FORVM, No. 235/236
Juli
1973

Die Sklaven des Südens stehen auf

Arbeitsaristokratie, Binnenkolonialismus, Gastarbeiter

Der Text wurde im November 1972 von der italienischen Linksgruppe „Lotta Continua“ zur Diskussion gestellt. Er ist von Guido Viale redigiert, der am 28. Jänner 1973 von der Turiner Polizei nach einer antifaschistischen Demonstration unter absurden und konstruierten Beschuldigungen verhaftet wurde. Viale war der Führer der Turiner Studentenbewegung von 1968.

1 Die neue Weltwirtschaftskrise

Im vorigen Jahrhundert traten die zyklischen Krisen mit großer Regelmäßigkeit ein. In den letzten siebzig Jahren aber sind die Dinge komplizierter geworden.

Dieses Jahrhundert begann mit einer Expansionsperiode, die auf die schwere Krise um 1880 gefolgt war. Dann, im Jahre 1929, kam es zur größten Krise, die der Kapitalismus je erlebt hat; ihr folgten zehn Jahre der Stagnation in fast allen westlichen Ländern. Nach Meinung vieler Ökonomen — nicht nur marxistischer, sondern auch bürgerlicher — bewegen wir uns mit großen Schritten auf eine neue Weltkrise zu.

Die Hauptfrage ist nicht, warum es Krisen gibt, sondern warum sie nicht mehr so regelmäßig eintreten wie früher; warum beispielsweise die letzten 27 Jahre durch eine fast ununterbrochene Expansion gekennzeichnet waren; die periodischen Rezessionen waren geringfügig und haben kaum je alle Länder zugleich erfaßt.

Viele Genossen werfen uns mit Recht vor, daß wir für die gegenwärtig heranwachsende Krise nur Teilerklärungen gegeben haben. Man muß eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen — die internationale Lage, den Gegensatz zwischen Proletariat und Kapital und die Gesamtsituation, in der dieser Gegensatz ausgetragen wird. Man darf dabei nicht von der realen Arbeiterklasse abstrahieren und diese auf den bürgerlichen Begriff der Arbeitskraft reduzieren und alles mit dem Arbeitsmarkt erklären. Da verliert man politisch leicht den Gedanken der Arbeiterautonomie aus den Augen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Kapitalismus im Rahmen eines einheitlichen Weltmarktes unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten. Die Kolonialreiche wurden aufgelöst und durch den Neokolonialismus ersetzt. Japan und die Länder Europas — Sieger wie Besiegte — waren in ihrer Entwicklung völlig von den Vereinigten Staaten abhängig. Die Vorherrschaft der USA erstreckte sich auf die ganze Welt — mit Ausnahme der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder. Die Begriffe Imperialismus und Einheit des Weltmarktes waren in den Augen vieler Menschen austauschbar.

Das galt nicht für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Damals war der Weltmarkt in Kolonial- und Einflußzonen aufgeteilt, in beiden Weltkriegen ging es um eine Neuaufteilung der Welt unter den einzelnen Großmächten. Nunmehr ändert der Imperialismus nicht neuerlich seine Form, er „zersetzt‘‘ sich, bildet verschiedene Zentren. Der amerikanische Imperialismus, Garant und Instrument der Konterrevolution im Weltmaßstab, hat seit dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Rückschlägen erlitten, die seine Vorherrschaft geschwächt haben: in China, in Nordkorea, in Nordvietnam, im übrigen Indochina sowie graduell in allen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo der bewaffnete Kampf gegen den Imperialismus auf der Tagesordnung steht.

Durch die ungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus wächst die Wirtschaft in Japan und in Westeuropa viel schneller als in Nordamerika. Diese Änderung des Weltgleichgewichts wird zum Teil durch den Eintritt der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder in den Weltmarkt kompensiert, wovon zunächst Westeuropa und Japan profitieren, doch mehr und mehr auch die Vereinigten Staaten.

Anderseits entsteht innerhalb der „unterentwickelten“ Welt eine Art „Subimperialismus“ — in Ländern wie Israel, Südafrika, Iran, Brasilien, Indien. Diese Subimperialisten übernehmen nach und nach Funktionen der internationalen Repression, welche bisher von den Vereinigten Staaten selbst wahrgenommen wurden. Man darf die Bedeutung dieser Entwicklung nicht überschätzen, denn diese Länder sind den USA untergeordnet. Dennoch haben sie sich bereits einen embryonalen Produktionsapparat geschaffen, der ihnen eine gewisse Autonomie ermöglichen könnte, namentlich in Krisenzeiten.

