FORVM, No. 160-161
April
1967

Gegen Versimpelung des Marxismus

Antonio Gramsci ist der Begründer der italienischen KP. Wenn man sich unter einem Kommunisten einen sturen stalinistischen Apparatschik vorstellt, ist Gramsci das Gegenteil hievon — ein Denker hohen Ranges und, durch Absorption und Umformung der idealistisch-liberalen Philosophie seines Lehrers und politischen Gegners Benedetto Croce, ein Marxist von eigenständiger Prägung und eigentümlichem Reiz.

Aus Sardinien gebürtig (1891), trat Gramsci als Student der italienischen sozialistischen Partei bei, wurde Redakteur des „Avanti“ in Turin und Haupt der „Linken“, für die er die Zeitschrift „L’ordine nuovo“ herausgab. Er war führend bei der Besetzung großer Fabriksbetriebe in Turin, Anfang der Zwanzigerjahre, durch sozialistische Arbeiter und schuf für diese (erfolglose, vom Faschismus zerschlagene) Bewegung die Theorie von der Rolle der Betriebsräte als Regierungsorgane in einem sozialistischen Staat.

Mussolini brachte ihn im November 1926 ins Gefängnis, wo er 1937 an Tuberkulose starb. Alle seine philosophischen Texte, insgesamt über 4000 Seiten, entstanden im Gefängnis. „Ausgewählte Schriften“ von Gramsci erscheinen demnächst bei S. Fischer in deutscher Sprache mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth. Nachfolgend ein Vorabdruck aus „Kritischen Notizen zu Bucharins ‚Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie‘“. [1] Bucharin, Führer und Theoretiker der „rechten“ Opposition im sowjetischen Kommunismus, wurde 1938 hingerichtet; aber Stalin übernahm nicht weniges von den schrecklich vereinfachenden derb-materialistischen Auffassungen des von ihm Ermordeten und bastelte daraus die offizielle Staats- und Parteireligion „Diamat“. Der Marxist Gramsci war, wie man aus dem folgenden Text sehen wird, ein erbarmungsloser Kritiker dieser Versimpelung des Marx’schen Denkens. [2]

Ende April dieses Jahres findet in Sardinien, aus Anlaß des 30. Todestages von Gramsci, ein internationaler philosophischer Kongreß statt, unter dem Vorsitz des italienischen Staatspräsidenten, des Sozialdemokraten Saragat — Beweis für die Inkorporierung Gramscis in die nationale Geistesgeschichte Italiens.

Ist Marxismus ein „System“?

Ist es es möglich, ein „gemeinverständliches Lehrbuch“ einer Lehre zu schreiben, die sich noch im Stadium der Diskussion, der Polemik, der Ausarbeitung befindet? Ein solches Lehrbuch kann nur als formal dogmatische, stilistisch abgewogene, wissenschaftlich klare Darstellung eines bestimmten Themas konzipiert werden; es kann nur eine Einführung ins wissenschaftliche Lernen bieten, nicht bereits eine Darstellung neuartiger wissenschaftlicher Erkenntnisse für Jugendliche oder für ein vom Standpunkt der Wissenschaft vorläufig im Jugendalter befindliches Publikum mit unmittelbarem Bedürfnis nach „Gewißheiten“, nach Meinungen, die sich zumindest formal als wahr und außer Diskussion erweisen.

Wenn eine bestimmte Lehre noch nicht die „klassische“ Phase ihrer Entwicklung erreicht hat, muß jeder Versuch, sie handbuchartig darzustellen, notwendig scheitern. Ihre logische Systematisierung ist nur scheinbar und illusorisch; es handelt sich vielmehr, wie eben beim „Lehrbuch“ von Bucharin, um eine mechanische Aneinanderreihung disparater Elemente, die unerbittlich verstreut und unverbunden bleiben, trotz dem einheitlichen, durch die literarische Form gegebenen Firnis. Warum nicht die Frage in ihrem richtigen theoretischen und geschichtlichen Zusammenhang stellen und sich mit einem Buch zufriedengeben, worin eine Reihe wesentlicher Probleme des Marxismus monographisch dargestellt werden? Das wäre seriöser und wissenschaftlicher.

