Grundrisse, Nummer 19
März
2006

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

diesmal hat es etwas länger gedauert, dafür gibt es aber einen Schwerpunkt. Der war allerdings nicht geplant, sondern entwickelte sich parallel zu einer in der und rund um die grundrisse-Redaktion geführten Debatte. Thema: Nietzsche, oder vielmehr die Problematik der Aneignung nietzscheanischer Gedanken in der linken Theorie. Gerhard Hanlosers Artikel stellt die Möglichkeiten und Grenzen einer linken Nietzsche-Aneignung anhand der Theorien von Georges Bataille und Toni Negri vor, Karl Reitter argumentiert anhand des Mitleid-Begriffes bei Spinoza und Nietzsche gegen die Unmöglichkeit eines emanzipatorischen Anknüpfens an Nietzsche. Gegen die diesen beiden Texten immanente „werktreue“ Nietzsche-Kritik wendet sich der Text von Stefan Nowotny und Gerald Raunig: Sie sehen in der kritisch-produktiven Aneignung nietzscheanischer Elemente wichtige Aspekte linker poststrukturalistischer Ansätze. Die Debatte verlief auch in der Redaktion nicht immer zur Zufriedenheit aller. Für eine konstruktive Fortführung der Diskussion wäre es wohl von Vorteil, sich über die politischen und theoretischen Aspekte vor allem staats- und machttheoretischer Natur Klarheit zu verschaffen. Ansonsten droht die Debatte eine langweilige über Namen und nicht eine spannende über Problemstellungen linker Politik zu werden.

In „Fallen lassen!“ plädiert Jens Kastner für eine Abwendung von den verschiedenen Praktiken linken Denkens, die von einem letztlich repressiv handelnd gedachten Herrschaftsbegriff inspiriert wurden und werden. Ob in einer streng relationalen Sicht nicht aber umgekehrt jene Knotenpunkte der Macht aus dem Blick gelangen, die aktuell gerade wieder zu zentralen neoliberal-kriegerischer Politik werden, wäre hinsichtlich der weiter oben skizzierten Fragestellung ebenfalls zu diskutieren.

In ihrem Rezensionsessay zu Bridget Andersons „Doing the Dirty Work“ entwickelt Minimol über die Darstellung des Buches hinaus zentrale Fragestellungen zum Verhältnis von Arbeit, Migration und Genderpolitik. Ausgehend von der in Andersons Buch zentralen und empirisch gesättigten Fragestellung nach der Rolle migrantischer HausarbeiterInnen werden auch deren blinde Flecken sicht- und somit diskutierbar gemacht: zum einen die Frage nach dem Wesen von Hausarbeit als – oft auch auf der Linken – nicht als „richtige“ Arbeit angesehene Tätigkeit – mit allen politischen und sozialen Schlussfolgerungen, zum anderen die Möglichkeit kollektiver Kämpfe. Lisa Waldnaab berichtet über ihre Erfahrungen mit dem im Rahmen von „keine uni“ (http://not.priv.at/keineuni/) stattfindenden Lesekreis zu Alain Badious Wälzer „Das Sein und das Ereignis“. Zu guter Letzt noch jener Text, der diese Nummer eröffnet: Max Henningers „Postfordistische Profile“ präsentiert nach einer kurzen theoretischen Einleitung vier Portraits postfordistisch Arbeitender und Lebender. In der Diskussion um Postfordismus wird nicht zu Unrecht Kritik an der Abstraktheit der theoretischen Entwürfe geübt. Die „Profile“ in Henningers Text sollen demgegenüber die tagtäglichen Formen des Umgangs mit postfordistischen Verhältnissen ein Stück weit sichtbar machen.

