FORVM, No. 167-168
November
1967

Für Friedensinitiative der Neutralen

I.

Wie recht hat Hans Thirring, wenn er auf den Widersinn des Rüstungswettlaufs gerade bei den Neutralen verweist! Der von ihm geprägte Begriff des Neomilitarismus ist hervorragend geeignet, die Widersprüchlichkeit der sogenannten Landesverteidigung im Zeitalter der atomaren, bakteriellen und chemischen Waffen aufzuhellen. Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises für die Antiquiertheit des militärischen Denkens bedürfte — die Erwiderung von Georg Prader liefert ihn. Mir scheint nur, daß man noch etwas weiter ausholen sollte, als es Thirring tut. Die folgenden Ausführungen mögen als Ergänzung und Fortführung seiner Gedanken — und damit als Widerlegung der Illusionen Praders — dienen.

1866 war ein Krieg zwischen Österreichern und Preußen noch eine Selbstverständlichkeit — 1966 stellt sich der Krieg als solcher als Grundproblem eines ganzen Zeitalters dar; vom frisch-fromm-fröhlichen Krieg ist kaum mehr die Rede, der sogenannte Angriffskrieg wird von allen verantwortlichen Staatsmännern zumindest verbal abgelehnt.

Immerhin spukt noch in den Köpfen von Politikern und Publikum die Vorstellung vom Krieg als einem „tragischen Geschick‘‘, das man nun einmal hinnehmen muß und dem man sich tapfer zu stellen hat wie einer unheilbaren Krankheit oder dem unvermeidlichen Tod. Doch ist der Krieg, der sich heute vor allem gegen Zivilisten richtet, schon deshalb nicht „tragisch“, weil seine Opfer kaum Einfluß auf seine Auslösung haben, während den Machthabern, die über Krieg und Frieden entscheiden, oft jedes tiefere Problembewußtsein fehlt und sie aus fast jedem Krieg ungeschoren hervorgehen.

II.

Wird heute die ganze Unmenschlichkeit und Sinnlosigkeit des Krieges häufiger erkannt und zugegeben, so wagt man doch kaum, seine geschichtlich-gesellschaftlichen Voraussetzungen in Frage zu stellen. Das hängt damit zusammen, daß Rüstungen und Armeen, Kriege und Landesverteidigung als Institutionen hinter der grundlegenden sozio-kulturellen Entwicklung nachhinken — die amerikanische Soziologie spricht von einem „social and cultural lag‘‘. Dieses Auseinanderklaffen von Institutionen und Gesamtkultur läßt sich nur schwer beseitigen, insbesondere wenn die Institutionen traditional verfestigt sind. Eine Institution ist zählebig, wenn sie, nach Wegfall ihres ursprünglichen, primären Sinnes, eine sekundäre Funktion erfüllt und wenn massive Interessen — so parochial sie sein mögen! — mit ihrer Aufrechterhaltung verbunden sind. Bringt zudem die neue Institution, die an ihre Stelle treten soll, neue Risken mit sich, so wird der Mensch, wenn überhaupt, nur unter Qualen auf das Alte verzichten.

Seit undenklichen Zeiten haben jene menschlichen Gemeinschaften, welche die Grundlage unserer Zivilisation bilden, auf der Jagd miteinander, aber auch im Kampfe gegeneinander gelebt und überlebt. Aus dieser Lebensweise erwuchsen die Ideologien und Institutionen des Krieges, die sich nun immer mehr gegen den Menschen selber richten, zunächst aber trotz all ihrer Grausamkeit relativ zweckvoll und zielgerecht waren oder zu sein schienen. Schematisch gesehen, hatte der Krieg in einem primitiven Zeitalter des Mangels und der Stagnation den Zweck, daß sich eine Gruppe auf Kosten der anderen sicherte und bereicherte. Im nächsten Stadium war der dynastische Krieg vor allem die Ultima ratio regum, um auf Kosten der Untertanen Macht und Ruhm, Land und Geld zu erwerben. Im dritten Stadium ideologischer Kriegsführung kämpfen Nationen, Klassen oder Rassen für den Sieg ihrer Lehre und die Vernichtung oder Unterjochung des fremden „Aberglaubens‘‘ — hierher wären auch wohl die sogenannten nationalen Befreiungskriege des 19. Jahrhunderts und die kolonialen Freiheitskämpfe unserer Tage zu zählen.

