FORVM, No. 415/416
Juli
1988

Die „Windstille“ in der Demokratie

Im obigen Titel wird bereits ein Phänomen umschrieben, das noch lange nicht beängstigend erscheint. Obzwar Windstille dem Sturm vorangeht, glauben die Wetterbeobachter im allgemeinen, es wird schon keinen Orkan geben, und zumeist erweist sich diese Zuversicht als berechtigt. Würden wir das Thema so verstehen, könnten wir sofort beruhigt nach Hause gehen. Andere wieder, die in der Demokratie eine gewisse meteorologische Bewegtheit sehen wollen, sind keine Freunde der Windstille. Deren Analyse wäre aber auch nicht sehr treffend, würden sie meinen, eine außerordentliche Konstellation der Witterung habe erst die Windstille verursacht. Jene aber, die auf See sind, erleben Windstillen als Flauten, und jeder Segler weiß, wie unangenehm dieser Zustand angesichts finsterer Wolken ist. Kurzum: Schenkt man sozialwissenschaftlichen Prognosen und kulturellen Entwicklungen zur politischen Dekadenz einige Aufmerksamkeit, kündigt sich in der Windstille eine bevorstehende Belastungsprobe der Demokratie an. Das ist weder neu noch im historischen Kontext dieses Landes überraschend. Im Unterschied zum Wetterbericht haben wir aber weder Sterne noch Satelliten zu befragen, warum die Demokratie sich in eine Flaute manövrierte, sondern müssen die Ursache bei uns selbst suchen. Somit wird es verschiedene Anhaltspunkte geben.

Der erste ist: Die politologischen Untersuchungen haben uns doch vor Jahrzehnten mit einigem Optimismus in Aussicht gestellt, daß sich die Parteienlandschaft soweit eingeebnet hat, daß etwa die Großparteien ein austauschbares Profil besitzen. Darauf begründeten wir vor mehr als 20 Jahren die Hoffnung, künftige Konflikte vermeiden zu können.

Heute müssen wir sagen, daß Parteien ohne Profil die Demokratie zerstören. Der Grund liegt darin, daß sie eben keine Interessen der Gesellschaft mehr wiedergeben, sondern nur mehr falsche oder vorgebliche Interessenlagen. Was als „innerer Frieden“ eingeschätzt wurde, wandelte sich in eine zunehmend nicht mehr konfliktfähige Gesellschaft mit beliebiger Bereitschaft zu Emotionalisierung. Vielleicht hat das beim Einzug von Karl Schranz auf dem Wiener Heldenplatz begonnen, oder beginnt überhaupt am Heldenplatz wie beispielsweise die künstlich erregte Menge von Demonstranten gegen den Bau-Stopp von Zwentendorf oder wegen irgendwelcher Märzereignisse. Insgesamt sind eben die Interessenkonstellationen nicht mehr traditionell zuzuordnen, sondern gehen quer durch Parteien. Vielleicht kann man dadurch verdeutlichen, daß in der Wertschätzungsskala der „Kronen-Zeitung“ ein neues Ensemble von Elite erkennbar wird, die beim ersten Hinsehen gar nichts gemeinsam hat, aber doch eine bestimmte politische Wirksamkeit besitzen muß. Kurt W., Hannes A., Helmut Z. und Jörg H. sind in diesem Blatt Protagonisten eines neuen Stils der Politik, der offenbar in die von uns angenommenen Strukturen von Parteien und Rechtsstaat nicht leicht integrierbar ist. Nun könnte man mehrere solcher Ensemblebildungen verfolgen, von denen jenes der Sozialpartner noch am ehesten legitimiert erscheint. Sollten wir als nächstes die vermutbare Parallelstruktur der österreichischen Freimaurer zitieren, werden wir gewiß der gemeinsamen Ansicht sein, daß diese Bewegung ganz gegen ihre historischen Gepflogenheiten eine Vereinigung wurde, die mit dem CV der fünfziger Jahre zu vergleichen ist. Allein schon diese Skizzen sollen darauf aufmerksam machen, um welchen Preis die Parteien ihr Profil verloren, vorwiegend vorgetäuschte Interessenkonflikte besitzen, zu deren Austragung eigentlich die parlamentarischen Institutionen nicht mehr nötig erscheinen. Es ist also weniger eine Großkoalition des meteorologischen Druckausgleichs, der die Windstille erzeugt, sondern die stetige Entnahme von Luftmassen aus dem politischen Raum.