Soviel zu dieser Ausgabe der grundrisse, noch heuer erwartet euch und uns die 20er-Jubiläumsnummer, die einen kleinen, aber feinen Lateinamerika-Schwerpunkt haben soll. Kräftig feiern werden wir unser 5jähriges Jubiläum natürlich auch, aber noch ist ja etwas Zeit dahin. Gratulieren möchten wir hingegen jetzt schon der in der Schweiz erscheinenden Zeitschrift „Widerspruch“ zum 25er (siehe auch Inserat auf Seite 19).

Besonders ans Herz legen möchten wir euch das soeben in der theorie.org-Reihe erschienene Buch „(Post)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude“ der beiden grundrisse-Redakteure Birkner und Foltin (siehe Werbung S. 6). In dieser Einführung werden sowohl Geschichte als auch Gegenwart operaistischen Denkens vorgestellt; neben den in dieser Zeitschrift prominent behandelten Bücher „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ von John Holloway, Paolo Virnos „Grammatik der Multitude“ Hardt/ Negris „Empire“ und „Multitude“ kommen auch KritikerInnen postoperaistischer Ansätze zu Wort, ebenso werden politische Projekte vorgestellt, die an postoperaistische Theorien anknüpfen. Am 6. November wird es in der Wiener Hauptbücherei am Gürtel (U6 – Burggasse, Beginn 18.30 Uhr) eine Buchvorstellung samt Diskussion zum Verhältnis von Politik und Theorie sowie im Anschluss daran ein rauschendes Fest im „Fluc“ im zweiten Wiener Gemeindebezirk geben. Nähere Informationen zu diesen und anderen Terminen rund ums Buch finden sich auf www.grundrisse.net und auf www.theorie.org. Die ersten drei, die ein 2-Jahres-Abo der grundrisse bestellen, bekommen „(Post) Operaismus“ gratis dazu! Wohl bekomms! Außerdem möchten wir noch auf den soeben im Verlag Edition AV erschienenen ersten Band der Ausgewählten Schriften von Cornelius Castoriadis hinweisen. Unter dem Titel „Autonomie und Barbarei“ versammeln sich Aufsätze aus verschiedenen Lebensabschnitten von Castoriadis, alle drehen sich jedoch um demokratietheoretische Fragestellungen. Für nächstes Jahr ist eine Veranstaltung zum Denken von Cornelius Castoriadis gemeinsam mit den Herausgebern geplant.

Entschuldigen möchten wir uns abschließend bei Johanna Klages. Ihr Text „Kampffeld Repräsentation“ in der #18 wurde in der vorletzten Fassung publiziert, den „richtigen“ Text findet ihr auf www.grundrisse.net. Bedanken möchten wir uns bei Lisbeth Kovacic für die Produktion der Bildstreifen in dieser Nummer. Diese stammen aus einem ihrer Filme. Und weil wir gerade bei Bildproduktion sind, ersuchen wir um Beachtung nachstehender Einladung.

Die Mittelseite enthält Arbeiten von Clemens Stecher, dem wir herzlich danken. Linda Bilda hat dazu folgenden kommentierenden Text verfasst: „Die Serie von insgesamt ca 60 Zeichnungen von Clemens Stecher entstanden ursprünglich aus einzelnen Tuschzeichnungen, die koloriert wurden, dann eine immer schnellere Abfolge entwickelten. Obwohl sie keine festen Personen und Handlungen wie in einem Comics zeigen, bilden sie eine Geschichte, die Geschichte unserer Zeit. Oder eine Dokumentation darüber, was Bildredaktionen zu bestimmten Anlässen auswählen. Beim Herstellen dieser zeichnerisch genauen Blätter werden die vorliegenden Fotos einer gedanklichen Analyse unterzogen, aber als Synthese bildlich zusammengesetzt. So gelingt es, Dinge und Vorgänge sichtbar zu machen, die das eigentlich restriktive Fotomaterial - was überhaupt in die Presse kommt, wird schon vorher durch politische Einflußnahme ausgewählt - transparent und emotional zugänglich machen. Für die Grundrisse wurden vier Arbeiten ausgewählt, die in der Serie der Zeichnungen getrennt lagen und in ihrer jetzigen Zusammenstellung eine eigene Erzählung bilden.“

