Grundrisse, Nummer 22
Juni
2007

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Am 9. Mai durchsuchte die Polizei an die 40 Objekte in Deutschland, um eine angebliche terroristische Vereinigung zur Störung des G8-Gipfels in Heiligendamm zu zerschlagen. Wenn es darum gegangen sein sollte, die Bewegung einzuschüchtern, so ist das Polizei und Staatsapparat nicht gelungen. Denn am gleichen und am nächsten Tag demonstrierten 10.000e in ganz Deutschland gegen die Repression. Auch in Wien zogen über 100 Menschen vor die deutsche Botschaft, um ihren Protest auszudrücken. Das Kalkül, die Bewegung durch Einschüchterung zu spalten und zu demoralisieren ist offensichtlich nicht aufgegangen, im Gegenteil, die Mobilisierung gegen den G-8 Gipfel erhielt dadurch neuen Schwung.

Wir haben eine Reihe Veranstaltungen durchgeführt (siehe das Editorial der letzten Nummer), die teilweise sehr erfolgreich waren. Die Veranstaltung „Ist Sex subversiv?“ am 23.5. im Que[e]rbeisel in Wien wird schon vorbei sein, wenn ihr diese Zeitung in den Händen haltet. Neben der laufenden Diskussion um alle eingelangten Artikel arbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe zum Thema „Ausnahmezustand“ mit dem Ziel, im Herbst ein größeres Seminar dazu abzuhalten.

Wie jedes Jahr führen wir auch heuer wieder ein Sommerseminar in Hegymagas durch. Dieses mal zum Thema „Realer Sozialismus“, wobei sich einige TeilnehmerInnen aus ost- und südosteuropäischen Regionen beteiligen werden. Da die Plätze sehr knapp sind, ersuchen wir alle, die sich beteiligen möchten, sich rasch bei der Redaktion zu melden.

Nun zu den Artikeln: Im Kontext der Mobilisierung gegen den G-8 Gipfel in Heiligendamm steht der Artikel „Neue Gemeinplätze – Bewegung, Organisierung und linke Intervention“ von Thomas Seibert. Im Anschluss an dieses Editorial findet ihr einen ausführlichen Kommentar zu diesem Text. Gáspár Miklós Tamás beschreibt den Charakter der „realsozialistischen“ Systeme aus einer Perspektive eines ehemaligen Dissidenten als „ganz normalen Kapitalismus“. Nicht die Errichtung einer Sozialistischen Gesellschaft, sondern die radikale Beseitigung vorkapitalistischer, feudaler sozialer Verhältnisse sei das geschichtsmächtige Resultat der kommunistischen Parteiherrschaft gewesen. In einem Rezensionsessay legt euch Minimol das Buch über den Streik bei Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen ans Herz: ein Buch, das erfrischend unideologisch und trotzdem revolutionär ist. Mit der Frage der notwendigen Arbeit im Kommunismus oder Sozialismus setzt sich Franz Naetar auseinander und argumentiert das bedingungslose Grundeinkommen als notwendige Institution einer nachkapitalistischen Gesellschaft. In seinem Aufsatz „Warum eigentlich Materialismus?“ macht Meinhard Creydt die LeserInnen mit dem praxisanalytischen Konzept Helmut Fleischers bekannt. Viele Diskussionen wird der zweite Teil des Artikels von Paul Pop „Ist Sex subversiv?“ hervorrufen, der den Anspruch hat, sich mit Theorien auseinanderzusetzen, die in der Linken diskutiert wurden und werden. Vier Buchbesprechungen ergänzen dieses Heft und somit kann die Redaktion den Sommer ein bisschen ruhiger angehen.

Auf die Anfrage an unsere LeserInnen, ob wir in Zukunft auch Artikel in englischer Sprache veröffentlichen sollen, gab es zwei Rückmeldungen. Karin aus Hamburg sprach sich dagegen, Barbara aus Bratislava dafür aus. Somit bleibt die Frage weiter offen.

Die Bildstreifen entstammen überdies aus dem so genannten Voynich Manuskript, höchstwahrscheinlich ein raffiniert und aufwendig gestaltetes Nonsenskonvolut, mit dem Betrüger Anfang des 16. Jahrhunderts den Habsburger Rudolf II. um umgerechnet etwa 30.000 Euro erleichtert haben.

Die grundrisse-Redaktion

Anmerkung zum Artikel: Ist Sex subversiv? Linke Theorien der sexuellen Befreiung und Gender-Dekonstruktion von Paul Pop

Wie zu erwarten, gab es zum Artikel „Ist Sex subversiv?“ heiße Diskussionen, besonders über den Teil, in dem feministische Theorien referiert werden. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Redaktion der grundrisse keine einheitliche Meinung hat. Unter anderem wurde kritisiert, dass der Schwerpunkt auf den normativen Elementen des Feminismus/der Feminismen gegenüber der Sexualität liege. Aber auch die KritikerInnen finden es wichtig, dass eine Diskussion stattfindet. Vielleicht kommen auch Kritiken, Antworten und Ergänzungen von außen.