Der zweite Anhaltspunkt für die Windstille ergibt sich aus dem ersten. Die Zweite Republik hat ja sowohl an Perspektiven eingebüßt, als auch die demokratischen Institutionen zunehmend zu unterlaufen begonnen. Das hat die Bevölkerung bemerkt und bringt der Politik jenes mangelnde Interesse entgegen wie es auch das Interesse unserer Politbürokratie ist, daß das Interesse mangelhaft bleibt oder strikt innerhalb kontrollierter Funktionalität der Instanzenwege. Die Abwehr dieser Kontrolle äußert sich aber nicht nur im Aufbruch unterschiedlicher Bewegungen oder Alternativen, die naturgemäß schwach bleiben werden, sondern in der Wiedergeburt eines bis dahin verschwiegenen Konsens in der Bevölkerung, daß die eigentliche historische Integration so oder so im Nazismus stattfand, profileratorisch oder oppositionell je nach dem, und plötzlich als Hintergrund einer Bewußtseinskontinuität erscheint, in der man sich bis zum Bundespräsidenten einig sieht. So darf behauptet werden, daß eine Kultur der Zwielichtigkeit entstanden ist, in der man einerseits den Historikern nachplappert, wie alles gekommen ist, andererseits mit Augenzwinkern und Hexenkreuz hinterm Rücken Geschichte und Gegenwart im Licht korrumpierter Wirklichkeit sieht, einer angeblichen Objektivität. Was unter dem Gesichtspunkt „Alltagsfaschismus“ thematisch überzogen erscheint, kehrt als „Normalreaktion“ wieder und konstituiert sich im politischen Bewußtsein als Form selektiver Wahrnehmung von Ereignissen. Auch hier sind ja die Politiker Vorbilder, die zwar gegenüber der Geschichte sich in Erinnerungsübungen vorstellen, jedoch gleichzeitig ein professionelles Nicht-Wissen und Nicht-Kennen veranschaulichen an Beispielen der Verstaatlichten Industrie, Bau-Skandalen und Kassenentnahmen, daß ihre Ahnungslosigkeit und phantasielose Naivität jene unserer Großvätergeneration leicht in den Schatten stellt. Also ist in der Gesellschaft die paradoxe Situation eingetreten, zu wissen und zugleich das Gewußte vergessen zu haben, zu sehen und es zugleich nicht zu deuten. Diese manipulierbaren Schwächen kennzeichnen eine zunehmende Ortlosigkeit eines demokratischen Selbstverständnisses und Geringschätzung des Freiheitsdokuments gemäß der Verfassung von 1945.

Ein dritter Anhaltspunkt ist schnell geschildert. Wenn am Beginn ein komplexes System von Komplicenschaft und Nötigung geschildert wurde, das die schattenlose Durchsichtigkeit von Öffentlichkeit bewußt abdunkelt und zu verhüllen trachtet — hiebei spielen ja gerade die sogenannten Aufklärungs-Medien eine mehr als sonderbare Rolle —, dann ist doch daraus leicht zu schließen, daß unsere politischen Selektionskriterien kaputt sind. Es wird niemals mehr überzeugt werden können, daß ausgerechnet dieses uns bekannte Personal in der Politik auch der Weisheit letzter Schluß ist. Die Universitäten selbst sind ein Beispiel hiefür, daß Qualifikationen allein nicht das ausschlaggebendste Kriterium sind, um in ihnen lehren und arbeiten zu können. Man wird gewiß nicht so töricht und naiv sein, daß Gescheitheit allein genügt, doch diese nur in funktionalen Bestimmungen anzuwenden, scheint zu kümmerlich zu sein. Gott bewahre, wir würden ähnliche Gedanken gegenüber anderen Institutionen des Landes äußern.

Daraus folgt der vierte Punkt. Unsere Republik leidet auch darunter, daß ein dichtes Beziehungsnetz von kleinen Leuten zu kleinen Leuten entstanden ist. Gerade die unbemerkte Einbuße von Reputation und Integrität förderte Personen in Elitestellungen, die ihre Bedeutung darin sehen, keine Konzepte oder Pläne zu haben — also offen zu sein —, dafür aber den Rückhalt in Kameraderie oder in der bürokratischen Spezialisierung auf Ideen-Vernichtung. Das heißt nun nicht, daß damit ein nostalgisches Bekenntnis zu historischen Eliten erfolgt, sondern weil die eng geknüpften Abstützungssysteme sich wıe Eliten geben können, fördern sie das Bedürfnis nach totalitären Eliten Schritt für Schritt.

