FORVM, No. 307/308
Juli
1979

Gaullismus in Österreich

Die Zweite Republik Österreich ist in die Hochphase des Gaullismus eingetreten. In vielem ist die politische Wirkung Bruno Kreiskys mit der Wirkung Charles de Gaulles zu vergleichen.

Irrationale Mythen

  1. Die österreichische Sozialdemokratie und den französischen Gaullismus verbindet die Neigung zur wirkungsvollen Nutzung irrationaler Mythen, unbegründeter Personalisierung. Weder war Frankreich vor 15, 20 Jahren de Gaulle, noch ist Österreich heute Kreisky. Doch die Gaullisten in Frankreich und die Sozialisten in Österreich tun so, als wäre dies der Fall; und gewinnen damit Wahlen.

Jeder, der irgend etwas von marxistischer Geschichts- und Gesellschaftsanalyse mitbekommen hat, müßte sich eigentlich mit Grausen von einer SPÖ wenden, die ohne das geringste Schamgefühl einen Satz wie „Kreisky. Österreich braucht ihn“ zur zentralen Wahlkampfaussage macht. Selbstverständlich weiß jeder ein wenig zur Analyse befähigte Sozialist, daß Österreich nicht Kreisky, sondern eine bestimmte Politik braucht.

Doch der SPÖ daraus einen Vorwurf zu machen wäre naiv. Die SPÖ ist eben keine Partei, die die Gesellschaft zu analysieren hat, die die Gesellschaft zu reformieren hat; die SPÖ ist eine Partei, die Wahlen zu gewinnen hat. Und wenn sie sich, wider besseres Wissen, gegen die noch vorhandenen Restelemente ihres sozialistischen Gewissens, einem schrankenlosen Persönlichkeitskult verschreibt: Wenn es nur dem Wahlsieg nützt, dann ist es funktional.

Links programmieren, rechts regieren

  1. De Gaulle hat, von rechts kommend, mit einem Polster rechter Stammwähler ausgestattet, in vielen Punkten eine linke Politik betrieben. Wichtige Akzente seiner Außenpolitik, sein Friedensschluß in Algerien, seine Entkolonialisierung — alles das hätte zu einer sozialistisch geführten Regierung der Vierten Republik ideologisch besser gepaßt; alles das haben Mollet und Genossen nicht zustande gebracht; alles das hat, dialektisch konsequent, der rechte de Gaulle geschafft.

Bruno Kreisky ist ein spiegelverkehrter de Gaulle. Er stützt sich auf ein massives Polster linker Stammwähler. Und er betreibt, von dieser sicheren Basis aus, in vielen Punkten eine eindeutig rechte Politik. Rechts freilich nicht im Sinne der Herren Steinhauser und Co. Rechts jedoch im Sinne einer Versöhnung breiter gesellschaftlicher Kreise mit bestehenden Zuständen; rechts im Sinne einer emotionalen Zudeckung aller Strukturdefekte, aller Antagonismen unserer Gesellschaft; rechts im Sinne einer umfassenden Integration aller; eben rechts, eben im Sinne eines, gut marxistisch ausgedrückt, „Burgfriedens“.

Daß Kreisky unmittelbar nach seinem Triumph vom 6. Mai die Sozialpartnerschaft lobend erwähnt hat; daß am Abend des Wahltages unmittelbar nach den Parteiführern die Symbolfiguren der österreichischen Sozialpartnerschaft, Anton Benya & Rudolf Sallinger, sich gegenseitig sozialpartnerschaftliche Treue vor den Fernsehkameras versprechen konnten, das alles ist nur Symptom; Reflex — aber Reflex einer sehr wirklichen Wirklichkeit.

Daß die Sozialistische Partei Österreichs heute, unter Benutzung irrationaler Sehnsüchte und Identifikationsprobleme und klassisch-bürgerlicher Vorurteile (Staatsmann Kreisky gegen ewig nörgelnde und neinsagende Oppositionspolitiker), faktisch eine strukturkonservative Politik betreibt, läßt sich aus allen objektiven Daten ablesen. Die Ökonomen sind sich einig, daß fast ein Jahrzehnt sozialistischer Regierungspolitik keine signifikante Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums gebracht hat. Die Soziologen sind sich einig, daß die „neue soziale Frage“ weniger gelöst ist als je zuvor. Die Politologen sind sich einig, daß aufgrund faktischer Dominanz sozialpartnerschaftlicher Entscheidungsmuster eine Alternativpolitik immanent nicht machbar ist.

Volksmann Kreisky beim Heurigen:
Ein Prosit den Medienmenschen Dr. Keller (Mitte) und In der Maur (rechts)

SPÖ, die beste Volkspartei

Nicht, daß eine ÖVP eine andere Politik betreiben würde. Im Gegenteil: Die SPÖ hat gegenüber der Volkspartei, der das Volk davonläuft, den großen Vorteil der Fähigkeit zur Imagination. Die SPÖ kann viel besser als die von rechts kommende ÖVP jene Kräfte mit dem zementierten Status quo versöhnen, die aufgrund der Traditionen der Arbeiterbewegung, aufgrund auch ihrer objektiven Benachteiligung an sich die „natürliche“ Opposition zu bestehenden Verhältnissen bilden müßten.

Die bestehenden Zustände noch so perfekt von einer „bürgerlichen“ Regierung verwaltet — und die Zufriedenheit bei dieser „natürlichen“ Opposition wäre gering. Die bestehenden Verhältnisse ebensogut von der „sozialistischen“ Regierung verwaltet — und die Zufriedenheit mit dem, was ist, wächst bei denen, die ursprünglich die Verhältnisse umkehren wollten.

In diesem Sinn sind die Parteien eben keineswegs einfach austauschbar. Eben weil SPÖ und ÖVP nach wie vor sozial unterschiedliche Gruppen repräsentieren; eben weil es eine sozialstrukturelle Konvergenz der Parteien nicht gibt; aber weil auch die Parteien, gefangen von den Regeln des Wettlaufs um den Wahlsieg, gefangen auch von den Regeln der Sozialpartnerschaft, in der tatsächlichen Regierungspolitik nur unwesentlich voneinander abweichen können; eben deshalb ist eine „sozialistische“ Politik für eine gesamtgesellschaftliche Stabilität besser als eine „bürgerliche“, „konservative“ oder „christlich-demokratische“ Politik. Der Schein der Etiketten, in Verbindung mit den Gegensätzen an der Basis der Parteien, entfaltet eine Eigendynamik. Eine Politik, die in ihren Grundzügen gar nicht gemacht werden kann, weil sie festgeschrieben ist, erzeugt dann, wenn sie „bürgerlich“ etikettiert ist, weniger Loyalität, als wenn sie „sozialistisch“ bezeichnet wird.

Eben das ist das Gaullistische an der österreichischen Sozialdemokratie. Weil sie ein faktisches Monopol auf alles hat, was politisch links und politisch relevant ist, weil ihre sozialistische Legitimation nicht ernsthaft angezweifelt wird, ist sie die beste Volkspartei aller Zeiten geworden.

Ein Unterschied bleibt vielleicht zwischen de Gaulle und Kreisky: Der französische (Schein-)Rechte ist 1969 nach einer Niederlage abgetreten. Der österreichische (Schein-)Linke geht vielleicht ungeschlagen in die Geschichte. Vielleicht bleibt sein Mythos ungebrochen.

Ob so etwas einer Demokratie guttut?

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)