Stets mag die Menschheit der Verlierer des Krieges gewesen sein — im jeweiligen Kriege gab es aber Sieger, die auf Kosten der Besiegten (und auch der eigenen „Gefolgschaft“) etwas gewinnen konnten. So verschafften Armeen und Rüstungen den Massen das mehr oder weniger illusionäre Gefühl eines Schutzes vor dem „Feinde“. Diese positive und primäre Schutzfunktion ist inzwischen im Prinzip hinfällig geworden: im sogenannten ‚‚Verteidigungsfall“, auf den die Streitkräfte ausgerichtet bleiben müssen, werden sie heute aus einem Schutz- zu einem Vernichtungsinstrument. Sobald sie wirklich in Funktion treten, müssen sie gerade das zerstören, was sie schützen sollten. In einem modernen Kriege wird es kaum noch ein Rom geben, dafür desto zahlreichere Carthagos.

III.

Dieser entscheidende Funktionswandel des Krieges eliminiert noch nicht die sekundäre Funktion der Rüstung und Armee. Sie dienen nach wie vor zumindest kurzfristig der Aufrechterhaltung und dem Einfrieren der bestehenden Ordnung. Solange die Menschheit nicht in einer planetarischen Friedens- und Sicherheitsordnung integriert ist, gibt es immer ein System von In-groups und Out-groups die einzelstaatlich integrierte Gruppe steht in betontem Gegensatz zur fremden Gruppe, fürchtet von dieser überrannt, vergewaltigt, ihrer eigenen Lebensweise („way of life“) beraubt zu werden.

In einem solchen „system of contending states“ (Toynbee) betrachtet sich potentiell und prinzipiell jeder Staat als mögliches Angriffsobjekt der anderen Staaten; mit Recht deutet Thirring an, daß diese Vorstellung gerade bei den kleineren neutralen Staaten immer mehr zu einem irrationalen Atavismus wird.

Der moderne Staat ist Welfare und Warfare state. Und in dieser doppelten Eigenschaft gelingt es ihm immer noch, die Loyalität seiner Bürger zu mobilisieren, gerade auch, soweit er sich als Militärstaat das Recht auf „Verteidigung“ vorbehält. Ein solcher Staat muß natürlich möglichst mächtig dastehen — sei’s auch ein Kleinstaat wie die Schweiz oder Österreich.

Für den Status quo ist nicht nur das Neben- und Gegeneinander der Staaten typisch — hinzu kommt das Mit- und Gegeneinander der Gruppen, Schichten, Klassen innerhalb dieser Staaten. Es besteht ein objektiver Zusammenhang zwischen dem äußeren Antagonismus von Machtsystemen und dem Inneren der Klassen- und Herrschaftsstruktur auch bei den kleineren neutralen Staaten. Der äußere Antagonismus der Systeme perpetuiert die hierarchische Ordnung im Innern; die innere Schichtung mit ihrer Frustration und Repression trägt zur Verfestigung und Verewigung äußerer Aggressionen und Antagonismen bei.

In „Friedenszeiten“, die einem latenten Kriegszustand ähneln, sind alle Völker eher bereit, den Gürtel enger zu schnallen, ihren Führern blind zu vertrauen, Burgfrieden zu wahren. In einer gefährdeten Festung wird jede oppositionelle Forderung, wenn nicht gar jede kritische Regung, als Landes- und Hochverrat empfunden.

IV.

Im Zeitalter der totalen und globalen Kriege gerät die Innenpolitik ganz anders in den Schatten des Krieges und der Kriegsvorbereitung als in den Tagen des Laisser-faire, und zwar nicht nur bei den Großmächten.

Der industrielle Fortschritt bringt mit sich, daß die Streitkräfte mit immer „besseren“ Waffen ausgerüstet werden müssen. Angesichts der psychologischen Kriegsführung kann die „Verteidigung“ nicht mehr auf einen engbegrenzten, von der übrigen zivilen Gesellschaft isolierten Sektor beschränkt bleiben. Der Geist der „Landesverteidigung‘‘ durchdringt alle Bereiche der modernen Massen- und Klassengesellschaft. Von der Einschränkung der Freiheitsrechte über die Geheimhaltung der Erfindungen bis zur Erziehung der Jugend im Geiste der Wehrhaftigkeit macht sich eine neue Form der „Gleichschaltung‘‘ bemerkbar. Die ältesten und gefestigtesten Demokratien werden immer mehr von umfassender Militarisierung der Politik, Gesellschaft und Kultur bedroht, wenngleich gerade in den kleineren neutralen Demokratien stärkere Widerstände zu spüren bleiben.

