Grundrisse, Nummer 35
September
2010

Etwas Mehr als das Commune

Dividuum und Condividualität

Welches Mit für die Vielen? Welche Form, welche „Mit-Förmigkeit“ kann die Verkettung von Singularitäten annehmen? Wie kann eine solche Mit-Förmigkeit gedacht werden, ohne sie aus dem Einen herzuleiten oder zum Einen zu verschmelzen? Welche Begrifflichkeit ist adäquat für eine spezifische Form der Assoziierung, die auf das Teilen und die Teilung insistiert? Wie kann diese Verkettung sich den traurigen Figuren des Opfers, der Schuld und der Pflicht entziehen? Wie verketten sich schließlich die sozialen und die begrifflichen Singularitäten, ohne zum bloßen glättenden Gleitmittel für die Transformationen kapitalistischer Produktionsweisen zu verkommen?

Es gibt für diese Fragen, die in aktuellen post-operaistischen, post-marxistischen und post-strukturalistischen Forschungen eine zentrale Rolle spielen, sicherlich keine perfekte und metahistorische Lösung. Dennoch scheinen dies Begriffe wie jene im Umkreis der Begriffsfamilie des lateinischen communis oder des deutschen Gemeinschaft zu versprechen – und selbst in der Form einer „herausgeforderten“, „uneingestehbaren“, „entwerkten“ oder „kommenden Gemeinschaft“. Die Probleme der Begriffe um communitas/Gemeinschaft bestehen noch vor und jenseits ihres Anklangs an totalitäre Ur- und Volksgemeinschaften, und ebenso vor und jenseits der problematischen Dichotomie von Individuum und Gemeinschaft: Auf der einen Seite hängen sie unkritischen, identitären Formen der Zusammensetzung an, auf der anderen Seite bleiben sie dem Modus der Reduktion, der Subtraktion, der Minuierung verpflichtet. Und sogar dort, wo beide Aspekte dialektisch miteinander verbunden werden – wie etwa in den Arbeiten des italienischen Philosophen Roberto Esposito [1] – verharren sie diesseits der Kommunion. Die gesamte begriffliche Linie des Communen, die Gemeinschaft, das Gemeinsame, ja selbst der Kommunismus, insofern in seinem Namen Dogmatismen und Geständniszwang praktiziert wurden und werden, geraten dadurch in das Zwielicht einer doppelten Genealogie des Identitarismus und der Reduktion.

Wie können dagegen transversale Formen der Verkettung von Singularitäten gedacht und auf den Begriff gebracht werden, ohne die Singularitäten individuell zu stratifizieren und/oder zu totalisieren? Mein Vorschlag geht in die Richtung, nach Begrifflichkeiten zu suchen, die beide Komponenten als explizite Begriffskomponenten berücksichtigen: die Komponente des Singulären, der affirmativen Weise der Trennung und Teilung und die Komponente der Zusammensetzung, des Teilens, der Verkettung, des Mit.

Dilemmata der Gemeinschaft

In den letzten dreißig Jahren hat sich neben der umfangreichen Literatur zu Fragen der Gemeinschaft im Bereich der Kommunitarismus-Theorien auch eine Anzahl von AutorInnen aus dem linken Spektrum der politischen Philosophie für den Gemeinschaftsbegriff zu interessieren begonnen. In etwas verspäteter Rezeption wurden schließlich auch im deutschsprachigen Raum Bücher zunehmend wahrgenommen, deren Titel die Begriffe communauté, communità, communitas enthalten und diese Begrifflichkeit gern mit verschiedenen Adjektiven ausdifferenzieren. Jean-Luc Nancys (1983, 2001), Maurice Blanchots (1983) oder Giorgio Agambens (1990) Arbeiten über die entwerkte, die herausgeforderte, die uneingestehbare oder die kommende Gemeinschaft sind wahrscheinlich die bekanntesten Beispiele für diese Tendenz.

Hier gibt es ein ganzes Bündel von Dilemmata, das ich fürs erste mit den Worten von Jean-Luc Nancy umschreiben möchte, jenem französischen Philosophen, der mit der „entwerkten“ und der „herausgeforderten Gemeinschaft“ zwei kleine, aber prägende Texte für diesen Diskurs verfasst hat. Im zweiten, 2001 erschienenen Text schrieb Nancy, in kritischer Absetzung von seinem ersten Text von 1983 – und überhaupt in kritischer Absetzung von der Verwendung des Begriffs communauté, Gemeinschaft – einige Sätze, die deutlicher kaum sein konnten: „Tatsächlich zog ich es allmählich vor, es [das Wort ‚Gemeinschaft‘] durch die unschönen Ausdrücke des ‚Zusammen-Seins‘, des ‚Gemeinsam-Seins‘ und schließlich des ‚Mit-Seins‘ zu ersetzen. […] Von mehreren Seiten her sah ich von dem Gebrauch des Wortes ‚Gemeinschaft‘ Gefahren ausgehen: Unweigerlich klingt es von Substanz und Innerlichkeit erfüllt, ja aufgebläht; recht unvermeidlich hat es eine christliche Referenz (geistige oder brüderliche, kommunielle Gemeinschaft) oder eine im weiteren Sinne religiöse (jüdische Gemeinschaft, Gemeinschaft des Gebets, Gemeinschaft der Gläubigen – ‘umma); es wird zur Bekräftigung vorgeblicher ‚Ethnizitäten‘ verwendet – all dies konnte nur Warnung sein. Es war klar, dass die Akzentuierung eines notwendigen, doch stets ungenügend geklärten Konzeptes zu jener Zeit zumindest einherging mit einem Wiederaufleben kommunitaristischer und zuweilen faschistoider Triebkräfte.“ [2] Soweit die klaren Worte der Abgrenzung eines derjenigen Autoren, die noch immer als Proponenten der Gemeinschaftsphilosophie missverstanden werden.