Im Augenblick betrifft der interimperialistische Konflikt Japan und Westeuropa (in Konkurrenz miteinander) auf der einen und die Vereinigten Staaten auf der anderen Seite. Dieser Konflikt ist vorerst auf gewisse Bereiche beschränkt; er äußert sich in der Krise des Weltwährungssystems, in einer fortschreitenden Intensivierung des „Handelskrieges“ (wobei das Dumping der Vorkriegszeit direkten oder indirekten staatlichen Exportsubventionen gewichen ist) und im Kampf um Kontrolle und Besitz der Weltrohstoffe.

Während diese drei Aspekte an Gewicht erst gewinnen, hat ein vierter die dominierende Rolle: der Kampf um neue Absatzmärkte. In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben der Handel und die Investitionen sich mehr und mehr auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder konzentriert. Da diese keine expandierenden Märkte mehr bieten, wird die Eroberung neuer Märkte für die imperialistischen Bourgeoisien zu einer Frage auf Leben und Tod.

Die Annahme direkter bewaffneter Konflikte zwischen den Imperialisten selbst ist also nicht mehr so absurd, wie es in den letzten Jahren scheinen mochte. In manchen Konflikten in Afrika und im Nahen Osten ist schon das Wirken gegensätzlicher imperialistischer Interessen zu beobachten. Natürlich können diese Tendenzen noch nicht als vollendete Tatsachen angesehen werden.

Die innere Schranke des Imperialismus ist der Klassenkampf. In den Vereinigten Staaten beispielsweise waren die herrschenden Kreise nicht imstande, das amerikanische Proletariat für längere Zeit in einen massiven Unterdrückungskrieg einzuspannen. Darin liegt gewiß der größte Beitrag des vietnamesischen Volkes zur Entwicklung der Weltrevolution. Noch andere Faktoren schwächen den amerikanischen Imperialismus im Inneren. Die sogenannten „Randschichten“ — Studenten, Arbeitslose, rassische Minderheiten —, die nicht zufällig an den Rand gedrängt wurden, stellen das Herz des amerikanischen Proletariats dar.

Die langsame, kontrollierte Inflation, welche die wirtschaftliche Entwicklung der ganzen Nachkriegszeit kennzeichnet, zwang Nixon, Preise und Löhne unter Kontrolle zu stellen, um die Profite zu retten. Die Rezession von 1971 ist nur sehr bedingt überwunden.

In den anderen „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Ländern erstickte das außerordentliche Wachstum der ersten Nachkriegszeit die Klassenkämpfe, die gegen Kriegsende mit den verschiedenen Widerstandsbewegungen ausgebrochen waren. Die Zähmung der Arbeiterklasse erfolgte schnell und wirkungsvoll in Japan und Westdeutschland, wo das stärkste Wachstum zu verzeichnen war. Anders in Frankreich und Italien, wo die Arbeiterklasse ihre Kampftraditionen besser bewahrt hatte. In Großbritannien schließlich, wo es der Labour Party gelang, den Klassenkampf auf die Betriebe zu beschränken, war das Wirtschaftswachstum am schwächsten.

In den sechziger Jahren trat eine Wendung ein: Die Wachstumsraten nahmen ab, und die Lohnmasse begann auf Kosten der Profite zu wachsen. In Frankreich und in Italien war diese Wendung von einem starken Wiederaufleben der Arbeiterkämpfe begleitet. Sogar in Ländern, wo der „soziale Frieden“‘ noch ungebrochen ist — vor allem in Westdeutschland —, zeitigt dieses neue Kräfteverhältnis seine Wirkungen.

Gleichzeitig hat sich das Verhältnis zwischen den europäischen Bourgeoisien und dem amerikanischen Imperialismus geändert. Zunächst hatte die europäische Wirtschaftsentwicklung sich im Schlepptau der amerikanischen bewegt. Dann gerieten die Entwicklungsmechanismen in Amerika und in Europa an verschiedenen Punkten miteinander in Konflikt. Politischer Ausdruck dieses Konflikts war der Gaullismus.

