Heft 6-7/2004
Oktober
2004

Durch Pulverfass und Kugelregen

Die Geburt der deutschen Filmindustrie aus dem Geist des ersten Weltkriegs

Die frühe Geschichte des Mediums Film in Deutschland während des folgenreichsten Ereignisses seit seiner Entstehung, also während des Ersten Weltkriegs, umfassend aufzuarbeiten und darzustellen ist mehr als nur Programm in Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im Ersten Weltkrieg von Wolfgang Mühl-Benninghaus, Filmwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin. Er schreibt damit die Entstehungsgeschichte der deutschen Filmindustrie im politischen, ideologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext neu.

Schon vor 1914 hatte sich der Film einen Platz in der Unterhaltungskultur der großen Städte wie auch der Provinz erobert. Das Kino als Vergnügungsstätte reihte sich zunächst ein neben Schaubuden und Bretterbühnen, neben Zirkuszelten und Kuriositätenkabinetten. Es war Teil einer Populärkultur, die den Verfechtern der bürgerlichen Ordnung und ihrer Bildungsideale ein Dorn im Auge war. Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts entstand zwar mit der Gründung von aufwändig eingerichteten „Filmpalästen“ auch ein bürgerliches Kinopublikum, die Vorurteile gegen das Medium Film auf Seiten der „Wortintelligenz“, wie Mühl-Benninghaus die tendenziell kulturkonservativen deutschen Intellektuellen nennt, waren allerdings bis 1914 keineswegs ausgeräumt. Diese trafen sich in dem Bemühen, die Produktion und Verbreitung von als „Schmutz und Schund“ bezeichneten Filmen durch Zensur, Jugendverbote oder der Forderung nach Konzessionen und „Bedarfsprüfungen“ zu kontrollieren und einzuschränken mit der autoritären Verwaltung des Deutschen Kaiserreichs. Auch die sogenannten „Kinoreformer“ waren in der Tradition der Volksaufklärung des 19. Jahrhunderts nur daran interessiert, die als Gefahr verstandene „seichte Unterhaltung“ durch pädagogisch wertvolles Filmmaterial zu ersetzen.

Mühl-Benninghaus konstatiert nun – das ist die zentrale These seiner Arbeit – im Verlauf des Ersten Weltkriegs, und zwar in den Jahren 1916/17, einen Paradigmenwechsel in der Bewertung des Films als Massenmedium, der für die Entwicklung der deutschen Filmproduktion in der zweiten Kriegshälfte und in den darauffolgenden Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung war: Sowohl die deutsche Industrie als auch die Oberste Heeresleitung erkannten die Massenwirksamkeit des Films und versuchten, sie für ihre Werbe- und Propagandazwecke zu nutzen. Dies führte im Jänner 1917 zur Gründung des Bild- und Film-Amts (BuFA), das der militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes und damit der Obersten Heeresleitung untergeordnet war. Die BuFA sollte den Vertrieb von deutschen Kriegspropagandafilmen und anderen für geeignet befundenen Spiel- und Dokumentarfilmen im neutralen Ausland ebenso wie im Inland und in den Frontkinos sicherstellen und darüber hinaus sämtliches propagandistisch nutzbares Bildmaterial beschaf­fen und verwerten. Die Interessen des deutschen Staates wie auch der Schwerindustrie an einem quantitativen und qualitativen Ausbau der Filmproduktion, die nun als „überragendes Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel“ (S. 276) galt, wurden schließlich in der Gründung der Universum-Film AG (Ufa) im Dezember 1917 gebündelt und zentralisiert. Da nur in Kombination mit Spielfilmen die gewünschte Massenwirksamkeit von Propaganda- oder Werbefilmen sichergestellt werden konnte, kamen die Förderungen von Staat und Industrie auch der deutschen Spielfilmproduktion zugute.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte die Filmbranche bereits eine plötzliche und tiefgreifende strukturelle Veränderung. Die furiose, national-chauvinistische Kriegsbegeisterung des August 1914 machte auch vor den Kinobetreibern nicht halt. Aus eigener Überzeugung oder auch nur aus Furcht vor wütenden Protesten der Kundschaft einerseits, vor Zensureingriffen andererseits, wurden Filme aus dem „feindlichen Ausland“, die bis dato einen Großteil der gezeigten Filme ausmachten, aus den Programmen genommen. „Bis zum Ausbruch des Kriegs waren der Film wie auch die Schallplatte und die Unterhaltungsliteratur ein internationales Medium, für dessen Import in allen Ländern die jeweils üblichen Zölle erhoben wurden.“ (S. 24) Der Boykott von Filmen aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich, ähnlich wie die Absetzung sämtlicher französischer Theaterstücke auf den Bühnen, führte zum Abbruch der Austausch- und Handelsbeziehungen in der Filmbranche und zu einer Nationalisierung des Mediums.