Sowohl in der antiken römischen Tradition und der Etymologie der communitas als auch in der christlichen Gemeinschaftstradition zwischen Kommunion und (Ur-)Gemeinde kehren zwei problematische Aspekte immer wieder. Der eine ist wohl bekannt und oft diskutiert worden, im Wesentlichen auch wiedergegeben in der zitierten Kritik Nancys: die Gemeinschaft als Begriff für einen identitären Modus der Schließung, des Schutzes und gleichzeitigen Ausschlusses, Grundlage und Boden auch für die heterosexuelle, patriarchale Geschlechterordnung.

Die andere, weniger beleuchtete Seite der communitas betrifft die Frage des verpflichtenden Bandes, das die Singularitäten an die Gemeinschaft bindet. Der lateinische Begriff communitas lässt sich aus dem Präfix con- für „mit“, „zusammen“, und dem Substantiv munus herleiten. Munus bedeutet im Allgemeinen eine Gabe, ein Geschenk. Jedoch im römischen Gebrauch finden sich weniger Hinweise auf Gaben im Sinne eines auf Freiwilligkeit basierenden Austausches, sondern vielmehr auf die Verpflichtung zur Leistung von Abgaben. Diese „Steuerpflicht“ konstituiert die Gemeinschaft, ebenso wie sie die Aufnahme der Einzelnen in die Gemeinschaft begründet. Isabell Lorey spricht daher in ihrer historischen, etymologischen und politisch-theoretischen Analyse von munus und communitas von einer „Logik der Ab-gabe“, die im Übrigen auch im römischen Recht keineswegs auf Gleichheit beruhte. [3]

Schon aus historischer und etymologischer Perspektive lässt sich also sagen, dass der Minuierungsaspekt des Gemeinschaftsbegriffs eine essenzielle Komponente seiner Verwendung ist. Die Gemeinschaft kann in dieser Hinsicht nie als Surplus verstanden werden, als ein vermehrendes Teilen, als Zusammenschluss und zugleich Zugewinn. Es dreht sich vielmehr alles um eine Logik der Schuld und der Verpflichtung, des Ab-, manchmal auch des Sich-Aufgebens. Das munus ist ein Minus. Die Gemeinschaft impliziert ein Weniger-Werden, um Mehrere zu werden. [4]

Vor diesem Hintergrund zweier Problemlinien, die die gesamte Begriffsfamilie des Gemeinsamen durchziehen, möchte ich kurz die Dilemmata aktueller (linker) Gemeinschaftsdiskurse beleuchten.

1. Dilemma: Vagheit. Agambens Communità che viene (1990), [5] „die kommende Gemeinschaft“ also, ist ein kleines Büchlein, das einigermaßen eklektisch Fragmente aus der Philosophiegeschichte heraus bricht und sich dabei äußerst wenig um die Gemeinschaft schert. Viel eher steht das Kommende im Zentrum, das, was im Begriff steht zu kommen, das was kommen soll. Das kommende Sein (9), die kommende Politik (79), eine kommende Welt (51). Gerade in Bezug auf letztere bezieht sich Agamben auf den Messianismus Walter Benjamins: „In der kommenden Welt“, zitiert Agamben (51) Benjamin, wird „alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsre Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.“ Das ist der Einsatz auch Agambens, wenn er vom Kommenden spricht, die kleine Differenz, das „Beliebige“. Etwas unerwartet und aus dem philosophischen Duktus des Büchleins ausbrechend, beschreibt Agamben die kommende Politik auch als einen Kampf zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat, genauer: als die „unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation“ (79). Doch neben diesem Anspruch des messianisch-Kommenden als Überwindung des Staatsapparats von schützender Identität und verpflichtendem sozialen Band bleibt der Begriff der kommenden Gemeinschaft seltsam undeutlich und unbelegt. Das macht ihn auch offen für alle möglichen romantisch-affirmativen Interpretationen und verstärkt die Ausformung einer viel zu vagen Anrufung dessen, was kommt oder was kommen soll, ohne diesem Kommenden eine begrifflich klarere Ausprägung zu geben – übrigens ganz im Gegensatz zu den durchaus deutlichen rechten Versuchen, den Gemeinschaftsbegriff zu besetzen (ich komme darauf zurück).

2. Dilemma: Minus. Maurice Blanchot (Die uneingestehbare Gemeinschaft) [6] bringt 1983 im Dialog mit Jean-Luc Nancy eine kritische Reflexion der Arbeiten seines Freundes Georges Bataille über die Gemeinschaft in Gang. Ausgehend von Batailles durchaus auch problematischen Versuchen der Einsetzung von konkreten Gemeinschaften in den 1940ern beschreibt Blanchot das Problem der Gemeinschaft, die „in ihrer Kommunion“ „aufgeht“ (18), aber auch die Suche nach anti-identitären Formen der Verkettung von Singularitäten, nach jenem „Durcheinander, das die Zusammenstellung des Verschiedenen veranstaltet“ (16). Er schreibt: „Einer befindet sich neben dem anderen, und dieses Nebeneinander, das alle Arten einer leeren Intimität durchdringt, bewahrt sie davor, die Komödie eines ‚verschmelzenden und kommuniellen’ Einverständnisses zu spielen.“ (86) Blanchot erkennt also die Notwendigkeit, anstelle der Aufhebung der Differenzen in eine höhere und universelle Einheit das paradoxe Band der Singularitäten in ihrer Unverbundenheit zu benennen, aber – und hier findet sich eine Resonanz der Figur des munus als Minus – er kann dieses Band nur als negatives verstehen. Deswegen ist in seinem Schreiben über Gemeinschaft so viel über Ungenügen, Unvollständigkeit, Unmöglichkeit, Abwesenheit, Undarstellbarkeit, Unzulänglichkeit, Uneingestehbarkeit die Rede. Es braucht die „Preisgabe“, das „Opfer“, das erst „die Gemeinschaft stiftet“ (31). Hier zeigen sich allzu deutlich die Spuren der etymologischen Genealogie der communitas. Die Gemeinschaft des munus kann nur als Abgabe und Preisgabe, als Pflicht und Verpflichtung, als Schuld und Verschuldung verstanden werden. Diese Defizienz- und Minuierungsfiguren kulminieren explizit in Batailles und Blanchots zweifellos eleganter Formulierung der „negativen Gemeinschaft“ als einer „Gemeinschaft derer, die keine Gemeinschaft haben“ (47).