Es ist natürlich ungerecht, einem Artikel die Auswahl vorzuwerfen, trotzdem fehlt mir persönlich ein entscheidender Strang der Sex-Diskussion. Auch wenn Judith Butler diskutiert wird, ist der Artikel stark auf „normale“ Sexualität konzentriert. Die Lesben- und Schwulenbewegung war, zumindest in der ersten Phase mit der Linken und dem Feminismus verbunden. Dort lief die Diskussion anders, offener und näher an den Sexualpraktiken. In der Schwulenszene mehr über die unterschiedlichen Sexmoden (manchmal mehr auf „weiblich“-androgyn, dann wieder mehr auf hart und Leder). Inzwischen hat sich das auch in verschiedene Szenen ausdifferenziert, wie die Vielfalt auf den Christopher Street Day-Paraden zeigt. In der Lesben-Bewegung waren es weniger Moden, als verschiedene Blickwinkel etwa in bezug auf die Verwendung von Dildos. Aus der Kritik innerhalb dieser Bewegungen entstand die Queer-Bewegung, die sich auf das verständigt, was sich vom normalen Heterosex unterscheidet, was sich gegen die Heteronormativität richtet.

Auch die Frage „Wechsel von Geschlechtsidentitäten“ wird ein bisschen harmlos dargestellt. Der Beitrag bestätigt viele (absichtliche?) Missinterpretationen von „Gender Trouble“, etwa dass die Subversion durch das Spiel der Geschlechter so leicht wäre. Insbesondere in „Körper von Gewicht“ zeigt Butler, dass die Geschlechterrollen sehr stabil sind, trotzdem immer wieder und tagtäglich produziert. Außerdem wird zu wenig betont, dass die Geschlechterrollen mit der Begehrensordnung der Heterosexualität verbunden sind. Aber vielleicht gibt es zu diesen beiden Punkten ja noch einen Artikel.

Robert Foltin

Zum Text von Thomas Seibert

Im Folgenden findet ihr einen Reprint von Thomas Seibert: Neue Gemeinplätze. Bewegung, Organisierung und linke Intervention aus dem Heft „G8: Die Deutung der Welt; Kritik, Protest, Widerstand“, welches anlässlich der Mobilisierung gegen den anstehende G8-Gipfel in Heiligendamm als Gemeinschaftsprojekt der Zeitungen arranca!, Fantomas, So oder So Magazin und ak – analyse & kritik vor kurzem erschienen ist. Der Grund für den Abdruck ist einerseits die in der grundrisse-redaktion weitgehend geteilte inhaltliche Positionierung, als auch die unseres Erachtens nach sehr schöne und kompakte Zusammenfassung des Standes der „Bewegung der Bewegungen“. Besondere Bedeutung ist dabei auch der Darstellung der „Dunklen Seite der Multitude“ zuzumessen.

Im letzten Teil von Seiberts Text geht es vor allem um die jüngste bundesdeutsche Entwicklung, Anlass genug, ganz kurz auf Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zur aktuellen Situation in Österreich hinzuweisen:

  • Der (Rest)Einfluss der sich selbst überlebt habenden Antideutschen ist hier nicht in erster Line in der Antifa-Szene zu verorten sondern eher in Teilen der universitären Linken.
  • Es gibt keine „Rifondazione“. Aus der SPÖ sind trotz einer jeder Beschreibung spottenden Politik die „Linken“ nicht ausgetreten, die Gewerkschaftslinken ist schwach wie eh und je und die Kommunistische Partei hat sich mit dem Verkauf des Sozialen Zentrums „Ernst Kirchweger Haus“ in Wien von den links von ihr stehenden Strukturen abgeschnitten und ist darüber hinaus in mehrere Flügel gespalten, von denen bei Wahlen lediglich der sozialdemokratisch-poststalinistische in der Steiermark mehr als 1-2% erreicht.
  • Streiks werden in Österreich nach wie vor in Sekunden gemessen.

Ob das für die Perspektive einer systemüberwindenden Linken als gut zu bewerten ist oder nicht, sei – mit Ausnahme des dritten Punktes – dahingestellt. Tatsache ist, dass die neuen Formen linker Kommunikation und Kooperation seit dem Ende des Sozialforumsprozesses hierzulande auf kleine Erfolge wie z.B. die Debatte rund um Prekarisierung und der damit verbundene Maydayprozess beschränkt bleiben. Gerade in der Schlussphase der Mobilisierung spielt auch die G8-Mobilisierung eine zunehmend wichtige Rolle: eine einigermaßen breite Mobilisierung kann möglicher Weise wieder neuen Schwung in die hiesige Linke bringen, an der Notwendigkeit lokaler Verankerung und der längst (über)fälligen Verabschiedung historischer Dogmen führt jedenfalls nix vorbei. Vorerst jedoch mal: Auf nach Heiligendamm!

Nähere Infos zu den Protesten & Bestellmöglichkeit der Broschüre: http://www.g8-2007.de/

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