Grundrisse, Nummer 44
Dezember
2012

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Die Auseinandersetzung mit Religion hat (wieder) Konjunktur. Dir seinerzeitigen vollmundigen Aussagen aus dem Umkreis der TheoretikerInnen der sogenannten Moderne, die offenbar als unaufhaltsam gedachte Entzauberung der Welt (zumeist in Überblendung der Thesen von Jürgen Habermas und Max Weber vorgetragen) würde notwendiger Weise das Erlöschen des Religiösen bewirken, sind verstummt. Ebenso dürfte das Mantra von der Religion als das Opium des Volkes seine Erklärungskapazität offenbar eingebüßt haben. Eine differenzierte Auseinandersetzung ist somit angesagt.

Der Artikel von Martin Birkner Zur Kritik der Religionskritik, oder: Der Glaube an den Kommunismus, der auch als Einführung die Problematik gelesen werden kann, trägt programmatische Züge. Gestützt auf seine Begriffsunterscheidung zwischen Gott, Gaube und Religion zeigt er die offenen aber auch verborgenen religiösen Dimensionen sowohl des Kapitalismus als auch vieler kritischer und emanzipatorischer Strömungen auf. Davon ausgehend plädiert er gegen eine allzu schroffe Entgegensetzung von Glauben und Emanzipation. Eine ausschließlich auf Wissen basierende Sicht der Welt hält Birkner für ein Phantasma, eine Form des „Transparenzwahns“.

Wie der Titel bereits verrät, beschäftigt sich Anne Steckner in Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Widerständigkeit ausführlich mit dem Religionsbild Gramscis. Obwohl dieser zunächst Religion als Herrschaftsideologie interpretierte, zeigt die Autorin in ihrem sehr detailreichen Text auch die anderen Aspekte seines Religionsverständnisses auf. Nicht zuletzt aus dem Scheitern des italienischen Liberalismus, die Massen tatsächlich zu erreichen, zieht Gramsci, die Schlussfolgerung, es gehe weniger um die Orientierung auf die fixen Gegensätze von Religion und Glauben auf der einen und Vernunft und Atheismus auf der anderen Seite, sondern vielmehr um die Frage, wie die subalternen (ein Begriff Gramscis) Massen handlungsfähig würden. In diesem Zusammenhang steht auch die interessante These Gramscis, der italienische Katholizismus hätte sich der Aufgabe stellen müssen, sowohl die herrschende als auch beherrschte Klassen ideologisch unter dem Banner des Christentums zu vereinen.

In An den Himmel verschleuderte Schätze? – der Titel ist ein Zitat aus einer Frühschrift Hegels – spannt Klaus Ronneberger einen weiten Bogen von der filmischen Arbeit des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini über die Entwicklung der puritanisch calvinistischen Kirchen insbesondere in den USA bis hin zu den Paulus-Bezügen bei Alain Badiou und Slavoj Zizek. Insbesondere arbeitet er die Ambivalenz der chiliastischen Bewegung (griech. = tausend, gemeint ist das tausendjährige Reich, ein Begriff der wie viele andere von den Nazis okkupiert wurde) heraus, in welcher Weise die Erlösung zu erhoffen sei, im Jenseits, in einer kommenden befreiten Gemeinschaft oder gar in der bereits existierenden, elitären Gemeinde der Gläubigen?

Sebastian Kalicha wiederum plädiert in Anarchismus und Christentum für einen differenzierten Blick auf dieses Verhältnis. Ist ein christlicher Anarchismus oder aber auch ein anarchistisches Christentum möglich? Durchaus, meint der Autor; unter anderem indem er sich auf den französischen Soziologen und Philosophen Jacques Ellul beruft. Obwohl in diesem Verhältnis bisher in erster Linie der Gegensatz dominierte, zeigt Kalicha auch eine ganze Reihe historischer und aktueller Gegenbeispiele auf und verweist auf einige Indizien, die auf eine differenzierte Sichtweise in beiden Lagern, wenngleich auch von Minderheiten getragen, hinweisen.

Abgesehen von den Buchbesprechungen findet ihr abschließend kurze Auszüge aus dem Buch Ein anderer Gott ist möglich von María López Vigil und José Ignacio López Vigil. Darin kommt kein geringerer als Jesus himself zu Wort – und erklärt den wahren Sinn seiner Taten und Worte gut 2000 Jahre nach seinem Tod. In diesem Sinne wünschen wir euch (fast) ohne Ironie ein erfülltes Weihnachtsfest.

Eure grundrisse-Redaktion

PS: Bitte beachtet auch unseren Call for Papers zu Demokratie, die Forderungen protestierender Flüchtlinge in Wien, die Information über skandalöse juristische Schikanen gegen die verdienstvolle Erwerbslosenbewegung AMSand sowie die Ankündigung des Kongresses Solidarische Ökonomie, der vom 22.-24. Februar 2013 in Wien stattfinden wird.

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