3. Dilemma: Appropriation. Nicht erst in Nancys später Selbstkritik, sondern schon in Blanchots Schreiben aus dem Jahr 1983 liegt eine implizite Warnung, eine Abgrenzung, eine Antwort auf die kritiklose Affirmation der Gemeinschaft. Diese Warnung, diese vorsichtige Haltung schützte Blanchot allerdings mitnichten vor der Vereinnahmung durch einen ganz anderen Gemeinschaftsbegriff, der wieder anknüpft an die faschistisch-totalitäre Figur der „Volksgemeinschaft“. Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade Blanchots Text Die uneingestehbare Gemeinschaft von einem konservativ-rechtsradikalen Denker der einst „Neuen Rechten“ ins Deutsche übertragen wurde. Gerd Bergfleth, der Blanchots Text für den Berliner Verlag Matthes & Seitz übersetzt hat, ist einschlägig bekannt für antisemitische und rechts-nationale Rülpser. Solche explizit rechten Töne finden sich zwar nicht direkt in der Übersetzung von Blanchots Text, es wäre aber möglicherweise interessant, den deutschen Text in Bezug zu seiner französischen Vorlage sprachlich genauer zu untersuchen. Das, was allerdings in unserem Zusammenhang überdeutlich wird, ist die Vereinnahmung und Wendung Blanchots durch seinen Übersetzer in einem recht durchsichtigen Verfahren. Bergfleth schließt den ca. 90 Seiten des Blanchot-Textes nämlich einen ca. 70-seitigen Kommentar an, der zugleich Kritik und Entwendung darstellt. Entwendung insofern, als nicht nur der bekannte Text eines prominenten Autors als Podium für eine neuerlich deutlich rechte Konnotierung des Gemeinschaftsbegriffs missbraucht wird, sondern indem die persönliche und theoretische Beziehung zwischen Blanchot und Bataille in ein raunendes Amalgam von „einsamer Gemeinsamkeit“ und „erhabener Idee der Todesleidenschaft“ verwandelt wird. Kritik insofern, als Bergfleth Blanchots Gemeinschaftsbegriff nur als „Karikatur von Gemeinschaft“ fassen kann und zu einer allgemeinen Polemik gegen die Dekonstruktion ansetzt. Das klingt bei Bergfleth so: „Man nehme dem Gemeinschaftswerk jeden Sinn und Zweck und operiere so lange, bis der Patient seinen Geist aufgegeben hat.“ (172) In gewisser Weise hat dieses Zitat den Vorzug der Deutlichkeit. In der Tat ist das Aufgeben jedweden „Gemeinschaftswerks“ durchaus ein Effekt der linken Gemeinschaftsdebatten, allerdings kein beklagens-, sondern ein begrüßenswerter.

Gilbert de la Porrée und die Erfindung des Dividuums

Mit meiner ersten Ausgangsfrage habe ich einen besonderen Anklang gewählt. „Welches Mit für die Vielen?“ variiert eine theologisch-philosophische Debatte, die seit der Antike relevant und vor allem in den scholastischen Diskursen des Mittelalters zentral geworden ist. Die Frage nach der Form des „Mit für die Vielen“ spielt nicht nur auf das con- in communitas an, und auch nicht nur auf die Aufnahme des Heidegger’schen „Mit-Seins“ durch Jean-Luc Nancy, sondern vor allem auf die alte Frage des Verhältnisses zwischen dem Einen und dem/n Vielen. Natürlich besteht eine Differenz zwischen der Frage nach dem Einen für die Vielen und jener nach dem Mit. Die Alternative, ob das Viele sich aus dem Einen entfaltet, vervielfältigt oder umgekehrt nach dem Motto e pluribus unum das Eine anstrebt, lässt sich zwar scheinbar auch mit dem Mit und den Vielen durchspielen, ist aber – wie sich implizit im Folgenden zeigen wird – einer grundsätzlicheren Kritik zu unterziehen. Um diese Differenz klarer herauszuarbeiten und schließlich zu einer neuen Begrifflichkeit des „Mit für die Vielen“ zu gelangen, wird es im Folgenden unerlässlich sein, eine längere Schleife zu ziehen, die uns vor allem in theologisch-philosophische Debatten des Hochmittelalters eintauchen lässt.

Bei einem sehr frühen Exponenten der mittelalterlichen Diskussion um das Eine und das Viele findet sich eine Begriffserfindung, die für die Konzeptualisierung meines Textes ausschlaggebend ist. Diese Begriffserfindung, die über Jahrhunderte bis heute unterschätzt und nahezu unentdeckt geblieben ist, verdankt sich einem ebenso unterschätzten Außenseiter der theologischen Diskurse der frühen Scholastik. Gilbert de la Porrée (Gilbertus Porretanus, ca. 1080-1155), Bischof von Poitiers, war Theologe, Logiker und Sprachtheoretiker in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. [7] Er entwickelte eine spezifische Terminologie, die sich an der Aristotelischen Kategorienlehre orientierte, im Transfer der griechischen Philosophie in die früh-scholastische Theologie allerdings konzeptuelle Originalität gewann. Gilberts „Lehre“ breitete sich durch den Einfluss seiner „Schüler“ um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu einer kleinen Geografie der Nachwirkung aus; wie die meisten Theologen der Frühscholastik gerieten Gilbert und sein Werk allerdings durch die Dominanz Thomas’ von Aquin und des hochscholastischen Schrifttums in Vergessenheit. [8]