Die Ursache der Konflikte zwischen Teilen der europäischen Bourgeoisie und dem amerikanischen Imperialismus ist eine Änderung im Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat in Europa. In der Zange zwischen einer neuen Arbeiteroffensive in Europa — mit anderen Kampfforderungen als in der Nachkriegszeit — und einer völligen Unterwerfung unter den amerikanischen Imperialismus sieht die europäische Bourgeoisie sich gezwungen, einen selbständigen imperialistischen Entwicklungsweg zu suchen. Die Rivalitäten zwischen den Imperialismen auf der staatlichen Machtebene entwickeln sich also als Folgen des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie.

2 10 Millionen Wanderarbeiter

Im Gegensatz zur wirtschaftlichen Stagnation der Zwischenkriegszeit war die Nachkriegszeit in fast allen kapitalistischen Ländern durch eine sehr schnelle Wirtschaftsentwicklung gekennzeichnet. Dieses außerordentliche, ununterbrochene Wachstum war zum Teil auf eine Politik der Konjunkturstützung zurückzuführen, besonders durch enorme Militärausgaben. In Europa und in Japan, wo der Rüstungssektor nicht so groß ist wie in den USA, kam es zu einer ungeheuren Zunahme der Exporte, also zu einer Erweiterung des Welthandels, begünstigt durch die Vereinheitlichung des Weltmarktes.

In jenen Ländern, welche die größten Wachstumsraten erzielten, in Japan und einigen europäischen Staaten, spielte ein dritter Faktor mit: das unbegrenzte Angebot an Arbeitskräften. In Europa sicherten die Landflucht, die Wanderung von Arbeitskräften aus industriell zurückgebliebenen Regionen, das Einströmen von Flüchtlingen aus Osteuropa oder aus ehemaligen Kolonien und schließlich die große Einwanderungswelle aus den Mittelmeerländern und aus Nordafrika einen permanenten Überfluß an Arbeitskräften. Zehn Millionen „Flüchtlinge“ haben die Staatsbürgerschaft ihrer Asylländer angenommen; fast zehn Millionen Proletarier sind aus ländlichen oder im Niedergang befindlichen Gebieten in Industriegebiete abgewandert. Mehr als zehn Millionen Arbeiter haben ihr Land verlassen, um in einer der Industriemetropolen Europas zu arbeiten: sie kamen aus der Türkei, aus Italien (dem Süden und Venetien), aus Spanien, aus Griechenland, aus Jugoslawien, aus Portugal; nach Frankreich außerdem aus dem Maghreb und aus Zentralafrika, nach England aus Indien, Pakistan und einigen ehemaligen afrikanischen Kolonien.

In den ersten fünfzehn Nachkriegsjahren hat dieser ständige Zustrom von Arbeitskräften es ermöglicht, das Lohnniveau sehr niedrig und die Ausbeutungsrate sehr hoch zu halten und eine regelrechte „Einkommenspolitik“ zu betreiben, auch dort, wo sie offiziell nicht so genannt wurde. In den sechziger Jahren jedoch begannen die Dinge sich zu ändern, manchmal, wie in Italien, unter dem Druck der Arbeiterkämpfe, andernorts — etwa in Holland — ohne eine einzige Stunde Streik. Doch da wie dort waren die wirtschaftlichen Folgen die gleichen: Die „Einkommenspolitik“ — offiziell oder nicht — wurde gesprengt, und der auf die Löhne entfallende Teil des Nationaleinkommens wuchs auf Kosten der Profite, der Fähigkeit zur Selbstfinanzierung und der Akkumulationsrate.

3 Drei Arbeitsmärkte

Das wurde nicht durch ein Nachlassen der Immigration bewirkt. Ganz im Gegenteil, diese nahm gigantische Ausmaße an. Aber zugleich wurde der Arbeitsmarkt aus politischen Gründen in drei mehr oder weniger separate Sektoren geteilt: in einen Markt für Gastarbeiter, einen Markt für die „einheimische“ Arbeiterklasse, und in einen dritten für die neue, höher gebildete Generation einheimischer Proletarier.