Einen schönen Herbst und viele Abos wünscht uns allen

die grundrisse-redaktion

Workshop: Für eine emanzipatorische Bildpolitik

„Die Ebene der visuellen Wahrnehmung ist heute die wichtigste Fläche, auf der Ideologie, Mythen und Ideenwelten produziert und verbreitet werden. Ästhetische Darstellungen sind ideologisierbar und Imagekampagnen, Filme und Bildstrategien arbeiten daran in unsere Wahrnehmung zu dringen, sie zu formen und sie zu manipulieren. Wir können feststellen, dass der Kampfplatz Imageproduktion als wichtigste Trägerin von Ideologie von politisch fortschrittlichen Menschen als solcher nicht eingehend wahrgenommen wird. Die „Linke“ beschäftigt sich mit Bildproduktion meistens nur soweit, als sie sich über einen kulturellen Distinktionsgewinn einrichtet und versucht die besseren Filme sehen, die cooleren Comics zu lesen und Kunst zu rezipieren. Hegemonie über die Bildpolitik zu gewinnen scheint ein wenig beachtetes Thema. Wir halten es daher für wichtig, visuelle Denkprozesse in emanzipatorischer Absicht zu verstärken.“ (Auszug aus dem „Manifest für eine emanzipatorische Bildproduktion“)

Gemeinsam mit Nora Hermann und Linda Bilda (Redaktion die weisse blatt) laden wir zu einem Workshop ein, der Bilder und (linke) Bildproduktion zum Thema hat. Ausgehend vom „Manifest für eine emanzipatorische Bildproduktion“ sollen sowohl theoretische Fragen erörtert, vorhandenes Bildmaterial diskutiert (u.a. die bisherige Bildgestaltung dieser Zeitschrift) sowie neues Material erstellt werden.

Der Workshop ist in drei Abschnitte strukturiert: Nach einer allgemeinen Einführung sind eine Reihe von Kurzreferaten geplant, bisher sind folgende Themen fixiert: Kollektives Gedächtnis durch Bilder? – Was ist ästhetischer Widerstand? – Der Pergamonaltar im Buch „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Danach wird das „Manifest“ vorgestellt, diskutiert und vielleicht auch weiter entwickelt. Anschließend soll vorhandenes Bildmaterial analysiert und auch eigenes produziert werden.

Der Workshop findet Samstag, den 21. Oktober von 11 bis 18 Uhr im „Depot“, Breitegasse 3, 1070 Wien, statt. Alle sind dazu herzlich eingeladen.

Schtzngrmm?, oder: Unumgängliche Anmerkungen, unter anderem zu „Über die tagtägliche Überkommenheit des Anarchosyndikalismus“

In der Hoffnung auf Belebung bzw. Initiierung linker Debatten (was im Untertitel dieser Zeitschrift steht und doch nur allzu selten der Fall ist) habe ich in meiner Kritik an Johanna Klages’ Text „Kampffeld Repräsentation“ in den letzten grundrissen (#18) zwei etwas polemische Anmerkungen zu in Wien aktiven Gruppen angebracht. Gleich zu Beginn meines Textes zitierte ich in kritisierender Absicht den Aufkleberslogan der wertkritischen Zeitschrift „Streifzuege“ „Keine Politik ist möglich!“, einige Zeilen später schrieb ich vom traurigen Zwillingspaar Ökonomismus-Politizismus und erklärte nebst Leninismus, Sozialdemokratie und traditioneller Gewerkschafterei kurzerhand den Anarchosyndikalismus für „überkommen“.