Es waren allerdings auch theologische und kircheninterne Konflikte, die Gilbert ebenso Zeit seines Lebens zu Schaffen machten, wie sie seine Nachwirkung behinderten. Auf Betreiben von Bernard de Clairvaux wurde er vor dem päpstlichen Konsistorium von Paris 1147 und einem weiteren Konsistorium nach der Synode von Reims 1148 der Häresie angeklagt. Er kam aber – anders etwa als sein Zeitgenosse Abaelard, der auf Anklage Bernards 1141 mit Klosterhaft und lebenslangem Schweigen bestraft worden war – zu Lebzeiten ohne Verurteilung davon.

Wahrscheinlich lag ein wesentlicher Grund für diese Nichtverurteilung in einer mehrfachen Vorsicht Gilberts. Zunächst war Gilberts Sprache selbst für Gelehrte seiner Zeit schwer verständlich, vor allem durch den für seine Zeitgenossen ungewohnten, strikt logischen Duktus seiner Arbeiten. Dazu kommt, dass Gilbert auch keine explizit eigenständigen Schriften verfasste. Er wirkte vor allem in mündlicher Form durch Predigten und Vorträge. In schriftlicher Form bediente er sich des oberflächlich besehen servilen und marginalen Genres des Kommentars, und zwar als Kommentator des spätantiken Neuplatonikers und Aristoteles-Übersetzers Boethius aus dem frühen 6. Jahrhundert. Das Genre des Kommentars erlaubte es Gilbert, die Autorität des von ihm erörterten Kirchenvaters zu nutzen, zugleich daraus seine eigene Theorie zu entwickeln und dabei weit über die seinem Kommentar zugrunde liegenden Texte hinaus zu gehen.

Wenn es am Beginn des 12. Jahrhunderts um scheinbar rein theologische Fragen wie etwa die Einheit der Dreifaltigkeit oder die Christologie ging, dann waren das immer auch sehr konkrete Fragen der Legitimierung und Infragestellung von Herrschaftsverhältnissen. Genau diese gefährlichen Grenzgebiete sind auch die Operationsräume der theoretischen Arbeit Gilberts. Seine Differenzierung von Singularität, Individuum und Person ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der frühscholastischen Auseinandersetzungen über den Personenbegriff in der Trinität und vor den Fallstricken der diesbezüglichen Diskurse. Dieses Wahrheitsspiel umfasste fein ziselierte Formulierungen, die die Abgründe des „Dualismus“ und des „Pantheismus“ vermeiden sollten, die aktive Abgrenzung von ketzerischen Genealogien sowie die feine Kategorisierung häretischer Täuschungen.

Bevor ich zur zentralen Begrifflichkeit für unsere Frage des Mit für die Vielen vorstoße, muss ich im Folgenden einige Besonderheiten des Gilbertschen Wortschatzes und seines frühscholastischen Kontextes verständlich machen. Um seine theoretischen Positionen zu verstehen, ist zunächst eine grundsätzliche Entscheidung Gilberts zu betonen, nämlich die scharfe Trennung der Bereiche zweier Seinsformen, denen er unterschiedliche Betrachtungsweisen zuordnete: der methodischen Unterscheidung von theologicae rationes und naturalium rationes entspricht ein göttliches Sein und ein natürliches Sein. Gott und die Welt sozusagen. Die Betrachtungen der göttlichen Sphäre und der Natur sind nach Gilbert völlig unabhängig voneinander und lassen sich auch in keiner Weise durch Analogien verbinden. Die beiden rationes zu vermischen, zum Kommunizieren zu bringen, sei eine häretische Täuschung.

Auf der Basis dieser scharfen Trennung ist für Gilbert eine weitere Unterscheidung bedeutsam, nämlich die zwischen quo est, „wodurch etwas ist“, und quod est, „was etwas ist“. Diese Unterscheidung gilt im göttlichen wie im natürlichen Bereich, hat allerdings in den beiden Bereichen verschiedene Begriffe zur Folge. Für die naturalium rationes verwendet Gilbert eine in dieser Bedeutung neu eingesetzte Begrifflichkeit: das quo est benennt er als Subsistenz (subsistentia), [9] das quod est als Subsistierendes (subsistens). Im Gegensatz zum in der Theologie geläufigeren Paar von Substanz und Akzidentien ist das Verhältnis von Subsistenz und Subsistierendem nicht hierarchisch gerastert, sondern eine wechselseitige Austauschbeziehung. Das Subsistierende entfaltet sich nicht erst aus der Subsistenz, es ist ko-emergent. Es entsteht also weder durch Konkretion aus etwas Abstrakten, noch als Vervielfältigung aus einem Einen. Das Subsistierende ist zwar nur „durch etwas“, es ist aber zugleich singulär, und „seine“ Subsistenz (das, wodurch es ist) ist ebenfalls singulär. Jedes Subsistierende hat seine singuläre Subsistenz.

In den theologicae rationes stößt Gilbert allerdings auf erhebliche sprachliche wie auch auf theologische Schwierigkeiten. Das quo est heißt hier Essenz (essentia), für das quod est gebraucht Gilbert nur einmal die zu den Begriffen des natürlichen Bereichs analoge Begriffsbildung essens. Zumeist weicht Gilbert auf eine andere Begriffslinie aus und bezeichnet das quo est der göttlichen Essenz als divinitas (Gottheit), das quod est der Dreifaltigkeit als drei – numerisch unterschiedene – Personen des einen deus. Das quo est bleibt hier also absolute Einheit, während das quod est eine außergewöhnliche, nämlich göttliche Form der Vielheit annimmt. Gilbert experimentiert hier auf heiklem Boden: Die Differenzierung zwischen göttlicher Essenz und Gott allein ist genügend Anlass für Verdächtigungen, denn die göttliche Essenz muss als einzige, einfache, einzigartige Einheit gedacht werden, als unum, simplex, singulare. Die Vielheit gehört nach gängiger Interpretation in den natürlichen und kreatürlichen Bereich. Woran Gott und die Welt sich scheiden, ist der Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit.