Mit dem Krieg und dem damit einhergehenden gesteigerten Informationsbedürfnis der Bevölkerung erlangte der Film zusätzliche Attraktivität durch die Fähigkeit des Mediums, authentische Bilder zeigen zu können. „Mit den Worten ‚das Theater hat seine Magie verloren. Wir wollen nicht den Traum, wir wollen Wirklichkeit’, beschrieb der Kinematograph im Oktober 1914 die aktuelle Stimmung der Kinobesucher.“ (S. 27) Das Publikumsinteresse an Bildern von den Kriegsschauplätzen konnte jedoch kaum befriedigt werden. Dies nicht nur aufgrund von militärischen Verboten und verschärfter Zensur – mit dem Stillstand der Armeen, den Schützengräben und der technischen Aufrüstung des Kriegsgeschehens war auf den Schlachtfeldern nichts mehr zu sehen. Die Filmproduzenten mussten mit Bildern von der Mobilmachung, mit Lichtbildern einzelner Feldherren, mit Karikaturen der Feinde oder auch mit altem Bildmaterial über Armee und Kriegsflotte über den Mangel an aktuellem Bildmaterial hinwegtäuschen. Auch das Genre der „gestellten Kriegsfilme“ oder „Kriegsdramen“ mit patriotischem Pathos waren an der Heimatfront in den ersten Monaten des Krieges sehr beliebt. „Im Mittelpunkt des Programms zur Wiedereröffnung des Mozartsaales in Berlin stand der von der National-Film produzierte Spielfilm Durch Pulverfass und Kugelregen.“ (S. 32)

Durch den Boykott ausländischer Filme, stärkere Zensureingriffe und einer vorläufig noch geringen Anzahl publikumswirksamer Eigenproduktionen kam es zu einem generellen Mangel an Filmen, der von den Kinobetreibern häufig durch die Gestaltung „Bunter Programme“, also der Kombination von Filmvorführungen mit musikalischen, tänzerischen oder artistischen Einlagen „vor der Leinwand“ ausgeglichen wurde. „Einige größere Kinos wandelten sich in so genannte Kino-Variétés um.“ (S. 30) Die zunächst ganz der Siegesgewissheit gewidmeten Programme wandten sich schon 1915 von der Aktualität ab und der Ablenkung und Unterhaltung zu. Besonders beliebt waren Detektivfilme und Serienfilme, die sich über die Hauptfigur und ihre/n Darsteller/in definierten. „Die Gründe für das Entstehen der Serien lagen im Wesentlichen in der Geschäftspolitik der Filmtheater­besitzer. Sie bedrängten ihre Verleiher nach einem gut gelaufenen Spielfilm weitere mit dem gleichen Hauptdarsteller oder Regisseur zur Verfügung zu stellen. Die Verleiher gaben ihrerseits den Wunsch an die Produzenten weiter. Um deren Geschäft abzusichern, handelten die Verleiher mit den Kinos eine Abnahmegarantie für die ganze Serie aus.“ (S. 222) Mit der Gründung der Ufa als großem, eng an staatliche, insbesondere militärische Stellen gebundenem Filmkonzern trat die Produktion aufwändiger, abendfüllender Spielfilme in den Vordergrund. So entsprachen auch die ab 1916/17 produzierten Kriegsfilme höheren dramatur­gischen und bildtechnischen Ansprüchen und konnten aufgrund der veränderten Haltung der militärischen Stellen und Zensurbehörden auch authentische Bilder bieten.

Dem Anspruch, auf der theoretischen Grundlage der Cultural Studies „die komplexen Beziehungen zwischen den Machthabern und den Haltungen der Machtabhängigen in ihren ständigen Veränderungen, sowie de[n] Zusammenhang zwischen Politischem, Ökonomi-schem und Kulturellem“ (S. 10) für die deutsche Filmgeschichte im Kontext des Ersten Weltkriegs zu erfassen wird Mühl-Benninghaus in dieser dichten und vielschichtigen Studie durchwegs gerecht. Das akribisch zusammengetragene Material spricht bis in kleine, oft skurrile Details für sich – etwa bei den Zensurrichtlinien für Detektivfilme, wo etwa „der Verbrecher immer in Richtung der Kinozuschauer zu zielen und zu schießen“ (S. 142) hatte, damit die Erschießung selbst bzw. ihr Opfer nicht sichtbar wäre – und lässt den Zusammenhang zwischen den herrschenden Kriegsinteressen des Deutschen Kaiserreichs und dem Aufbau der deutschen Filmindustrie zur bedeutendsten in Europa anschaulich hervortreten.

Wolfgang Mühl-Benninghaus: Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg. Berlin: Avinus Verlag 2004. ISBN 3-930064-15-4. € 32,—

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