Im „Westen“ hat die Militarisierung auch eine neuartige ökonomische Funktion. Die unproduktive Rüstung hatte einst die Güterknappheit noch verschärft; heute erleichtert sie den Druck der Überproduktion und Unterkonsumtion. In einer Wirtschaft, die trotz allen sozialen Modifikationen noch stark von privater Akkumulation und Konsumtion, individuellen Profiten und Gewinnen bestimmt wird, garantiert die Rüstung einen idealen Absatzmarkt. Unser Wohffahrtsstaat ist daher auch Militärstaat, unser Sozialkapitalismus auch Rüstungskapitalismus.

Nun hören wir oft auch von Fachökonomen, daß ein hohes Maß an Beschäftigung und Prosperität sehr wohl in einer kapitalistischen Friedenswirtschaft möglich wäre. Das mag nun rein wirtschaftlich und technisch nicht falsch sein; eine radikale Abrüstung ist nicht in erster Linie eine Spezialangelegenheit der Verwaltung, Technik oder Wirtschaft. Sie würde sehr weittragende soziale und politische Folgen haben. Der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft und -gesellschaft würde ein hohes Maß an Planung, staatlicher oder gesellschaftlicher „Intervention“ bedeuten. Er käme einer — hoffentlich unblutigen — Revolution gleich, einer sozio-kulturellen Umwälzung in entscheidenden Lebensbereichen des Menschen und im Verhältnis von Individuum, Klasse, Nation, Kontinent und Planet. Zum erstenmal in seiner Geschichte müßte der zivilisierte Mensch auf das Denken und Handeln in einer Freund-Feind-Beziehung, auf die gewalttätige Aggression Kains gegen Abel ganz verzichten.

Kein Wunder, daß wir alle und jeder einzelne immer wieder vor der unabsehbaren Ungeheuerlichkeit einer solchen „Mutation der Menschheit“ (P. Bertaux) zurückschrecken. Zwischen dem Abgrund einer „Neuen Welt“, „sozialistischer‘‘ oder „kommunistischer‘‘ Anarchie, „asiatischer“ oder „farbiger“ Barbarei und dem Abgrund eines Dritten Weltkrieges, dem man auch nicht mehr gelassen entgegenzusehen vermag, wandert man den schmalen Grat einer Rüstungs- und „Verteidigungs“politik, um die liebgewordenen Traditionen und Positionen, Gewohnheiten und Wertungen zu retten. Man geht den Weg des geringsten Widerstandes — obwohl er ins Nichts führen mag.

V.

Thirring erinnert mit Recht, daß an der Aufrechterhaltung und „Verbesserung“ der Armee und Rüstung vor allem die Militärs materiell, aber auch ideell interessiert sein müssen. Es liegt in der Natur der Sache und des Menschen, daß sich Offiziere und Generale die Welt nicht leicht ganz ohne Krieg und noch weniger ohne Armeen und Rüstungen vorstellen können.

Der Kreis jener, welche nicht an Abrüstung glauben, reicht aber weiter. Wie Grenville Clark mit Recht betont, ist hiezu auch die traditionelle Diplomatie zu rechnen; es ist „die Hauptaufgabe eines Berufsdiplomaten, sich mit ‚Machtpolitik‘ zu beschäftigen, d.h. zur Förderung der wirklichen oder angenommenen Interessen eines Landes Allianzen zu schmieden, Gegenbündnisse zu unterminieren, mit Gewalt verhüllt oder offen zu drohen. Dieses gedankliche Verhalten kann fast ebenso schwer abgeschüttelt werden wie jenes der Berufssoldaten.“

Die Identifizierung mit dem Machtstaat und dessen traditionaler Politik ist aber auch typisch für viele Staats- und Kirchen-Ideologen — Staats- wie Völkerrechtler, Historiker oder Politologen, Publizisten oder Pfarrer. Wie Georg Prader beweist, ist auch der sogenannte „realistische‘‘ Politiker in der Regel so vergangenheitsbezogen, daß er an eine Welt ohne Krieg einfach nicht glauben will.

