FORVM, No. 107
November
1962

Die Klauen des Doppeladlers

Österreichs Geschichte läßt sich mittels Geschichtsschreibung nicht darstellen, nur mittels Romanschreibung. George Saiko — aus Böhmen gebürtig, Dr. phil., Psychologe und Kunsthistoriker, nach der Rückkehr aus angelsächsischer Emigration in Wien ansässig und soeben mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet — hat auf solchem Gebiet Wesentliches geleistet durch seine Romane „Auf dem Floß“ (1948) und „Der Mann im Schilf“ (1954), beide den Bannkreis der alten Donaumonarchie ausmessend, der zweite gleichwohl, mit dem Jahr 1934 als eigentlichem Thema, bis an die Ränder der Gegenwart vorstoßend. Sehr fern literarischem Getümmel, wurde dem nun 70jährigen erst allmählich die gebührende Anerkennung zuteil — ein solides Indiz für Qualität. Im Hans Deutsch Verlag erscheint noch vor Ende dieses Jahres unter obigem Titel ein Band Erzählungen, welchem das nachfolgende Kapitel entstammt.

Was konnte jämmerlicher sein als der väterliche Ernst vor Dingen, nach deren Nützlichkeit er sich längst so zweckmäßig eingerichtet hatte, daß es ihm bereits selber vorkommen mußte, als glaube er an sie. Die geschiedene Pleß-Neuroth, die Pferde-Neuroth, Siegerin in soundsovielen Provinz-Rennen, Vaters „Eigentliche“, bei der er sich jetzt, wie Mutter schrieb, „Tag und Nacht“ aufhielt, nützte die Situation, sich als Wahlmama aufzuspielen.

Hugo war erstaunt. Hatte der Krieg und der Pflichtgruß in dem Brief an den Vater die Erinnerung an seine Miene wirkungslos gemacht: Die Neuroth stand vor ihm, eine harte Schimmelstute, er merkte, sie hatte bereits einen Anlauf genommen, nun konnte ihr die abweisende Entschlossenheit, mit der er den Blick hob, nicht entgehen. Trotzdem gab sie noch nicht auf:

„Ja, Hugo, es ist eben so, seit ich dich kenne, ist mir als hätte ich einen —“

Hier genügte die Beschäftigung mit den Handschuhen (immer brüchige, maßlos abgenützte Reithandschuhe) oder der Zigarette nicht mehr, sie verschluckte das Wort, bannte ihn, brachte ihn wieder unter sich, indem sie die Reitgerte fallen ließ. Während er sich gehorsam bückte und mit allzu lautem Lachen hochkam: „Sie richten Ihre Scherze zu sehr für die kindlichen Jahrgänge ein.“

Er fühlte, sie würde zurückweichen, sich im Neutralen halten. „Ich bin kein Sohn, nicht nur nicht der Ihre, sondern überhaupt keiner. Da schon eher —“

Indessen brachte sie sich in Sicherheit: „In manchen Augenblicken erinnerst du verblüffend an den Papa —“

Es dauerte nicht lange und sie ritt bereits wieder den braunen Hengst ihrer Erfolge. (Wirklich ihr innerster Wunsch oder wollte sie es nur dem Vater zuliebe: Da es nicht möglich war, das Kind in den eigenen Uterus zu praktizieren vielleicht bot es Aussicht, ihm einzureden, daß es die Vollendung wäre, wenn er von dorther käme?) Wenn die Mama es wüßte, würde sie auch dazu schweigen? Sensitiv und widerstandslos zog sie sich zurück — wohin? Wie tief war dieses Ich oder bezog sie die Möglichkeit der Selbstbehauptung noch immer von dem Mann, der auch jetzt noch mit ihr das Schlafzimmer teilte und sein Vater war?

Bis der Abschied es offenbar machte. — Sie schien in den letzten Jahren noch kleiner geworden, ihre Hände fühlten sich immer etwas rauh an, wenn sie mit ihnen über seine Wange strich. Die Augen zu schließen und wortlos über seine Wange zu streichen, war wie eine feststehende Zeremonie, ein Symbol, das immer häufiger wiederkehrte. Sie schwieg — doch als er einrückte, dieses Aufbäumen, der Schrei, der sich nicht ersticken ließ, das Ungestüm, mit dem sie ihn an sich drückte.