Noch verdächtiger dürfte den um Bernard de Clairvaux agierenden Wächtern des Dogmas (vor allem der augustinischen Linie der Trinitätsinterpretation) die grundsätzliche Trennung von göttlichem und natürlichem Bereich gewesen sein. Es kann für Gilbert keine Begegnung, keine Vermittlung zwischen den beiden Bereichen geben. Er denkt Trennung und Gegensatz zwar dialektisch und versucht an einigen Stellen – etwa in seiner Schöpfungslehre – exemplarische Ableitungen zu entwickeln und damit nicht dem Urteil des Dualismus zu verfallen. Dennoch bleibt die scharfe Betonung des Gegensatzes, der Unterschiedenheit der Seinsbereiche augenfällig. Da die beiden Bereiche auf keine Weise vermittelt sind, kann die Vielheit nicht aus der Einheit hervorgehen, sich entfalten, es kann auch keine Korrelation oder Analogie zwischen den beiden Bereichen geben.

Die radikale Vielheit von singulären Subsistenzen und Subsistierenden ist in sich selbst begründet, sie braucht keine göttliche Essenz. Gilberts Welt braucht weder Gott noch Dreifaltigkeit. Was für Bernard de Clairvaux ausreichendes Verdachtsmoment für eine Anklage war, gibt uns die Gelegenheit, den Bereich des Natürlichen streng immanent zu denken, Vielheit ohne die Last der Einheit, ohne Gott und auch ohne Dreifaltigkeit.

Die philosophiegeschichtlich folgenreichste Erfindung Gilberts war die Differenzierung von Singularität, Individualität und Personalität. [10] In der Entwicklung der Trinitätslehre war ein Dreischritt notwendig, der von Augustinus über Boethius zu Gilbert führt und sehr unterschiedliche Effekte auch auf die Anschauung des außer-theologischen natürlichen Bereichs hatte. Bei Augustinus steht noch der Begriff der Personalität, die drei personae der göttlichen Essenz, allein im Zentrum. Konsequenzen der Trinitätslehre für den natürlichen Bereich zieht Augustinus über die Analogie von Gott und Mensch und wirkt damit in anthropologische und psychologische Bereiche hinein. Bei Boethius kommt die Individualität mit ins Spiel, die Begriffe des Singulären und des Individuellen werden jedoch noch deckungsgleich verwendet. Erst in Gilberts Kommentaren zu Boethius bekommt der Begriff der Singularität einen anderen und weiteren Anwendungsbereich als jener der Individualität. In der vollen Ausdifferenzierung der drei Begriffe wird mit Gilbert Singularität jener begriffliche Ausgangspunkt, der das Einzelne in seiner weitesten Extension beschreibt. Gilbert schreibt in seinem Boethius-Kommentar:

Wir wollen unterscheiden …: Eine Eigenheit von etwas wird aus je anderer Betrachtungsweise ‚singulär‘, ‚individuell‘ oder ‚persönlich‘ genannt. Denn zwar ist jedes Individuum singulär, und jede Person ist singulär und individuell, aber nicht jede Singularität ist ein Individuum, und nicht jede Singularität oder jedes Individuum ist eine Person. [11]

Mit dieser Differenzierung entsteht eine Unterscheidung entlang verschiedener Extensionen: Die kleinste Ausdehnung kommt der Personalität zu, die mittlere der Individualität, die größte der Singularität. Auch diese Differenzierung der Extensionen entspricht allerdings nicht unbedingt einer Hierarchisierung, und auch keineswegs einer Beziehung der Vereinheitlichung oder der Entfaltung des Einen aus dem Anderen. Es geht hier um eine Unterscheidung auf der Ebene der begrifflichen Ausdehnung: Das Individuum umfasst einen weiteren Bereich als die Person; die Singularität umfasst ihrerseits die Individualität und die Personalität, und mehr als das.

Eine interessante Voraussetzung für Gilberts Denken ist, dass keiner der drei Begriffe sich allein auf den Menschen beziehen muss. Gilbert folgt in seiner streng logischen Methode nicht der äußerst wirkungsmächtigen Engführung bei Boethius, wonach eine Person die unteilbare Substanz nur von verständiger Natur (natura rationabilis) sei, was auf Gott, auf Menschen und allenfalls noch auf Engel zutrifft. Gilbert grenzt mit seinem Begriff der persona weder die Menschen als Vernunftwesen von den Tieren oder den Dingen ab, noch differenziert der Begriff – wie in der antiken Bedeutung – die Menschen untereinander, in solche, die als Personen sui iuris sind, und andere (wie Frauen, Kinder, Sklaven, die nach patriarchalem römischem Recht auch dem Bereich der Dinge zugeordnet werden konnten). Ohne dieser spezifischen Linie des Ausschlusses zu folgen, ist Gilberts Personenbegriff dennoch in seiner Extension kleiner als jene der Individualität und der Singularität. Persona ist bei Gilbert ganz allgemein der Name eines Teils von jenen Subsistierenden, die Individuen sind. Diese Linie der Personalität, so wichtig sie im göttlichen Bereich für die Erklärung der Dreifaltigkeit ist, verfolgt Gilbert im natürlichen Bereich nicht weiter; er konzentriert sich auf die Ausdifferenzierung der zwei weiteren Extensionen, die Individualität und die Singularität.