Franz Schandl kommentierte den Text in den Streifzügen, [1] das „Allgemeine Syndikat Wien“ schickte uns den nachfolgend publizierten Text. Auf beide Texte möchte ich in aller Kürze eingehen. Trotz vieler Unterschiede ist ihnen gemein, dass sie sich als „antipolitisch“ verstehen, einen ökonomistischen und tendenziell ahistorischen Zugang präsentieren, und dass sie sich auf die Kernfragestellungen meines Textes wenig bis überhaupt nicht beziehen. Dies mag wohl auch mit den von mir ausgelegten Ködern zu tun haben, sind doch wertkritische und anarchosyndikalistische Ansätze die sympathischsten der oben genannten bzw. kritisierten.

Dem ersten Teil des Textes des „Allgemeinen Syndikats“ ist weitgehend zuzustimmen. Das Schlussstück zur Problematik der Politik klärt hingegen meines Erachtens nach die in meinem Text tatsächlich nicht genannten Ursachen meiner Kritik: Politik wird schlicht und einfach zum Abstraktum erklärt, welches überhaupt nur via Repräsentation funktionieren könne, nichts mit dem „alltäglichen Leben“ zu tun habe und deshalb per se antiemanzipatorisch und abzulehnen sei. Punktum. Ich zitiere: „Die Konstruktion des ‚Politischen’ [2] [...] verlangt immer auch nach der Unterordnung des ‚Privaten’ unter das ‚Politische’, was letztlich nur mit Hierarchie und Repression möglich ist.“ Und „das Private“? Hierarchiefrei?? Jenseits der Repression??? Paradiesisch????

Ein Einsatz meines Textes war es, dass gerade die bürgerlich-ideologische Trennung von „öffentlich“ und „privat“ von einer revolutionären Politik permanent in Frage gestellt werden muss. Das Hauptproblem der Argumentation des Allgemeinen Syndikats ist mithin genau jenes „des Anarchosyndikalismus“ und der Grund für seine möglicherweise tatsächliche „Überkommenheit“ – zumindest was die theoretische Durchdringung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse als Voraussetzung und Begleitmaßnahme für politisches Handeln betrifft: Es ist immer schon alles klar. Wenn es keine Politik geben würde, wär’ alles gut – zumindest der Klassenkampf würde dann toben wie nie ... Und so drängt sich mir ein unangenehmes Gefühl beim Lesen des Textes auf: Der Anarchosyndikalismus ist mir zu marxistisch, und zwar im schlechten Sinne der jahrzehntelangen Praxis der Verkürzung gesellschaftlicher Phänomene und Auseinandersetzungen auf die Ableitung von der „ökonomischen Basis“. Dies führt zum schematischen Eingliedern von allem und jedem in die Bewegungen ökonomischer Herrschaft. „Was bitte ist am Patriarchat oder dem Rassismus nicht ‚konkret’?“ wird gefragt. (Warum ‚konkret’ plötzlich unter Anführungszeichen?) Nichts! Aber was davon ist nicht politisch? Oder sind Patriarchat und Rassismus doch Instrumente, die die Herrschenden nach Belieben einsetzen, um die mit einem einheitlichen Interesse ausgestatteten ArbeiterInnen zu spalten? Sind Patriarchat und Rassismus „ökonomisch“ (will heißen: konkret?) lösbar? Ist alles ökonomisch und, falls nicht: Was wäre das „konkrete“ Nicht-Ökonomische im gesellschaftlichen Verkehr? Fragen über Fragen.

Mit der Gegenüberstellung von „abstrakt“ und „konkret“ ist in dieser Beziehung jedenfalls nichts gewonnen. Wenn die Veränderungen und Verschiebungen der Möglichkeit, gesellschaftliche Praktiken wirkungsvoll ins Werk zu setzen (das ist vielleicht Politik), nicht im Auge behalten werden, begräbt der Schematismus des „Alles beim Alten, alles immer dasselbe, alles Herrschaft, wir sind dagegen und wissen eh, wie’s geht etc.“ das notwendige Fragen nach den und Austesten der Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns – und verdammt uns so zu gesellschaftlichen Randerscheinungen.