Aber man glaubt vulgärerweise, daß Wissenschaft unbedingt „System“ bedeuten soll. Deshalb werden beliebige Systeme errichtet, die nicht den notwendigen inneren Zusammenhang eines Systems aufweisen, sondern nur dessen mechanische Äußerlichkeit.

Scholastik statt Dialektik

Die Marx’sche Philosophie der Praxis wird von Bucharin in zwei Teile zertrennt: erstens eine als Soziologie konzipierte Theorie der Geschichte und Politik, die gemäß den Methoden der Naturwissenschaften zu entwickeln sei (experimentell im grob positivistischen Sinne); zweitens eine Philosophie im eigentlichen Sinn: der philosophische oder metaphysische oder mechanische (Vulgär-)Materialismus.

Wie aus Bucharins Beitrag auf dem Londoner Kongreß für Wissenschaftsgeschichte, Juni/Juli 1931, hervorgeht, hält er weiterhin an dieser Zweiteilung der Philosophie der Praxis fest: in die Doktrin der Geschichte sowie der Politik und in die eigentliche Philosophie, die er jedoch als dialektischen Materialismus bezeichnet und nicht mehr als den alten philosophischen Materialismus. Bei einer solchen Fragestellung läßt sich die Wichtigkeit und Bedeutung der Dialektik nicht mehr verstehen; sie ist nicht mehr Erkenntnistheorie, Kern der Geschichtsauffassung und der Wissenschaft von der Politik, sondern wird degradiert zu einer Unterabteilung der formalen Logik, zu einer elementaren Scholastik.

Funktion und Bedeutung der Dialektik können erst in ihrem Wesen begriffen werden, wenn die Philosophie der Praxis als integrale und neuartige Philosophie aufgefaßt wird, die eine neue Phase in der Geschichte und in der Entwicklung des Denkens einleitet; die Marx’sche Philosophie der Praxis ist die Aufhebung (und in der Aufhebung auch die Aufbewahrung der lebendigen Elemente) sowohl des traditionellen Idealismus wie des traditionellen Materialismus als Ausdrucksformen der alten Gesellschaft.

Bucharin fühlt, daß die Dialektik eine schwierige Sache ist, insofern das dialektische Denken dem vulgären Alltagsverstand entgegensteht. Dieser ist dogmatisch, begierig auf unumstößliche Gewißheiten und hat die formale Logik als Ausdruck. Man denke daran, was geschähe, wenn in den Grund- und Oberschulen die Naturwissenschaften auf der Grundlage des Einstein’schen Relativismus gelehrt würden, zugleich aber die traditionellen „Naturgesetze“. Die Schüler würden überhaupt nichts verstehen; der Zusammenstoß zwischen Schulunterricht und Familien wie Volksleben wäre derart, daß die Schule zum Gespött und zum Objekt eines karikierenden Skeptizismus würde.

Dieses Motiv scheint mir eine psychologische Bremse für den Verfasser des „Lehrbuchs“ zu sein: Er kapituliert vor dem Alltagsverstand und dem vulgären Denken, weil er sich das Problem theoretisch nicht genug genau gestellt hat. Er ist daher praktisch entwaffnet und ohnmächtig gegenüber dem unaufgeklärten und rohen Milieu; der vulgäre Alltagsverstand hat sich gegenüber der Wissenschaft durchgesetzt und nicht umgekehrt. Wenn das Milieu Erzieher ist, muß es ebenso wieder erzogen werden, aber die Bucharin’sche „Theorie“ versteht nichts von dieser revolutionären Dialektik.

Materialismus als Metaphysik

Die Wurzel sämtlicher Irrtümer Bucharins liegt in seinem Anspruch, die Philosophie der Praxis in zwei Teile zu trennen: eine „Soziologie“ und eine systematische Philosophie. Von der Theorie der Geschichte und Politik abgetrennt, kann die Philosophie nur Metaphysik sein; die große Errungenschaft der Philosophie der Praxis ist aber gerade die konkrete Historisierung der Philosophie, die Gleichsetzung von Philosophie und Geschichte.