Es ist zu bemerken, daß diese drei Sektoren einander keine Konkurrenz ma‘chen. Das Beispiel Holland ist besonders aufschlußreich. Zehn Jahre lang ermöglichten 300.000 Flüchtlinge aus Indonesien eine perfekt funktionierende Einkommenspolitik. Als diese Goldmine versiegte, importierte man einige Hunderttausend Arbeiter aus Italien und der Türkei, um die vorherige Situation wiederherzustellen. Aber man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Löhne für Holländer stiegen rapide, ohne daß man Streiks gebraucht hätte, die der Gastarbeiter blieben zurück: Die Einkommenspolitik war gescheitert.

Das kam so: Die Gastarbeiter besetzten nach und nach die unangenehmsten Arbeitsplätze (in der Bauwirtschaft, im StraBenbau, in den Bergwerken) oder die erniedrigendsten (im Gastgewerbe, in der Straßenreinigung); anderseits sind viele auch in der Exportindustrie (z.B. Autos, Maschinenbau) tätig, wo die internationale Konkurrenz zu immer größerer Ausbeutung durch Arbeitsintensivierung führt. Dieser Sektor ist zugleich die Triebkraft der Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit. Die europäische Bourgeoisie ist also gezwungen, den empfindlichsten Teil ihrer Wirtschaft Arbeitern anzuvertrauen, über die sie keine Kontrolle hat, außer jener, die durch härteste Ausbeutung und eine unermüdliche Polizeiaufsicht gegeben ist.

Die Zahl der Gastarbeiter kann leicht vermindert oder vermehrt werden, sie sind die „Lunge“ der konjunkturbedingten Arbeitsmarktschwankungen, während die „einheimische“ Arbeiterklasse sozusagen das „Recht“ auf Vollbeschäftigung hat — die größte Errungenschaft der Nachkriegsgeschichte, wie die Sozialdemokraten meinen. Außer von der Unsicherheit des Arbeitsplatzes haben die Gastarbeiter die „einheimische“ Arbeiterklasse auch von allen „erniedrigenden“, unqualifizierten oder einfach mühsamen Arbeiten befreit. Diese beiden Faktoren bilden die Grundlage des stillschweigenden Paktes, den die Sozialdemokratie mit der „einheimischen“ Arbeiterklasse geschlossen hat. Es ist ein Pakt, der auf der Passivität und der Spaltung der Arbeiterklasse basiert.

Ein wachsender Teil der neuen Generationen des Proletariats genießt höhere Schulbildung und findet Beschäftigung im Tertiärsektor, also außerhalb der unmittelbaren Produktionssphäre. Die Massenbildung ist in der Tat die große Entschädigung, die der Reformismus nach dem Krieg dem Proletariat für den Verzicht auf eine wahre soziale Emanzipation gewährt hat. So hat sich eine regelrechte „Arbeiteraristokratie“ gebildet, deren Entwicklung mit der Übernahme der schwersten Arbeiten durch die Gastarbeiter Hand in Hand geht.

4 Wer macht die nächste Revolution?

Die Triebkräfte der Revolution in Europa sind die Gastarbeiter, die „einheimische“ Arbeiterklasse und die Arbeiteraristokratie des Tertiärsektors. Die vierte Kraft sind die Arbeitsemigranten oder Auswanderer, im folgenden am Beispiel Italiens analysiert.

Die gegenwärtige Krise in Europa wurde durch die Aufteilung des Arbeitsmarktes in separate Sektoren hervorgerufen, also durch eben die Lösung, mittels weicher die europäische Bourgeoisie das Proletariat spalten und ihre politische Herrschaft sichern wollte. In den sechziger Jahren hat die den europäischen Kapitalisten so teure „Einkommenspolitik“ Schiffbruch erlitten. 1967, zur Zeit der Explosion der Studentenbewegung in Europa, war der gesamte obere Sektor des Arbeitsmarkts bereits überfüllt und die Zahl der freien Stellen für die „Arbeiteraristokratie“ stark reduziert. Und zur gleichen Zeit traten in ganz Europa die Gastarbeiter als Protagonisten einer neuen Welle von Arbeiterkämpfen mit radikal neuem Inhalt hervor.

Der Gegensatz zwischen „einheimischen“ Arbeitern und Gastarbeitern wird nun zum Kern des Problems. Die Gastarbeiter sind zum größten Teil am Fließband tätig, die jungen sind unqualifiziert, von der Arbeit angewidert und neigen zu häufigem Arbeitsplatzwechsel. Sie sind es, die in Italien an der Spitze der jüngsten Kämpfe standen.