War Resignation eine Kraft, etwas, wovon man leben konnte? „Geh nur, geh, ich bin schon wieder bei mir. Jaja — hie und da überschätzt man es eben, aber im Grunde ... „ist es nicht gleichgültig, auf welche Weise man immer einsamer wird?“

Ein Abschied von der Familie, den Verwandten, die Dienstboten im Hintergrund, bei dem das Fernstliegende an erregten Vergeltungswünschen aufschien, an Angriffslust und rachsüchtigen Verwundungsabsichten durcheinandergeriet — die Szene dürfte für den Vater am peinlichsten gewesen sein, vielleicht weil er der einzige war, der sie annähernd verstand. (Keine Vorwürfe mehr, kein Aufbrausen. „Der Bub geht mir aus dem Weg, das machst du, deine weiche unnachgiebige schleichende Art!“) Er sah von allem weg, kaute an seinem Schnurrbart, überließ es Hugo, für Abkürzung zu sorgen.

Und jetzt schrieb die Neuroth von Tante Melanies bevorstehendem Geburtstag (folgte Melanies genaue Adresse, sie lebte gegenwärtig bei einer Freundin, Schloß soundso auf dem Lande), während Onkel Eduard in der Festung ausharrte, von wo er alle drei Wochen ein Marschbataillon nach dem russischen Kriegsschauplatz schickte. Zuletzt das Paket warme Wäsche „Gib acht auf Dich, Deine Mutter“. Vielleicht umschloß der Satz nur die Quintessenz dessen, was die andern, für seinen Fall schon zurechtgeschnitten, ihm vorstellten.

Vielleicht waren nur die besonders früh einsetzenden Nebel schuld, sie schlugen alle in ihre graugrünlichen, braunen oder federig weißen Plachen, lösten sie aus jedem Zusammenhang. Man war plötzlich allein mit seiner Batterie, seinem Fort, dem Stück Straße oder Strand, zwanzig Schritt ringsum begann das Nicht-mehr-Erkennbare, vielleicht schwebte man, vielleicht hatte es einen schon ins Unbekannte entführt. Es kam näher und wenn es ganz da war, versank man einfach — Meer oder Himmel, die gleiche Art einen auszulöschen.

Jeder wußte, es war falsch, war als setze man mit krampfhaft fingierter Angstlosigkeit den Erstickungstod im Bett gegen diese hilflose Tortur, daß es einen traf und schmerzhaft verletzte von irgendwoher, ungezielt und (es ließ sich nicht anders denken) unbeabsichtigt, von Nichtwollen zu Nichtwollen überspannt von dem raschen Bogen des Zufalls.

War es die sichtbare Darbietung von Gottes grausam-irdischer Hand, der Beweis, daß alles in ihm vorbestimmt und beschlossen ist? Nichts war es, und wenn es Gottes Hand war, hatte sie die kalte klebrige Feuchtigkeit des Herbstmorgens, sogar die Sonne war ohne Wärme und lag gedunsen auf den Bergkuppen, blaßgelb, konturlos, schwer wie Öl. Nach ein paar Minuten erstickte sie unter der schleimig farblosen Masse, die unaufhaltsam den Himmel überschwemmte, und es gab nichts als den pochenden Herzschlag, das Atmen in einem riesigen luftdünnen Raum, die Angst.

Es dauerte, bis sie schließlich den kühlen trockenen Boden spürten, auf dem sie im Gebüsch lagen. Bereitschaft und wieder Bereitschaft, die Tage und Nächte waren darin aufgeteilt, das einzige Symptom, daß jenes französische Kanonenboot oder was es sein mochte, noch immer irgendwo da war, eine Gefahr, von der es nicht den geringsten Beweis, überhaupt kein Zeichen gab. Die Witze über den Onkel Eduard und den Hafenadmiral, die diese Bereitschaften anordneten, wurden zahlreicher, es war längst überflüssig, dabei die Stimme vor den Offizieren zu senken. Hugo beschloß, beim Onkel Eduard endlich Besuch zu machen, vielleicht würde er so aus verläßlicher Quelle erfahren, warum sie die halben Nächte draußen im Frost lagen, während die zähe Masse ihnen zu Häupten immer niedriger wurde, die angeblich die aufkommende Bora bedeutete.

Aber als Hugo in den Marktplatz einbog, regnete es zum ersten Mal, ein scharfer Wind trieb ihm die glasharten Tropfen schräg ins Gesicht. Sich unter dieser Bora das Harmloseste vorzustellen, hinderte nur der unruhige grelle Widerschein auf Häusern und Himmel, das sonderbare Leuchten wie von einem nahen Unwetter ohne Gewitter (dabei dennoch am ehesten als Reflex eines Gewitters denkbar), niemand war da, der darauf achtete, am allerwenigsten der Onkel Eduard, der gerade an der Spitze eines breiten Keils von Offizieren auftauchte, den rotgefütterten Mantel offen, die goldene Feldbinde schimmernd über dem runder gewordenen Bauch, als sei sie der geheime Ausgangspunkt und Ursprung des unnatürlichen Lichtes ringsum, strebte er, jovial mit dem Reitstock gestikulierend, der Kommandantur zu.