Ist Bucharins „gemeinverständlichem Lehrbuch“ eine Kritik der Metaphysik und der spekulativen Philosophie zu entnehmen? Der Verfasser übersieht den Begriff „Metaphysik“, weil er die Begriffe „geschichtliche Bewegung“, „Werden“ und selbst „Dialektik“ übersieht. Es gelingt ihm nicht, eine philosophische Aussage in einer bestimmten geschichtlichen Periode als wahr zu denken, d.h. als notwendigen, mit einer bestimmten geschichtlichen Praxis untrennbar verbundenen Ausdruck, der aber in einer darauffolgenden Periode überwunden und sinnentleert wurde. Dies begreifen, ohne in Skeptizismus, ideologischen und moralischen Relativismus zu verfallen — dies heißt, die Philosophie als Geschichtlichkeit begreifen.

Der Verfasser verfällt jedoch gänzlich in Dogmatismus und so in eine wenngleich naive Form der Metaphysik. Seine Problemstellung ist vom Willen bestimmt, eine systematische „Soziologie“ der Philosophie der Praxis konstruieren zu wollen; aber „Soziologie“ bedeutet in diesem Fall einfach naive Metaphysik. Es gelingt Bucharin nicht, den Begriff der Philosophie der Praxis als historische Methodologie herauszuarbeiten und diese historische Methodologie als „Philosophie“, als einzig konkrete Philosophie. Anstelle einer historischen Methodologie entwickelt er eine Kasuistik besonderer Fragen, die dogmatisch aufgefaßt und gelöst werden, wenn sie nicht völlig verbal zu ebenso naiven wie prätentiösen Fehlschlüssen führen.

Man versteht, daß dies so sein muß, weil im „gemeinverständlichen Lehrbuch“ die Philosophie der Praxis keine autonome und originale Philosophie ist, sondern „Soziologie“ des metaphysischen Materialismus.

Metaphysik bedeutet für Bucharin nur eine bestimmte spekulativ idealistische philosophische Formulierung und nicht bereits jegliche systematische Aussage, die sich als außergeschichtliche Wahrheit setzt, als abstrakt Allgemeines außerhalb von Zeit und Raum.

Die dem „gemeinverständlichen Lehrbuch“ implizite Philosophie kann als positivistischer Aristotelismus bezeichnet werden, eine Anpassung der formalen Logik an die Methoden der Physik und der sonstigen Naturwissenschaften. Die geschichtliche Dialektik wird durch Kausalitätsgesetz, Erforschung der Regelmäßigkeit, Normalität und Gleichförmigkeit ersetzt. Aber wie kann aus dieser Auffassungweise die Aufhebung, die „Umwälzung“ der Praxis abgeleitet werden? Mechanisch begriffen, kann die Wirkung nie die Ursache oder das Ensemble von Ursachen aufheben, es kann sich folglich keine andere Entwicklung als die platt-vulgäre des Evolutionismus ergeben.

Wenn der „spekulative Idealismus“ die Lehre von den Kategorien und der aprioristischen Synthese des Geistes ist, d.h. eine Form antihistoristischer Abstraktion, so ist die im „gemeinverständlichen Lehrbuch“ implizite Philosophie ein umgekehrter Idealismus in dem Sinne, daß die spekulativen Kategorien durch empirische Begriffe und Klassifikationen ersetzt werden, die genau so abstrakt und antihistorisch wie jene des gewöhnlichen Idealismus sind.

Eine der sichtbarsten Spuren der alten Metaphysik im „gemeinverständlichen Lehrbuch“ ist das Bemühen, alles auf eine Ursache zurückzuführen, die causa ultima, die letzte Ursache. Man kann die Geschichte dieses Monokausalitätsproblems rekonstruieren und zeigen, daß es sich hier um eine der Manifestationen der „Gottessuche“ handelt.