Der Gegensatz zwischen dieser neuen Arbeiterklasse und der „einheimischen“ — bestehend aus relativ qualifizierten Arbeitern, die in die regionale Sozialstruktur integriert und mehr oder minder mit den offiziellen Arbeiterorganisationen verbunden sind — ist in Westeuropa stärker ausgeprägt als in Italien. Hier haben die Kämpfe des Jahres 1969 die führende Rolle übernommen gegenüber jenem Teil, der mit der „revisionistischen“ Tradition verbunden und durch die historischen Niederlagen der traditionellen Arbeiterbewegung „verbraucht“ ist.

Im übrigen Europa bilden die Sprachenbarrieren an sich schon ein Hindernis für die Verständigung der Arbeiter ein und desselben Betriebes. Oft sind die Montagebänder wahre „Türme von Babel“, wo Arbeiter aus aller Herren Länder so durcheinandergemischt sind, daß sie sich miteinander nicht verständigen können. Außerdem verschärft die Mobilität noch die Sprachenprobleme. In jüngster Zeit wird der Gastarbeitereinsatz von den Unternehmern so gehandhabt, daß keiner länger als zwei oder drei Jahre an einem Arbeitsplatz bleibt; so ist ihre Lage stets provisorisch und unsicher, selbst wenn es sich um eine definitive Anstellung handelt. Während in Italien die Mobilität den Arbeitsmarkt stört, wird sie in anderen europäischen Ländern geplant, gefördert oder sogar erzwungen. Die Gastarbeiter werden in der Zeit ihrer größten Leistungsfähigkeit, also in ihrer Jugend, ausgepreßt und dann weggeworfen, um die Kosten ihrer sozialen Integrierung nicht im Aufnahmeland zahlen zu müssen. So entsteht in den Mittelmeerländern ein Proletariat, das einige Jahre im Ausland arbeitet und dann nach seiner Rückkehr die Reihen der Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeiter im eigenen Land vermehrt.

Menschenraub

Die Gastarbeiter sind nicht gleichberechtigt: Sie haben kein Wahlrecht (das wäre noch das geringste, denn viele von ihnen kommen aus faschistischen Ländern, wo sie auch nicht wählen konnten), sie haben keine politischen Rechte (Versammlung, Koalitionsrecht, Propaganda) und oft auch keine Bürgerrechte, das heißt, sie unterstehen permanenter Überwachung und sind Gegenstand aller möglichen Schikanen seitens der Regierungen, die sie „beherbergen“, ohne ihnen im mindesten die formalen bürgerlichen Freiheiten zu gewähren. Die Gastarbeiter sind ein regelrechter „Sklavenhandel“, wie zahlreiche Fälle der letzten Jahre beweisen. Oft ist der Gastarbeiter kein „freier Lohnarbeiter“, sondern ein Sklave, über den die Unternehmer, mit Unterstützung der Regierungen und der Polizei, nach Gutdünken umspringen können. Der Kapitalismus hat im Laufe seiner Geschichte schon mehrmals bewiesen, daß er mit der Sklaverei besser zurechtkommt als mit der „freien Lohnarbeit“. Es ist ein Faktor, den man bedenken muß, wenn man von der Faschisierung der europäischen Gesellschaft spricht. Der Unterschied zwischen einem nazistischen „Lager“ und einem neokapitalistischen „Wohnheim“, zwischen einem „Fremdarbeiter“ und einem „Gastarbeiter‘‘ ist nicht so groß, wie man auf den ersten Blick glauben könnte.

Warum sagen wir, daß die Klassenkämpfe in Italien „fortgeschrittener“ sind? In Italien ist es zu einer „Verschweißung“ der traditionellen Arbeiterklasse mit der neuen Schicht der Wanderarbeiter gekommen. Die Arbeiterklasse steht seit 1969 im Kampf und bildet eine wahre Massenavantgarde, das heißt, die politischen Gruppen haben sich nicht von den Massen gelöst, sondern ihnen vielmehr ihre politischen Erfahrungen und Ziele übermittelt.

Es ist kaum anzunehmen, daß die Isolierung der Gastarbeiter von selbst verschwinden wird. Dieser Bruch erklärt, warum die Kämpfe der Gastarbeiter nie über bestimmte Grenzen hinausgelangt sind.