Die Individualität ordnet vertikal alle in oder am Einzelding befindlichen Subsistenzen zu einer Ganzheit an. Dieser „individuelle“ Ordnungsmodus der Singularität hat seine Spezifik darin, alle singulären Subsistenzen eines Dinges nach genau der Formation zu vereinigen, in der es sich konkretisiert. Zugleich kappt die Individualität die Verbindung mit anderen konformen Singularitäten in anderen Dingen. Die maßgeblichen Komponenten der Individualität sind also der Ausschluss von Konformität, die Abkappung der Verbindung, damit das Unähnlich-Werden, schließlich die Ganzheit.

Es gibt aber auch einen anderen Ordnungsmodus der Singularität, einen horizontalen Modus, der die singulären Elemente horizontal sammelt, und ohne Rücksicht zu nehmen auf ihre Zugehörigkeit zu einer individuellen Formation. Diese Form der Sammlung ist keine Vereinigung, sie geht quer durch die Bereiche der einzelnen Dinge und sammelt alle nach ihrer Konformität zusammengehörigen Subsistenzen. Für diesen zweiten, horizontalen oder transversalen Modus findet sich schließlich auch ein Begriff, dem – wie mir scheint – ein erstaunliches Potenzial für die Weiterentwicklung unserer Frage nach der Verkettung der Singularitäten innewohnt. Nicht die Gemeinschaft, die Gesellschaft oder ein anderer Kollektiv-Begriff werden hier dem Individuum gegenübergesetzt, sondern – sprachlich eigentlich ganz nahe liegend – das Dividuum.

Mit dem Dividuum und der Dividualität wird eine nicht-individuelle Singularität beschrieben, die gerade nicht durch die Eigenschaften der Individualität, also totale Ganzheit und Unähnlichkeit, ausgezeichnet ist. Das lateinische Wort dividuum erscheint in den Bedeutungen „geteilt, getrennt, zerstreut“ und „trennbar, teilbar“ durch die römische Antike hindurch immer wieder, von Plautus über Cicero bis Horaz, allerdings nur als selten gebrauchter und schwacher Begriff. Ähnlich verhält es sich auch mit der Verwendung des Begriffs in Spätantike und Mittelalter, sodass die begrifflich prägnante „Erfindung“ des Dividuums durchaus Gilbert zugeordnet werden kann. An der diesbezüglich zentralen Stelle schreibt Gilbert:

Im Bereich der natürlichen Betrachtungsweisen ist, was immer ist, durch etwas anderes, als was es selbst ist. Und weil das, wodurch etwas ist [die Subsistenz], singulär ist, ist auch das, was dadurch etwas ist [das Subsistierende], singulär. Numerisch Mehrere können ebenso wenig, wie sie durch ein Singuläres sein können, etwas Eines sein ohne Zahl. Oft aber sind numerisch verschiedene Singularitäten gemäß ihrer Subsistenzen konform. Daher sind nicht nur die Subsistierenden, sondern auch die konformen Subsistenzen unum dividuum. Und daher ist keine konforme Subsistenz ein Individuum. Wenn das Dividuum Ähnlichkeit ausmacht, folgt daraus, dass das Individuum Unähnlichkeit ausmacht. [12]

Diese nicht ganz einfachen Sätze beinhalten eine ganze Lehre vom Dividuum in nuce. Als erstes lässt sich festhalten: Auch wenn das Individuum unseren Ausgangspunkt für Überlegungen über das Dividuum darstellte, steht das Dividuum logisch und ontologisch vor dem Individuum. Die Singularitäten sind an erster Stelle dividuell, das Individuum entwickelt sich als besondere, vertikale und Ganzheit erzeugende Differenzierung der Singularität. Insofern ist das Dividuum, wenn schon nicht chronologisch, so zumindest sprachlich und logisch als prä-individuell zu verstehen. Wahrscheinlich ist es also sinnvoller, unseren Weg von der Person über das Individuum zur Singularität umzukehren und das Dividuum auf der Ebene der weitesten Extension als in gewisser Weise parallel zum Begriff der Singularität zu verstehen.

Was sind die Begriffskomponenten des Dividuums?

1. Getrenntheit. Dividualität bedeutet zunächst im Wortsinn „Getrenntheit“, „Geteiltsein“ oder „Trennbarkeit“ und „Teilbarkeit“. Doch schon in diesem engeren Sinn des Wortes liegt auch eine Konnotation der „Zerstreutheit“ und der „Zerstreuung“. Das impliziert eine Ausdehnung, eine Bewegung, eine nomadische Verteilung, die sich durch verschiedene Einzeldinge hindurch bewegt. Diese Form der Zerstreuung, Ausdehnung und Verteilung soll nun nicht als Verallgemeinerung verstanden werden. Dividualität ist etwas, das weder individuell noch persönlich ist, und dennoch auch keine Universalie und kein Grund. Das Dividuum steht nicht einseitig als Allgemeines dem Individuum gegenüber, es ist eine jener Begrifflichkeiten Gilberts, welche die Dichotomie von Individuellem und Allgemeinem durchbrechen, eine neue Dimension einführen, in der das, was etwas ist, und das, wodurch es ist, ins Verhältnis gesetzt werden.