Hugo drehte sich auf der Stelle um, ging automatisch direkt nach Casa Bori, meldete sich zurück, wurde noch für die Abend-Bereitschaft eingeteilt. Sie waren auf halber Strecke zur Gebüschzone, ungedeckt und ungesichert auf dem von den Pionieren verbesserten Karrenweg, da geschah es: unglaublich rasch, auch nachher kam es ihm vor als habe es kaum eine halbe Minute gedauert. Er dachte zuerst an abstürzende Flieger, aber es hätten mehrere sein müssen, ein Krachen, als würde Stahl und Granit auseinandergesprengt, ein Windstoß, der vielen die Kappe vom Kopf riß, er stand sprachlos da, buchstäblich ohne die vagste Vorstellung von dem, was geschah, während die Offiziere und Unteroffiziere „Deckung, nieder, nieder!“ brüllten.

Die meisten lagen auch bereits auf dem verbrannten Gras oder im Staub des Weges, nachher erinnerte sich Hugo, daß manche die Hände überm Hinterkopf gefaltet hatten, während sie die Stirnen auf die Erde drückten. Ihnen allen geschah nichts, die Granaten hatten den niederen Haselbüschen gegolten oder denen, die darunter „in Bereitschaft“ lagen. (Granaten: Etwas viel wirkungsvolleres, diese Resultate, „eine ganz neue Erfindung“) Vielleicht nicht mehr als ein halbes Dutzend Geschosse, die genaue Zahl war nicht festzustellen, sogar von der Marinestation gingen mehrere Variationen aus, aber sie hatten dorthin getroffen, wo die Leute sich um Weinflaschen, Spielkarten zusammendrängten oder Leib an Leib unter Mänteln und Schlafdecken dösten, offenbar waren sie gar nicht erwacht und zum Bewußtsein der Situation gekommen. Jetzt gehörten sie endgültig zu den zerrissenen Laubkronen, den zerbrochenen und entblätterten Haselstangen, den herausgewühlten Wurzelstöcken.

Hugo war unfähig sich zu rühren, sich an dem zu beteiligen, was sie später Rettungsaktion nannten (das Einsammeln der abgerissenen Köpfe, Kiefer, Arme, Beine, der Rumpfstücke, die zusammen mit den Uniformfetzen in den kahlen Astgabeln hingen). Eigentlich sah Hugo nur auf die Kartenpartie, auf das, was eine Kartenpartie gewesen und von ihr übrig war, ungefähr zwanzig Schritte entfernt, also mußte er, ohne es zu wissen, dennoch mit den anderen hingerannt sein, um zu sehen, daß es nichts zu helfen gab; die Leute waren unvorstellbar zugerichtet. Aber natürlich gab es auch Verwundete, brüllend mit einem Arm- oder Beinstumpf zuckend, Hugo sah nur diesen kleinen Umkreis, eben die Kartenpartie, vielleicht überschätzte er deshalb den Umfang, der sich über kaum fünfhundert Schritte erstreckte. Als Inbegriff des Entsetzlichen (das die Lähmung, die absolute Bewegungslosigkeit, die Erstarrung des Nicht-Könnens hervorrief) erschien ihm nicht ein auffallend magerer Tscheche, der unter diesem sonderbaren Geräusch, einem winselnden Pfeifen oder pfeifenden Winseln, pausenlos, mit einem durchdringenden gellenden Herausstoßen des mühsam heraufgeholten Atems sich die Gedärme in die aufgeschlitzte Bauchhöhle hineindrückte, sondern den heftigsten Eindruck machte der andere, Hugo glaubte sich zu erinnern, ein älterer Jahrgang, auffallend niedere breite Stirn, kräftiger dunkler Schnurrbart, dem der Unterkiefer weggerissen worden war, dessen Zunge klobig verdickt, wie geschwollen, mit überraschender Schnelligkeit auf und ab ging, wobei er ein sicherlich nicht lautes Gurgeln, wie die Unruhe des blasigen Blutschaums hervorbrachte, der ihm breiig aus dem Schlund quoll, Hals und Brust bedeckte. Aber die Zunge blieb weiterhin in Bewegung, übrigens bald langsamer werdend, der Mann verblutete rasch, als Hugo sich wegwandte, der Hornist blies schon ein paar Minuten zum Sammeln, war er bereits still.

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