Schließlich sind in einer Epoche, in der die Rüstung die ganze Gesellschaft und Wirtschaft mitprägt und mitträgt, auch erhebliche Teile der „Wirtschaft‘‘ und Wissenschaft vital daran interessiert. Eisenhower hat in diesem Zusammenhang vor dem „military-industrial complex“ gewarnt — eine Gruppierung, die noch durch die Rüstungswissenschaft zu ergänzen wäre. Die Privatwirtschaft fürchtet die Schmälerung ihrer Gewinne — die Minderung ihres Status, wenn der Staat etwa mittels Steuern und ähnlicher Maßnahmen stärker in die „freie Wirtschaft“ eingreift, um den unterprivilegierten Schichten oder unterentwickelten Völkern zu helfen. Schon dies erklärt die zum Teil durchaus ehrliche Opposition dieser Kreise gegen den Trend zum Wohlfahrts- und Sozialstaat, ihre Angst vor einer zu weitgehenden „Vermassung“ und „Gleichmacherei“.

Aber auch die Massen sind nur selten wirklich „radikal“. Die herrschenden Ideen einer Zeit sind die Ideen der herrschenden Klasse; die unteren Schichten nehmen den Status quo hin, solange die Herrschenden ihnen eine noch so bescheidene und prekäre Existenz zu gewährleisten vermögen. „Es hat jede Erfahrung gezeigt“, formulierten die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776, „daß die Menschen eher geneigt sind, zu dulden, solange die Mißstände noch erträglich sind, als sich unter Beseitigung altgewohnter Formen Recht zu verschaffen“.

VI.

Georg Prader sieht richtig, daß die Machthaber über Krieg und Frieden entscheiden. Er irrt aber, wenn er glaubt, daß ein Krieg stets von der einen Seite als Angriffskrieg begonnen wird. Schon historisch ist es meist sehr schwierig, einen „gerechten Krieg“ klar von einem „ungerechten“ abzugrenzen; in unserem Zeitalter ideologisch verbrämter, machtpolitischer Konflikte ist die Grenzlinie zwischen Angriffs- und Verteidigungs-, Staaten- und Bürgerkrieg kaum noch zu ziehen.

Nun mag der Grundsatz „si vis pacem, para bellum“, der dem Gedankengang Praders zugrunde liegt, für die neutralen Staaten eher zutreffen als für die Großmächte — echte Sicherheit gewährt er nicht. Ein militärisches Vakuum kann eine tödliche Gefahr sein — aber Rüstung erweist sich gleichfalls immer weniger als Garantie der Sicherheit.

Wollte man aber dem Soldaten wie dem Zivilisten, dem eigenen Volke wie dem Feind immer vorhalten, daß sich alle „Verteidigung“ in der Stunde X in Null auflöst, so würde wohl früher oder später der Mensch gegen den Kriegsapparat revoltieren. Jedenfalls könnte der ‚‚Verteidigungswille“ so geschwächt werden, daß er seine „Glaubwürdigkeit‘‘ auch als Abschreckungsmittel verlieren würde. Angesichts dieses echten Dilemmas wächst die Gefahr, daß man immer mehr dazu getrieben wird, sich und die anderen davon zu „überzeugen“, daß Rüstung und bewaffnete Streitkräfte, vor allem auch der zivile „Bevölkerungsschutz“ nicht nur dazu da sind, den Gegner abzuschrecken, sondern daß sie auch im sogenannten „Ernstfall‘‘ das Überleben der Nation ermöglichen können, müssen und werden.

VII.

Hier gibt es nur einen Ausweg: Entspannung, Konfliktlösung, Abrüstung, oder besser gesagt: Umrüstung. Solange jeder Staatsmann erklärt, der andere solle vorangehen, er werde dann nachziehen — in aller Ruhe, solange wird der Teufelskreis von Rüstung — Mißtrauen — mehr Rüstung — mehr Mißtrauen usw. nie durchbrochen. Gerade kleinere neutrale Mächte wie Österreich und die Schweiz, Schweden und Jugoslawien sollten daher immer wieder die Initiative ergreifen, die Weltöffentlichkeit mobilisieren, die Großmächte und Blöcke immer wieder zur Entspannung und Abrüstung auffordern. Verschiedene Entspannungs- und Disengagement-Pläne sehen den Abzug der Truppen der Großmächte in Mitteleuropa (einschließlich Ungarn) vor — wann werden die Neutralen einen Beitrag zu diesen Vorschlägen leisten? Warum studieren sie nicht das Vorgehen Costaricas und suchen daraus zu lernen? Oder ist und bleibt die offizielle Politik der kleinen wie großen Mächte ein im Sinne der Kybernetik absolut lernfeindliches System?

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