche Praxis entspricht ihnen?

Wir müssen unsere Produktion auf eine neue Basis stellen: Die fortgeschrittenste Form des Produzenten ist nicht, wie es viele noch möchten und noch mehr wieder möchten, das Individuum, der Kleinstbetrieb, sondern das Kollektiv. Der Künstler ist aufgrund seiner Produktionsweise und des auf dieser Basis sich bildenden Bewußtseins unfähig zum Zusammenschluß. Von der Vorstellung, die Intellektuellen und Künstler könnten sich mit den Massen zum Kampf gegen die Herrschenden verbünden, ist Abschied zu nehmen. (Bezeichnenderweise heißt das Buch eines französischen Paradeintellektuellen „Abschied vom Proletariat“ und nicht „Abschied von den Intellektuellen“!) Die Forderung an den revolutionären Künstler kann daher nur lauten, nicht mit den Intellektuellen, sondern mit den fortschrittlichen Kräften zu arbeiten. Diese Forderung ist konkret und steht jener diffusen nach dem Bündnis mit dem Volke entgegen, die nur jenes der antiheimattümelnden neuen Heimattümelnden mit dem rückständigsten Teil der Gesellschaft gebracht hat.

Wenn wir die Geschichte betrachten, betrachten woraus die Gegenwart sich entwickelt hat, was aus ihr sich entwickeln wird (die Zukunft!, nicht die Vergangenheit!), kommen wir nicht daran vorbei, mit den entwickeltsten Teilen der Gesellschaft, ihrer Avantgarde, d.h. der Arbeiterschaft, uns zusammen zu tun. Daß der Kapitalismus sich selbst an sein Ende bringt, durch die in ihm wirkenden Widersprüche, ist keine kommunistische Propaganda, sondern durch Hinschauen auszumachende Tatsache. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist, wollen wir mit vorausgehen oder wollen wir versuchen, die unaufhaltsame Entwicklung aufzuhalten.

Was aber heißt, die Produktion auf eine neue Basis stellen? Es heißt, die Bedingungen der Kunstproduktion auf den Stand der fortgeschrittensten Produktionsbedingungen heben, heißt, die Produktion vergesellschaften. (Auf Basis der Produktionsweise der Vergangenheit den Produzenten im entwickeltsten gegenwärtigen Stadium der Produktionsweise Vorschläge für künftige Produktionsweisen zu machen, will nicht gehen.)

Die Vergesellschaftung der Produktion setzt den Zusammenschluß der Produzenten voraus und zieht die Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel nach sich. In der derzeitigen Phase des Kapitalismus haben wir größtenteils eine vergesellschaftete Produktion einerseits und Privateigentum an den Produktionsmitteln andererseits. Wie den Zusammenschluß der Produktion, wie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bewerkstelligen?

Das Kollektiv der Geistigen, eine beliebige Anzahl von Privatexistenzen, ist weder herstellbar noch wünschenswert. Der Autor hat sich, um an der heute fortgeschrittensten Produktionsweise Anteil zu haben, in die Produktion einzugliedem. Um teilzuhaben, muß er teilnehmen. Schon solche praktischen Erwägungen drängen zum Zusammenschluß mit der Arbeiterschaft. Die Losung in die Massen hineingehen (und zwar nicht mit dem Produkt, sondern als Produzent, als Produzent unter Produzenten) fußt auch auf anderen Überlegungen. Es wirkt der Mensch wo er steht, der Tischler wie der Dichter. Steht der Dichter abseits, wird er nicht gesellschaftlich praktisch wirken können. Auch wenn er noch so sehr an seine Fernwirkung glaubt. Will der Künstler, wie viele »linke Künstler« es sagen, für die Arbeiter schreiben und nicht bloß für die Besitzbürger über sie, dann muß er in die Massen der Arbeitenden hineingehen, nicht ihnen mit seinen Themen kommen, sondern muß von ihnen ausgehen und zu ihnen zurückkehren. Man schreibt nicht für die Arbeiterklasse indem man über sie schreibt, man schreibt für die Arbeiterklasse indem man für sie schreibt. Das Thema ändert sofort sich. Den Arbeitenden brauchen wir nicht zu sagen, wie es den Arbeitenden geht. Nicht auch, wie es im Bürgertum zugeht. Die Form dient der Funktion des Textes und läßt die Kategorien der bürgerlichen Literatur hinter sich. Es geht ja in der Welt nicht zu wie in einem Residenz-Buch. Noch in der verlogensten und mißbrauchtesten regionalen Wochenzeitung ist aufgrund ihrer Produktionsweise mehr von dem enthalten, was das Arbeiterleben bestimmt.