Was sind die Unterschiede zwischen der „revisionistischen“ Arbeiterbewegung Italiens und der europäischen Sozialdemokratie oder der „stalinistischen“ KPF, materialistisch erklärt? Die Theoretiker der KPI haben stets versucht, diese Unterschiede auf „idealistische“ Weise aus der Entstehungsgeschichte der Führungsgruppe ihrer Partei abzuleiten. Diese Erklärung wurde von den meisten revolutionären Genossen in Frankreich, Westdeutschland und Italien übernommen. Wir müssen die Erklärung jedoch anderswo suchen: In den europäischen Metropolen hat die Spaltung der Arbeiterklasse dazu geführt, daß die offiziellen Organisationen der Arbeiterbewegung zu bewußten Sachwaltern der Kapitalsherrschaft geworden sind — das gilt für die stalinistischen ebenso wie für die sozialdemokratischen Organisationen. In Italien haben Einheit und Kampfgeist der Arbeiterklasse die Führung der KPI gehindert, diese Rolle bis zu Ende zu spielen.

5 Gastarbeitersklavenhandel

Italien ist in gewissen Sinn ein Abbild Europas, ein Europa im Kleinen: Die Mittelmeerländer (Süditalien inbegriffen) und die Länder Nord- und Zentralafrikas spielen im Verhältnis zu den kapitalistischen Ländern Europas die gleiche Rolle wie Süditalien im Verhältnis zu Norditalien: die Rolle eines riesigen Arbeitskräftereservoirs.

Die Rückständigkeit des Südens und jener Gebiete in Mitteleuropa, die allmählich verelenden, ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung, nicht der früheren Geschichte. Während jedoch der Süden und der Norden Italiens zu demselben Staat gehören, gilt dies offenkundig nicht für Griechenland, die Türkei, Spanien, Jugoslawien oder Senegal im Verhältnis zu Frankreich. Der Unterschied ist vor allem in den inneren Beziehungen zwischen Teilen der Bourgeoisie zu sehen. Ein Beispiel: Der Präsident der Republik Italien ist ein neapolitanischer Boß, der in der Organisierung der Rückständigkeit seiner eigenen Stadt eine große Rolle spielt, während ein griechischer Oberst natürlich wenig Chancen hat, deutscher Bundespräsident zu werden.

Man kann nicht länger an den vorübergehenden oder „konjunkturbedingten“ Charakter der Auswanderung glauben. Das würde auf die Behauptung hinauslaufen, der italienische Kapitalismus könnte sich weiterentwickeln, wenn die rund drei Millionen Proletarier, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren aus dem Süden nach dem Norden des Landes gezogen sind, in ihre Heimatorte zurückkehrten. Trotzdem findet man in der europäischen Linken nicht selten Genossen und Organisationen, die diesen Aspekt ignorieren und weiterhin so von der Arbeiterklasse, von den Gegensätzen zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Proletariat und Revisionismus usw. sprechen, als würden die zehn Millionen ausgewanderter Arbeiter in Europa nicht existieren oder als wären sie eine folgenlose Erscheinung, die von selbst verschwinden würde.

Betrachten wir die Südpolitik der italienischen Regierung und die sozialen Strukturen und Schichtungen, die infolge dieser Politik entstanden sind. Sie diente dem Zweck, einen ununterbrochenen Zustrom von Arbeitskräften in die industriell entwickelten Regionen zu sichern. Dasselbe gilt für die Bemühungen der Regierungen der imperialistischen Länder Europas, das Mittelmeerbecken und Nordafrika in einem Zustand der Rückständigkeit zu halten, um den Strom von Auswanderern aus diesen Ländern nicht abreißen zu lassen.

Schließlich — und das ist der Hauptpunkt — haben fünfundzwanzig Jahre Arbeitsemigration die Sozialstruktur, den Charakter, den Inhalt und selbst die Träger des Klassenkampfes im Süden völlig verändert. Die Mobilität der Wanderarbeiter war — vor allem in den letzten Jahren — der Transmissionsriemen, durch welchen Erfahrung, Verhalten und Mentalität, die die Auswanderer in den Betrieben Europas erworben hatten, sich über das gesamte Sozialgefüge ausbreiteten, so daß sie heute Teil des Bewußtseins proletarischer Massen bilden, die nie in einer Fabrik gearbeitet haben. Die Zersetzung des Sozialgefüges in Süditalien war also begleitet vom Einbringen der Erfahrung der Klassenkämpfe in den „fortgeschrittensten“ Zentren der kapitalistischen Entwicklung.