Für den sympathischen Tarockierer Franz Schandl hingegen existiert meine Fragestellung überhaupt nicht; die Kritik hat offensichtlich schon alles widerlegt. Da auch bei ihm Politik ist und sein muss, was uns die repräsentativ-parlamentarische Demokratie als solche vorschreibt, kann er sich beispielsweise nicht vorstellen, dass politisches Handeln auch lustvoll sein kann. Die gesellschaftlich wirkungsvollen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit hatten allerdings immer auch Festcharakter: Ausgelassenheit und Freude standen vom Mai 68 bis zu den Aufständen in Argentinien 2001 immer eher im Mittelpunkt des Geschehens als am Rande. Aber solche Phänomene müssen nach Schandl wohl jenseits jeder Politik angesiedelt werden. Sei’s drum. Nur warum gibt er dann keinerlei Hinweise, wie „menschliches Wirken oder Schöpfen“ (Schandl) jenseits liberaler Selbstverwirklichung und abstraktem Humanismus gesellschaftsverändernd oder gar nachkapitalistische-Gesellschaft-konstituierend wirksam werden könnte?

Das grundsätzliche Missverständnis scheint also kein rein begriffliches zu sein. Vielleicht ist es aber doch der Unterschied zwischen Experiment und Kritik, Kritik im Handgemenge und Handgemenge der Kritik, sozialen Bewegungen und Schreibtisch, fragendem Voranschreiten und negativer Antwort. Wenn soziale Bewegung, wie Schandl uns weismachen will, nur als Kollektivsubjekt des Kapitals angesehen werden kann, dann ist der Schreibtisch tatsächlich das einzig mögliche – und sicher auch friedvolle – Werkzeug zur Überwindung des Fetischs Bewegung. Hoffentlich entwickelt er dabei keine Grillen.

Martin Birkner

Über die tagtägliche Überkommenheit des Anarchosyndikalismus

Die Redaktion der grundrisse betont immer wieder, dass ihre Zeitschrift die Funktion eines strömungsübergreifenden Mediums für linke Theorien und Debatten haben soll. Dieses Angebot wollen wir hiermit wahrnehmen. In der letzten Ausgabe der grundrisse (#18) steht im Artikel „Kampffeld ohne Kampf?“ von Martin Birkner folgendes:

„Die jeweils konkret-historische Situation kapitalistischer Gesellschaftsformationen hat somit Rücksicht zu nehmen auf die spezifische Art der Verbindung dieser zwei Aspekte eines Herrschaftsverhältnisses, ansonsten ist das historisch bekannte Zwillingspaar Politizismus – Ökonomismus mitsamt seinen unzureichenden theoretischen Ansätzen und politischen Konsequenzen nicht weit. Leninismus und Sozialdemokratie sowie Anarchosyndikalismus und traditionelle Gewerkschafterei führen uns tagtäglich ihre eigene Überkommenheit vor Augen.“

Worin genau die „tagtägliche Überkommenheit“ des Anarchosyndikalismus liegen soll, verrät uns Birkner leider nicht. Obwohl uns durchaus bewußt ist, dass der Text eigentlich einem anderen Thema gewidmet ist, hätte eine kurze Ausführung dazu nicht geschadet (Vielleicht überschätzt der Autor die heutige Bedeutung des Anarchosyndikalismus auch ein wenig, wenn er sie in eine Reihe mit der Sozialdemokratie oder dem Zentralgewerkschaftstum stellt …). Birkner will also zwei abzulehnende Pole aufzeigen. Die Kritik an Leninismus und Sozialdemokratie bezüglich ihres staatsfetischistischen Politizismus teilen wir durchaus. Was die traditionelle Gewerkschafterei betrifft, ist dringend einzuwenden, dass deren Problem eben gerade nicht ihrem Ökonomismus oder gar einer antipolitischen Haltung geschuldet ist. Das Problem traditioneller, reformistischer Gewerkschaften wie z.B. dem ÖGB ist genau das Gegenteil: Eben weil für den ÖGB das Wahlergebnis der SPÖ und das Bewahren der Sozialpartnerschaft immer schon wichtiger war als kompromissloser, unmittelbarer, ökonomischer Kampf, driften die staatstragenden Gewerkschaften immer mehr ins Abseits.