Die Praxis ist nicht etwas, was ins Haus kommt. Durch die unmittelbare Verbindung des Produzenten mit denen, für die er ein Produkt schafft, kann er jederzeit den Wert seines Erzeugnisses in der Praxis überprüfen. Funktioniert der Text oder funktioniert er nicht? Die Messung der Leistung der Arbeit des Künstlers an der zu leistenden, erlaubt ihre Verbesserung, der Gebrauch eines Textes in der Wirklichkeit erst ermöglicht seine dem Zweck entsprechende Formung.

Der große Widerspruch des Kapitalismus, auf dessen Unüberwindbarkeit er ungebremst zusteuert, ist der zwischen der vergesellschafteten Produktion (Produktion als gesellschaftlicher Akt, in dem jeweils viele Individuen zusammen ein Produkt herstellen) und dem Eigentum ganz weniger an den gesamten Mitteln der Produktion. Hier wird die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie zusammenbrechen muß. Kann nun der künstlerisch Produzierende inmitten der nicht mit ihren eigenen Produktionsmitteln Produzierenden stehen als einer, der mit seinen eigenen Produktionsmitteln produziert?

Natürlich nicht! Es geht hier weniger um die Arbeitsmittel als um die geistigen Produktionsmittel, um die Bildung beispielsweise, die das Bürgertum dem Künstler in gutem Glauben mitgegeben hat. Ist der Künstler bereit, dieses sein Wissen, seine Kenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben, das heißt ihre Vergesellschaftung zu betreiben, oder hält er daran als den ihm gehörenden, seiner Produktion vorbehaltenen Produktionsmitteln fest? Bedarf er seines Privilegs, das Bildung halt ist, um sich zu produzieren? Ist er bereit seine Basis zur Basis aller zu machen, das heißt, ist der Künstler bereit, seine eigene Aufhebung zu betreiben? „Die großen Texte des Jahrhunderts“, schreibt Heiner Müller, „arbeiten an der Liquidation ihrer Autonomie, Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der Enteignung, zuletzt am Verschwinden des Autors.“ (1979)

In dem Maße, in dem der künstlerische Produzent bereit sein wird, sein Wissen, soweit von Nutzen, an die in der Produktion Stehenden abzugeben, wird er auch bestrebt sein, von diesen Wissen zu erhalten. Wer nichts lernt, wird nichts lehren können. Um für jene Klasse arbeiten zu können, die für die bestehenden Probleme die realistischen Lösungen bereithält, ist es notwendig, daß der Künstler unter Hintanstellung seiner eigenen Wichtigkeit in die Massen hineingeht. Wen will ich führen, oder — was das gleiche ist — wem will ich dienen? Sind es die Intellektuellen? Nein? Die Arbeiter? Ja? Dann muß ich sie kennenlemen.

Die Kunst ist nicht das Mittel zur Veränderung der Welt, sondern eines unter anderen. Wörtlich: unter anderen. Wenn wir nun nach der Aufgabe der Literatur fragen, müssen wir uns vor Augen führen, mit welchen Tat-Sachen wir es im Moment zu tun haben. Aus dem Kampf heraus müssen wir Formen und Mittel entwickeln und nicht den verfügbaren vorhandenen Formen und Mitteln unseren Kampf anpassen. Wir mit unserem DIN-Denken! Wo, bitte, steht, daß Kunst legal sein muß? (Es steht ja wirklich wo! Bezeichnenderweise zwingt gerade das von unseren linksopportunistischen Künstlern hochgelobte »Die-Kunst-ist-frei«-Gesetz die Kunst in gesetzliche Schranken!) Wir müssen von der Wirklichkeit ausgehen und nicht von abstrakten Problemen, und wir müssen unsere Vorgangsweise danach wählen.

Mit welchen Tatsachen haben wir es also gegenwärtig zu tun? Es sind unter anderem folgende Tatsachen: Kriegsvorbereitungen der militärischen Blöcke, Druck des internationalen Kapitals auf die nationale Wirtschaft, Liquidierung der nationalen Industrie bzw. Rausverkauf durch die Regierung, verfassungswidrige Eingliederung Österreichs in den NATO-Pakt, Wiedererstarken der Reaktion.