Dieser Prozeß läuft in allen Arbeitskräfte liefernden Ländern ab, von Jugoslawien, wo die Auswanderung als Abschöpfung „überschüssiger“ Arbeitskräfte unmittelbar vom Staat oder von den „selbstverwalteten“ Unternehmen organisiert wird, bis Senegal, wo die auf Sklavenhandel spezialisierte internationale Mafia in direkter Verbindung mit den Stammeshäuptlingen steht, die ihre „Untertanen“ verkaufen. Um aber die Form des Gegensatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie in den siebziger Jahren zu verstehen, muß man erkennen, daß der Kampf, der sich in den Betrieben von Zürich, Köln oder Lyon abspielt, auf den Hochebenen Anatoliens oder in den Dörfern Kroatiens nicht die Form eines Befreiungskampfes unterdrückter Völker annimmt, sondern ebenfalls die eines Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, selbst wenn Unternehmer und Arbeiter im engen Wortsinn dort nicht sehr zahlreich sind.

Der europäische Kapitalismus hat sich eben diese Form der Einwanderung „auf Zeit“ orientiert, die Proletarier hervorbringt, welche keine Bauern mehr und noch keine Arbeiter sind (höchstens für einige Jahre) und als Lohnarbeiter verwendet werden können, aber keine solche Arbeit finden und es auch gar nicht wollen. Dieses neue Proletariat bildet in Italien den Auswandererstrom und übervölkert die Städte des Südens.

Das ist der Hauptgrund, warum gewisse Regionen sich nicht mehr zur Sklavenjagd eignen. Das augenfälligste und jüngste Beispiel dafür ist, wie die ausländischen Arbeitsmärkte und vor allem die großen europäischen Betriebe sich den Proletariern aus Süditalien verschließen, obwohl doch die italienischen Auswanderer, juridisch gesehen, in Europa eine Freizügigkeit genießen, die den Angehörigen vieler anderer Staaten nicht gewährt ist.

Die Lage in Irland ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Der Kampf des irischen Volkes, wiewohl durch das Kleinbürgertum verzerrt und mißgeleitet, ist das Ergebnis eines analogen Prozesses, der sich hier noch mehr zugespitzt hat. In der EWG gibt es viele Regionen, denen eine solche Rolle zugedacht ist, sobald der wirtschaftliche Entwicklungsprozeß sich beschleunigt. Aber es liegt auch auf der Hand, daß in den kommenden Jahren die stärksten Auswirkungen dieses Prozesses sich in Südeuropa und Nordafrika, den großen Arbeitskräftereservoirs Europa, zeigen werden. Dort entsteht eine permanente industrielle Reservearmee, welche die vierte Triebkraft der Revolution in Europa bildet, neben den drei anderen Kräften, von denen wir oben gesprochen haben: der Klasse der Gastarbeiter, der „einheimischen“ Arbeiterklasse und der Arbeiteraristokratie.

6 Die Krise in Europa hat begonnen

Zwei Faktoren bestimmen die europäische Krise: einerseits die allgemeine Krise des Imperialismus und im besonderen die Schwierigkeiten des amerikanischen Kapitalismus, die auf Europa übergreifen und hier die Entwicklung zu blockieren drohen; anderseits das Erlöschen der dynamischen Wirkung, welche die europäischen Unternehmer der Arbeitsmarktstruktur gegeben hatten. Die tieferen Ursachen der europäischen Krise sind dieselben, die in Italien schon etwas früher und dramatischer als in den anderen Ländern ihre Wirkungen zeigten.