2. Ähnlichkeit. Wenn das Dividuum aber durch Getrenntheit bestimmt ist, wie kann man sich die nicht-universelle, transversale Funktion der Dividualität vorstellen? In einer spezifischen Form der Korrelation dieser scheinbaren Gegensätze, Getrenntheit und Transversalität, und im Verhältnis von Ähnlichkeiten und Konformitäten. [13] Das Individuum ist ein Ganzes, ein Eines, ein nicht beliebig Zusammengesetztes. Es ist etwas Eigenes, es hat – wie Gilbert betont – die Eigenschaft der dissimilitudo, es weist keine Ähnlichkeit auf. Dagegen ist das, was das Dividuum buchstäblich ausmacht, seine zweite Begriffskomponente: die Ähnlichkeit (similitudo). Während Individualität mit der Unähnlichkeit das je Anders-Sein betont, die Abgrenzung von allem anderen, ist die dividuelle Singularität immer je eine unter anderen. Das Dividuum hat also eine Komponente oder mehrere Komponenten, die es als Teilbares konstituieren und zugleich mit anderen, in ihren Komponenten ähnlichen Dividuen verbinden. Es geht hier um Ähnlichkeiten, nicht Identitäten, und zwar in Bezug auf nur einige Komponenten.

3. Mit-Förmigkeit. Wie das Gilbert-Zitat beschreibt, teilen Singuläritäten (als numerisch Verschiedene) ihre Formen mit anderen Singularitäten, sie werden damit erst dividuell. Unum dividuum ist nun beides, Subsistenz und Subsistierendes: das, was ist, und das, wodurch dieses Subsistierende nicht nur etwas, sondern auch „konform“ ist. Konformität ist nicht im heutigen Sprachgebrauch als moralischer Begriff der Angepasstheit zu verstehen, sondern als Mit-Förmigkeit, als Tatsache, dass sowohl Subsistenzen als auch Subsistierende ihre Form mit anderen teilen. Tendiert der Begriff der Individualität zur Konstruktion der Abgeschlossenheit des Selbst und der Anderen, betont die dividuelle Singularität die Pluralität und die Mit-Förmigkeit alles Seienden, damit auch die Offenheit für Verkehr und Verkettung. Das dividuum durchläuft verschiedene Einzeldinge oder -wesen nach ihren ähnlichen Eigenschaften. Conformitas, Konformität impliziert nicht Gleichheit, totale Gleichförmigkeit oder Anpassung, sondern eher die spezifische Übereinstimmung in der Form, das Teilen von formalen Komponenten. Diese Mit-Förmigkeit, die zugleich Viel-Förmigkeit ist, konstituiert das Teilbare als unum dividuum.

Condivision, Condividualität, Condividuen

Das Dividuelle meint also die spezifische Form des singulär Vielen als Teilbares und Ähnlich/Mit-Förmiges. Damit sind wir der Frage nach dem Mit für die Vielen zwar etwas näher gerückt, aber noch nicht nahe genug. Um es in (post-)marxistischer Art auszudrücken: Wir befinden uns noch immer am Terrain der „technischen Zusammensetzung“ der Multitude. Das Dividuelle bezeichnet einen Aspekt der sozialen Realität. Dieser Aspekt ist nicht als metahistorische Konstante zu verstehen. Vielleicht gibt es aber Anzeichen dafür, dass der in der Frühscholastik entwickelte Begriff heute in postfordistischen Produktionsweisen bestimmend wird für die technische Zusammensetzung, als durchaus ambivalentes Dividuell-Werden der sozialen Beziehungen. [14] Es ist eine Sache der Situativität, welche Perspektive man auf die gefährlichen Wucherungen des Dividuellen einnimmt – ob man den Begriff des Dividuellen einsetzt als Beschreibung der neuesten kapitalistischen Transformationen oder als Komponente sozialer Kämpfe, die – je nach politischen und theoretischen Vorlieben – den kapitalistischen Produktionsweisen vorausgehen oder sich mit ihnen im Handgemenge herumschlagen.

Gerade in diesem ambivalenten Hoch des Dividualismus zwischen neuen Formen der maschinischen (Selbst-)Unterwerfung und dem Suchen nach neuen Waffen erscheint die Frage nach einer offensiven Verkettung und ihren Begrifflichkeiten umso dringlicher. Während die Komponente von Vielheit und Singularität durch das Dividuelle ausreichend beschrieben sein mag, fehlt trotz dem Aspekt der Mit-Förmigkeit noch etwas auf der Seite des „Mit“, der Verkettung, der politischen Artikulation und Organisation, der „politischen Zusammensetzung“ der Multitude. [15] Erst wenn das Mit hinzutritt, entsteht ein Begriff für eine Verkettung von Singularitäten, die ihren Austausch, ihren Bezug aufeinander, ihren Verkehr miteinander nicht nur benennt, sondern auch betreibt. Das Wort dafür, das ich im Deutschen als Neologismus vorschlage, ist die Con-division. In der Condivision deutet die dividuelle Komponente, die Teilung nicht auf eine Abgabe, eine Reduktion, ein Opfer, sondern auf die Möglichkeit einer Addition, eines Plus. Es muss nicht erst eine Gemeinschaft entstehen, um die Neuzusammensetzung von vorher getrennten Individuen zu erreichen: Die Verkettung und die Dividualität der Singularitäten sind co-emergent, als Condividualität von Condividuen.

Dieser Text beruht auf Skizzen für ein Buch zum Dividuum und zur Condividualität, das Ende 2011 erscheinen soll. Für wesentliche Hinweise und Diskussion danke ich Nikolaus Linder und Isabell Lorey.

[1Vgl. vor allem Roberto Esposito, Communitas, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004

[2Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, 30 f.

[3Vgl. die ausführlichen Erörterungen in Isabell Lorey, Figuren des Immunen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2011 (im Erscheinen).