Was den Anarchosyndikalismus und seine „theoretischen Unzulänglichkeiten“ betrifft, so muss doch erklärt werden, dass der Anarchosyndikalismus ein Organisationskonzept ist, das Ende des 19. Jahrhunderts entstand – eben gerade weil sich die damalige Sozialdemokratie auf die Erkämpfung des Wahlrechts konzentrierte und dieser den direkten ökonomischen Kampf unterordnete. Der Anarchosyndikalismus ist keine am philosophischen Reißbrett entworfene Heilslehre, sondern eine Form der Selbstorganisation im Klassenkampf. Was später Anarchosyndikalismus genannt wurde, war eine bestimmte Art zu kämpfen die im Nachhinein theoretisiert wurde. Zugegebenermaßen hat sich das heute zu einem gewissen Grad umgedreht: Wir, die wir heute derartige Organisationen ins Leben rufen bzw. dazu aufrufen, kennen diese Praxis zumindest in ihrer vollen Entfaltung meist nur aus Schriften und Berichten. Dieses Wissen um die historischen Kämpfe zeigt, dass manches davon heute so nicht mehr aktuell ist: Obwohl der Arbeitsfetischismus anarchosyndikalistischer Gewerkschaften bei weitem nicht so ausgeprägt war wie bei rein marxistischen und sozialdemokratischen Strömungen war er durchaus auch vorhanden. Dass dem Rätekommunismus ähnliche Konzept der Organisierung in Syndikaten darf heute nicht mehr allein mit Blick auf die klassisch-fordistische Fabrikarbeit gesehen werden. Der Proletkult, die Verherrlichung des ArbeiterInnendaseins, wurde auch von anarchosyndikalistischen Gewerkschaften betrieben. All das wird und wurde von den heutigen AnarchosyndikalistInnen kritisch reflektiert und wird in der gegenwärtigen Argumentation und Praxis berücksichtigt.

In den konkreten Kämpfen ist die anarchosyndikalistische Organisationsform höchst aktuell: Die heutige vielerorts dezentrale Produktionsweise (zersplitterte, „Just in Time“-Organisation) macht eine dezentrale aber vernetzte Kampfweise aktueller den je. Teile des Kapitals wollen mit der Zerschlagung der Kollektivverträge jegliche kollektive Solidarität verhindern. Doch dieser Schuß könnte nach hinten losgehen: Das zwingt uns ArbeiterInnnen direkt gegen die jeweilige Betriebsleitung zu kämpfen. Es muß keine Rücksicht mehr genommen werden auf die staatstragenden, volkswirtschaftlichen Interessen der Zentralgewerkschaften. In vielen Bereichen, wo es kaum zentralgewerkschaftliche Organisierung gibt (Arbeitslose, Scheinselbstständige, reproduktiv Tätige, Illegalisierte, zig-tausende, die zwischen verschiedensten Jobs, Flucht ins Bildungssystem und Arbeitslosigkeit hin und her wechseln) tut sich ein weites Feld für radikale Basisgewerkschaften auf. Nicht zuletzt auch, weil die Lebensbedingungen dieses „prekarisierten“ Teils der ArbeiterInnenklasse immer mehr zur Normalität für alle ArbeiterInnen werden.