Die europäische Krise ist jedoch keine „katastrophale“ Krise. Sie könnte sogar leicht überwunden werden: Die groben Umrisse einer Strategie, die es den Unternehmern ermöglichen würde, aus ihr herauszukommen, sind bereits vorgezeichnet. Auf internationaler Ebene handelt es sich um die Herstellung eines neuen Gleichgewichts, in dem die Rolle der Ordnungsgaranten, die bisher den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vorbehalten war, auf alle fünf Großmächte verteilt ist. Im Inneren geht es darum, die europäischen Staaten durch autoritäre Kontrolle und Reglementierung der Produktivkräfte, gestützt auf die Ausnutzung und Vertiefung der Spaltung der Arbeiterklasse, schrittweise zu „faschisieren“. Diese Pläne enthalten jedoch Widersprüche. Innerhalb der herrschenden Klassen Europas wird sich zweifellos eine proamerikanische „Fünfte Kolonne“ bemerkbar machen, die Konflikte unter den Imperialisten über die Neuverteilung der Macht werden sich verschärfen. Innenpolitisch wird die Krise den Lebensstandard und die Lebensbedingungen des ganzen Proletariats bedrohen, und dieses wird trachten, sich zu vereinigen, was zu einer Radikalisierung und zur Ausbreitung der Kämpfe führen wird.

Großbritannien ist ein Fall für sich. Der englische Kapitalismus hat sich in anderer Weise entwickelt, und die englische Arbeiterklasse genießt seit je wichtige Privilegien, und wäre es nur auf Grund ihrer beträchtlichen Verhandlungsstärke. Die Welle von Kämpfen, die England überflutet, wurde durch die Blockierung des Entwicklungsmechanismus und durch die „Umstrukturierung“ ausgelöst, welche die englischen Unternehmer im Zusammenhang mit dem Beitritt zur EWG vornahmen. Auch die anderen europäischen Länder werden bald in der einen oder anderen Form ähnliches erleben.

Die entscheidende Voraussetzung für eine revolutionäre Lösung der europäischen Krise ist die Einigung des europäischen Proletariats, das heißt der Zusammenschluß der erwähnten vier Tendenzen. Diese Einigung ist eine langfristige Aufgabe; sie hängt nicht nur von der Entwicklung der Kämpfe in einem Land Europas ab, sondern auch von der Verbreitung der Inhalte, der Ziele und vor allem der Erfahrungen dieser Kämpfe überall dort, wo dieses Proletariat herkommt und wo es lebt und arbeitet.

In Italien ist die Krise ihrem Höhepunkt näher als im übrigen Europa, und die Einigung des italienischen Proletariats scheint rasche Fortschritte zu machen. Aber Italien ist keine Insel in der kapitalistischen Welt. Es ist unvorstellbar, daß der revolutionäre Prozeß in Italien bis zur Machtergreifung fortschreitet, ohne daß im übrigen Europa die Krise sich erheblich verschärft. Die Perspektiven des Klassenkampfes in Italien sowie die Rolle des italienischen Proletariats und seiner Avantgarde sind eng mit der Entwicklung der sozialen Krise in ganz Europa verbunden. Italien ist heute zweifellos das schwächste Kettenglied, aber die Kette wird nur unter sehr starker Spannung reißen, wenn das übrige Europa sich in einer mehr oder minder der italienischen vergleichbaren Lage befindet.

Tatsächlich unterscheiden sich das italienische Proletariat und seine Avantgarden beträchtlich vom Proletariat des übrigen Europa. In Italien sind alle vier Komponenten des europäischen Proletariats vertreten, und die Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen angesichts einer zunehmenden Radikalisierung des Kampfes und einer Verschärfung der Krise ist eine grundlegende, an Lehren aller Art reiche Erfahrung.

Das wachsende Mißtrauen der europäischen Unternehmer gegen die italienischen Gastarbeiter zeigt sehr deutlich die Furcht, die Erfahrung der Italiener könnte den Proletariern ganz Europas zunutzekommen.

Es ist unwahrscheinlich, daß die neuen proletarischen Avantgarden im übrigen Europa sich ebenso wie die in Italien, nämlich mehr oder minder spontan, formieren können: Die Unternehmer sind gewarnt, und die Bedingungen sind schwieriger geworden.

Uns geht es darum, der revolutionären Linken Europas, die in dreijährigen Kämpfen gesammelten Erfahrungen zu vermitteln — denn das ist eine entscheidende Voraussetzung für die Bildung von Avantgarden. Aber wir wissen auch, daß unser theoretisches Denken nicht auf der Höhe unserer praktischen Kampferfahrung steht und daß eine ungeheure revolutionäre Verantwortung auf uns ruht, nicht nur in Hinblick auf die Lage in Italien, sondern in Hinblick auf die Situation in ganz Europa.

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