Die undemokratische Undurchlässigkeit für Vorstellungen von Mitbestimmung und Mitverantwortung und die gleichzeitige Tendenz zur Demütigung der Menschen läßt die Gesellschaft die Demokratie als zunehmende Flaute erleben.

Und nun folgt aus dieser vielleicht zu emotional formulierten Überlegung der nächste Anhaltspunkt. Insgesamt stehen wir in einer weltanschaulichen Tradition der Frageverbote. Die Konstruktionen unserer Wirklichkeit, der Geschichte und der Abfolge der Generationen, der Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens dürfen gemäß den Lösungsvorschlägen von Ideologen nicht weiter überprüfbar sein. Schon Marx brach die Debatte mit dem Dekret ab, für den sozialistischen Menschen sind Fragen dieser Art unmöglich geworden (Frühschriften HistMat, 306). Die Fragen des individuellen Menschen werden schließlich durch den Ukas des Spekulateurs abgeschnitten, der sich die Konstruktion nicht nehmen lassen will. Oder, wie es heißt: Wenn der sozialistische Mensch spricht, hat der Mensch zu schweigen.

Dieses Frageverbot trifft auch auf den Positivismus zu, in dem Comte im Cours de Philosophie positive Einwände gegen sein System als müßige Fragen rundweg ablehnt. „Wer Fragen nach Wesen, Beruf und Schicksal des Menschen stellt, ist vorläufig zu ignorieren. Später, wenn sich das System sozial durchgesetzt hat, muß der Frager durch geeignete Maßnahmen zum Schweigen gebracht werden.“ Und schließlich gibt es ja das Frageverbot im Nationalsozialismus noch entschiedener. Die stereotype Antwort von Schuldigen war ja: Ich stellte damals keine Überlegungen an — ich hatte den Befehl bekommen ...“ Die Demokratie, die grundsätzlich auf dem Recht des Fragens und Wissen-Wollens errichtet ist, begleitet strukturell dieser Hang zum weltanschaulich-doktrinären Frageverbot und leidet darunter. Und nun erleben wir, daß dem Herrschaftswillen ein plötzlich herausbrechender Entschluß zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschließung dient, eine Art Verteidigungszustand gegen vieles Wißbare. Die Funktionäre überleben nur durch den Genuß der Masken-Vielfalt und Verschlagenheit und eröffnen somit nahezu philosophische Diskussionen. So erinnern wir uns an die Debatte über Privatsphäre und öffentliche Sphäre, über politische Verantwortung im Unterschied zu einer wahrscheinlich anderen, die nicht angegeben werden konnte, über die Differenz zwischen politischen Prinzipien und persönlichem Lebensstil, Immunität und Ehrenbeleidigung, Wahrheit und falschem Zeugnis. Dahinter stehen Menschen, die praktisch die Politik wegen ihrer persönlichen Interessen zu negieren scheinen und ihre Interessen nur mehr durch soziale oder parteiliche Konformität abzudecken vermögen.

Und nun zum letzten Anhaltspunkt. Unsere Überlegungen konzentrierten sich immer mehr auf Menschen, die offenkundig den Zusammenhang von Aufrichtigkeit und persönlicher Identität nicht mehr bieten können. Obwohl die Demokratie diesen Zusammenhang eher ermöglicht als ihn der Totalitarismus verbietet, ist der Wandel zur Windstille in den Lebensentwürfen deutlich geworden. Das Element persönlicher Autonomie ist keine fortgeschrittene Tugend mehr, sondern allein schon die Terminkalender zeigen die Staatsfunktionäre in einer Zwischenstellung zwischen Selbst und Zerrissenheit. Also herrscht die dekadente Kultur durch den Satz, daß zwar Gesellschaft, Staat etc. für das Überleben nötig sind, aber zugleich das Leben verdirbt. So ist das Zwielicht entstanden, in dem der Bürger als Komplize dieses gesellschaftlichen Verrats erscheint und die Demokratie gerade diese erniedrigende Komponente zu tolerieren hat. Gleichzeitig sind Polemiken gegen diese Zustände finsterer Windstille als Rollenspiele erlaubt, die gegenüber Kritiken immun sind. Die Nicht-Veränderbarkeit von Rollen und gestellten Szenen steht dem grundsätzlichen Sinn für Wandel in der Demokratie entgegen. Um diese Ambivalenz abschließend vorzuführen, muß man sich nur das Schauspiel der Korruptionen vergegenwärtigen, deren objektive Funktion darin beruht, totalitäre Systeme zu vermenschlichen und rechtsstaatliche zu ruinieren. In der Windstille ist es schwer zu entscheiden, auf welchem Kurs man nun ist.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)