[4Als Antwort auf dieses Problem des munus als Minus könnte man – gleichsam gegen die etymologische Linie auch des common, des Gemeinsamen – Michael Hardts und Antonio Negris Ansätze in Common Wealth (Frankfurt/New York: Campus 2010) verstehen. Wie die beiden Autoren in der Einleitung schreiben, ist das Gemeinsame einerseits „der Name für den gemeinsamen Reichtum der materiellen Welt – die Luft, das Wasser, die Früchte der Erde und die Schätze der Natur –, also für etwas, von dem in klassischen politischen Texten der europäischen Tradition häufig gesagt wird, es gehöre zum Erbe der gesamten Menschheit“ (9 f.). Andererseits, und diesen Aspekt betonen Negri und Hardt, umspannt das Gemeinsame auch „all jene Ergebnisse gesellschaftlicher Produktion, die für die soziale Interaktion ebenso wie für die weitergehende (Re-)Produktion erforderlich sind, also Wissensformen, Sprachen, Codes, Information, Affekte und so weiter“ (10). In dieser zweiten Sicht meint das Gemeinsame also die Praxen der Interaktion, der (Für-)Sorge, des Zusammenlebens in einer gemeinsamen Welt, Praxen also, welche die Menschheit nicht als getrennt von der Natur verstehen lassen, weder in der Logik der Ausbeutung noch in jener des Schutzes. Und hier findet auch eine begriffliche Anknüpfung an die Linie der commons ihren Platz, welche das Teilen des Gemeinsamen nicht als Weniger-Werden, sondern als Exzess verstehen lässt. Begrifflich bleibt meine Skepsis allerdings auch in diesem Fall aufrecht: Auch im Gemeinsamen, im common, fehlt – wie in der gesamten Begriffsfamilie der communitas – der Aspekt der Vielheit, der Trennung und der Singularitäten. Es braucht begrifflich die Zusammenstellung und den Zusammenhang zwischen common und Multitude, um das Teilen und die Teilung auszudrücken, um die identitäre und reduktive Wendung des Communen zu subvertieren.

[5Deutsch erschienen als Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003. Die im Text angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

[6Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin: Mattes & Seitz 2007. Die im Text angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

[7Für die Bio-Bibliografie Gilberts vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1, 775; Lexikon des Mittelalters IV, 1449 f. Für eine ausführlichere Einführung in Gilberts Texte und Kontexte vgl. Lauge Olaf Nielsen, Theology and Philosophy in the Twelfth Century: A Study of Gilbert Porreta’s Thinking and the Theological Expositions of the Doctrine of the Incarnation during the Period 1130-1180, Leiden: Brill 1982, vor allem 25 ff. Für die genauere Interpretation der Boethius-Kommentare Gilberts vgl. Martin Schmidt, Gottheit und Trinität, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1956.

[8Seine kontroverse kirchenpolitische Position sowie seine komplexe, manchmal etwas dunkle Argumentation trugen Gilbert einen etwas anrüchigen Ruf ein, der bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) vorherrscht: Die Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche von August Neander führt ihn noch 1845 als einen „Mann von unklarer, verworrener, abstruser Darstellungsweise“ (August Neander, Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 10, Gotha: Perthes 1845, 899).

[9Der Begriff der Subsistenz (spätlateinisch für „etwas, das Bestand hat“) ist grundsätzlich derselbe wie etwa in „Subsistenzwirtschaft“: etwas, das selbständig durch sich und für sich ist.

[10Vgl. Dieter Teichert, Personen und Identitäten, Berlin/NewYork: Gruyter 2000, vor allem 117-119.

[11DTrin I,5,22: distinguamus: scilicet quod alicuius proprietas alia ratione ‘singularis’, alia ‘individua’, alia ‘personalis’ vocatur. Quamvis enim quicquid est individuum, est singulare – et quicquid est persona, est singulare et individuum – non tamen omne singulare est individuum. Nec omne singulare vel individuum est persona.

[12DTrin I,5,23-24: In naturalibus enim quicquid est, alio, quam ipsum sit, aliquid est. Et quoniam id, quo est aliquid, singulare est, id quoque, quod eo est aliquid, singulare est. Nam plura numero sicut uno singulari non sunt aliquid ita unum aliquid sine numero esse non possunt. Itaque singularitate eius, quo est, singulare est etiam id quod eo aliquid est. Sepe autem diversa numero singularia secundum aliqua eorum, quibus sunt, conformia sunt. Ideoque non modo illa, que sunt, verum etiam illa, quibus conformia sunt, unum dividuum sunt. Ac per hoc neutrum illorum, quibus conformia sunt illa que sunt, individuum est. Si enim dividuum facit similitudo, consequens est, ut individuum faciat dissimilitudo

[13Vgl. dazu auch DTrin I,1,12 zur gegenseitigen Bedingtheit von Verschiedenheit und Konformität.

[14Vgl. als einen vorsichtigen Versuch in diese Richtung die ersten Seiten meines Textes „Das dividuelle Begehren“, http://www.skor.nl/artefact-4826-nl.html.

[15In Hardt und Negris Common Wealth (vgl. Fussnote 4) soll der Begriff des Gemeinsamen auch dafür einstehen. Natürlich nicht einfach nur als eine Seite des Dualismus von naturhafter Entwicklung der Multitude und voluntaristischem Leninismus, wie manche KritikerInnen Negri/Hardt fälschlich unterstellen. Im Laufe des gesamten Buches lässt sich neben den geläufigen und in der Einleitung angeführten beiden Grundaspekten des Gemeinsamen noch ein dritter Aspekt erkennen, der genau unsere Frage der Verkettung der singulären Ströme thematisiert: das Gemeinsame als Selbstorganisation der sozialen Beziehungen (189 f.). Mit Selbstorganisation ist hier keineswegs eine einfache empirische Tatsache oder gar ein naturhafter Automatismus gemeint, sondern das politische Projekt der Instituierung des Gemeinsamen. Diese Instituierung des Gemeinsamen impliziert einerseits, dass das Gemeinsame nicht als ein Gemeinsam-Sein verstanden werden kann, sondern nur als ein Gemeinsam-Werden, als Produktion des Gemeinsamen. Und sie impliziert auch, dass das Gemeinsame und die Singularitäten ko-emergent sind, nicht nur kompatibel, sondern einander konstituierend.

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