Den Tat-Sachen stehen Menschen mit vereinzelten Eindrücken von den Vorgängen gegenüber, die sie jedoch nicht zu vervollständigen und nicht in Erkenntnisse umzuwandeln in der Lage sind. Und den Tat-Sachen stehen auch viele kleine Gruppen gegenüber, die — isoliert voneinander — gegen die Vorgänge ankämpfen. Wo liegt die Aufgabe des Schriftstellers? Da und dort. Er hat den Zusammenschluß der aktiv-fortschrittlichen Kräfte zu fördern, und hat mit diesen den Erkenntnisprozeß der Massen voranzutreiben, das heißt, ihnen das reichhaltigste Material vor Augen zu führen und ihnen bei der Verarbeitung der gewonnenen Eindrücke zu helfen. Die Arbeit des Schriftstellers besteht dabei in der Umsetzung der von einem jeden dauernd gemachten Wahrnehmungen in die Erkenntnis von den inneren Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen der Erscheinungen und in der dann möglichen und nötigen Bildung von Begriffen. (Wir können ja nie alle Dinge der Welt anschauen, wir sind gezwungen nach einer Zeit des Sammelns von Beobachtungen durch Denkarbeit Schlüsse zu ziehen, die allgemein Geltung haben. Nur die Denkfaulen recherchieren unaufhörlich. Wir dürfen dabei nicht stehenbleiben! Die gewonnene Erkenntnis ist mehr als die Summe der empfangenen Eindrücke. Je reichhaltiger das zu analysierende Material dabei ist, und je sorgfältiger unsere gedankliche Verarbeitung desselben, desto richtiger werden unsere Erkenntnisse sein. Erst dieser zweite Schritt, die Theoriebildung, ermöglicht den dritten, den entscheidenden, den zur Praxis: die Ausnutzung der Kenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten für die aktive Umgestaltung der Welt.)

Der Schriftsteller hat die Informationen zu beschaffen, nach denen den Massen ist. Was wollt ihr wissen? Wovon möchtet ihr mehr erfahren? Worüber wollt ihr unterrichtet sein? Über die Geschäfte des Raiffeisen-Konzerns? Über die Gegenwehr der Bevölkerung in einem anderen Land? Über die Pläne ausländischer Machthaber mit unserem Land? Der Schriftsteller hat zu recherchieren und sich in den Dienst der Sache des Volkes zu stellen. Was wollt ihr sagen? Worüber möchtet ihr euch mitteilen? An wen wollt ihr euch wenden? Der größte Schriftsteller ist nicht zu groß, um Sekretär der kleinen Leute zu sein.

Die Arbeit des Schriftstellers besteht keineswegs nur in der Destruktion, wie viele linksbürgerliche Schriftsteller meinen. Im Gegenteil: die wesentliche Aufgabe des fortschrittlichen Künstlers ist eine organisierende. Er weiß um die Unterlegenheit der Geistigen gegenüber den bestehenden Verhältnissen und um die Überlegenheit der organisierten Massen den bestehenden Verhältnissen gegenüber. Die Kapitalistenklasse kann nur mit der Arbeiterklasse, nur durch die Arbeiterklasse bekämpft und überwunden werden. Die Forderung an den Schriftsteller besteht auch in der Organisation des Aufbaus eines schlagkräftigen Vortrupps, in der Förderung des Zusammenschlusses aller fortschrittlichen, nicht sektiererischen Gruppen.

Der revolutionäre Schriftsteller muß sich mit den Massen verbünden, und muß sich aktiv an solche politische Schrittmacher anschließen, das heißt, sich ihnen zur Verfügung stellen. Das heißt u.a.: Texte schärfen, Losungen herausdestillieren, Flugblätter ausarbeiten. Schreiben als Handeln. Literatur ist etwas, was abfällt, nicht etwas, was angestrebt wird. Etwas was nötig ist, nicht etwas, was genug ist.

Also: Spielt der revolutionäre Kampf sich ab zwischen dem Geist und dem Kapitalismus? Ist das Material des Schriftstellers wegen da oder ist es umgekehrt? Ist die Form eine Sache des Bewußtseins ? Wohin gehört der Künstler aufgrund seiner ökonomischen Verhältnisse? Gibt es die Kriterien gut und schön unabhängig von der Funktion ? Welches ist die fortgeschrittenste Form des Produzenten? Basiert der Standpunkt des Künstlers auf seiner Stellung im Produktionsprozeß? Sollen wir mit den fortgeschrittensten Teilen der Gesellschaft oder mit den Intellektuellen arbeiten? Wie ist der Wert eines Erzeugnisses zu überprüfen, was ermöglicht seine Verbesserung? Müssen wir den vorhandenen Mitteln und Formen unseren Kampf anpassen? Hat der Künstler an seinem Verschwinden zu arbeiten?

Damit sind wir schon ziemlich weit. Schon fast in der Nähe dessen, was zu tun ist.

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