Das bedeutet auch, dass unsere heutige Definition von ArbeiterInnenklasse alle direkt oder indirekt Lohnabhängigen (ob nun produktiv oder reproduktiv tätig) umfaßt. Dies bringt mit sich, dass für uns „Gewerkschaft“ nicht ausschließlich Arbeitskampf bedeuten kann, sondern dass der Klassenkampf alle Lebensbereiche umfaßt. Fragen wie z.B. Wohnen (MieterInnenkampf) oder die Suche nach Möglichkeiten des Aufbaues herrschaftsloser, selbstorganisierter Strukturen in allen den Alltag betreffenden Bereichen ist höchst aktuell und AnarchosyndikalistInnen können und werden dazu ihren Beitrag leisten.

Warum also sind wir nicht „politisch“, sondern „antipolitisch“? Weil wir bestreiten, dass die abstrakte politische Sphäre ein geeignetes Kampffeld für die direkte Aktion (so was wie ein Fetisch für uns?) ist. Sobald so etwas wie ein „Allgemeininteresse“ – im Gegensatz zum Individualinteresse, vielleicht sogar Klasseninteresse - konstruiert wird, kommen Leute oder Körperschaften daher, die es zu vertreten vorgeben, und die es im Zweifelsfall auch gegen den Willen der Betreffenden durchzusetzen imstande sind. Das einzige „politische“ an der ganzen Sache ist, dass diese direkte Aktion so massiv, also auch kollektiv (selbst-)organisiert wie möglich eingesetzt werden muss, um erfolgreich zu sein. Manchmal wird argumentiert, dass Herrschaftsverhältnisse wie das Patriarchat oder der Rassismus unter den Tisch gekehrt würden, wenn wir nicht „politisch“ denken. Wenn wir unsere Definition des Wortes „politisch“ verwenden: Was bitte ist am Patriarchat oder dem Rassismus nicht „konkret“, was davon findet nicht im alltäglichen Leben statt, und muss eben deshalb nicht auch gerade hier angegriffen werden?

„Alles ist politisch“ heißt im Grunde nichts anderes als „Nichts ist politisch“ (ist das Dialektik?) – sprich die Trennung zwischen dem „Privaten“, Konkreten und dem Abstrakten, dem „Politischen“ ist, „emanzipatorisch“ betrachtet, sinnlos. Die Konstruktion des „Politischen“ verlangt nach abstrakten, weil vom Konkreten losgelösten Artikulationsmöglichkeiten, wie es nicht zuletzt Parlamente, Zentralräte oder -komitees, die für „alles“ zuständig sind (oder zu sein glauben). Und sie verlangt immer auch nach der Unterordnung des „Privaten“ unter das „Politische“, was letztlich nur mit Hierarchie und Repression möglich ist. „Verteilt die Macht, bis sie keine/n mehr mächtig macht“ sagen die AnarchistInnen. Und dass sie das schon vor hundert Jahren gesagt haben, macht diese Aussage nicht falsch.

Nie kann eine Macht größer sein, als wenn sie von möglichst vielen (allen) Individuen unmittelbar getragen wird – und doch ist sie in einem solchen Fall aufgelöst (schon wieder Dialektik?) – und genauso verhält es sich mit dem „Politischen“: Wenn all das, was „wirklich wichtig ist“, was von „Allgemein-“, vielleicht sogar „Menschheitsinteresse“ ist, nicht mehr ständig aus dem konkreten, unmittelbaren (was auch „unvermittelbar“ heißt) Leben weggetragen wird, dann beginnt die herrschafts- und klassenlose Gesellschaft.

Allgemeines Syndikat Wien

[2Auf die unzulässige Gleichsetzung von „Politik“ und „dem Politischen“ sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen. Erstere ist eine gesellschaftliche Praxis, letztere ein öffentlicher, d.h. letztlich staatlich garantierter, Raum, in welchem die Politik sich abzuspielen hat. Dessen notwendige Kritik macht allerdings die Politik in emanzipatorischer Perspektive nicht unmöglich. Genau darauf wollte ich mit meinem Hinweis auf das Badiousche Politikverständnis – Politik als Schaffung einer Distanz zum Staat – hinweisen.

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