Marxismus ist keine Prophetie

Bucharins Problemstellung: Erforschungvon „Gesetzen“, konstanten, regelmäßigen, gleichmäßigen Entwicklungslinien, ist gebunden an ein etwas kindlich-naives Bedürfnis, das praktische Problem der Vorhersehbarkeit geschichtlicher Ereignisse unumstößlich zu lösen. Auf Grund einer eigentümlichen Umkehrung der Perspektiven nimmt Bucharin die Naturwissenschaften als Vorbild, weil sie die Fähigkeit besitzen, die Evolution von Naturprozessen vorherzusehen. Deshalb ist für Bucharin die historische Methodologie „wissenschaftlich“ nur insofern, als sie abstrakt die Zukunft der Gesellschaft „vorauszusehen“ befähige. Daher macht er sich an die Erforschung der wesentlichen Ursachen, sogar der „causa prima“, der „Ursache der Ursachen“.

Aber die Marx’schen Thesen über Feuerbach hatten schon vorweg diese simplifizierende Auffassung kritisiert. In der geschichtlichen Wirklichkeit kann man „wissenschaftlich“ nur den Kampf vorhersehen, nicht jedoch die konkreten Momente desselben, welche das jeweilige Ergebnis kontrastierender, in ständiger Bewegung befindlicher, nicht auf fixe Quantitäten zurückführbarer Kräfte sind. In der historischen Wirklichkeit gibt es „Voraussicht“ nur, soweit der Mensch aktiv wird, soweit menschliche Willensanstrengung erfolgt und folglich der Mensch konkret dazu beiträgt, das „vorhergesehene“ Resultat zu schaffen.

Die „Voraussicht“ der Geschichte enthüllt sich folglich nicht als wissenschaftlicher Akt der Erkenntnis, sondern als abstrakter Ausdruck der vollzogenen menschlichen Anstrengung, der praktischen Weise, kollektiven Willen zu schaffen.

Wie könnte solche Voraussicht ein Akt der Erkenntnis sein? Man erkennt das, was war oder was ist, nicht das, was sein wird, was ein Nichtexistierendes und folglich ein Nichterkennbares per definitionem ist. Das Vorhersehen ist also nur ein praktischer Akt und kann nicht anders als oben erklärt werden, sofern es sich nicht um müßigen Zeitvertreib handeln soll. Immerhin ist es notwendig, die Frage nach der Vorhersehbarkeit geschichtlicher Ereignisse genau zu stellen, damit man die mechanische Auffassung von historischer Kausalität kritisieren, sie ihres wissenschaftlichen Prestiges entkleiden und sie auf reinen Mythos reduzieren kann.

Marxismus ist keine Naturwissenschaft

Der im „gemeinverständlichen Lehrbuch“ entwickelte Begriff der „Wissenschaft“ ist eindeutig den Naturwissenschaften entlehnt, als seien diese die einzige Wissenschaft oder die Wissenschaft par excellence, wie es der Positivismus festlegte.

Der Glaube, wissenschaftliche Forschung auf einem bestimmten Gebiete könne weiterentwickelt werden, indem ihr eine typisierte Methode zugewiesen wird, deren Wahl erfolgt, weil sie auf einem anderen Forschungsgebiet gute Ergebnisse erzielte, ist ein eigenartiges Blendwerk, das wenig mit Wissenschaft zu tun hat.

Es gibt allerdings auch allgemeine Kriterien, die das kritische Bewußtsein eines jeden Wissenschaftlers bilden, was immer sein Spezialfach sei. So kann man sagen, es sei kein Wissenschaftler, wer keine ausreichende Kenntnis der von ihm angewandten Begriffe und des bisher erreichten Standes der von ihm behandelten Probleme besitzt; wer in seinen Behauptungen nicht sehr vorsichtig ist; wer auf willkürliche und unzusammenhängende Weise vorgeht; wer die in seinen Erkenntnissen bestehenden Lücken nicht in Rechnung stellt, sondern sie verschweigt und sich mit rein verbalen Lösungen oder Verknüpfungen begnügt, anstatt zu erklären, daß es sich um vorläufige Positionen handelt, die weiterentwickelt werden können und müssen.

Marxismus kann irren

Der Wissenschaftler darf ferner seine Gegner nicht unter den Dümmsten oder auch nur Mittelmäßigen suchen; er darf unter den wesentlichen und zufälligen Meinungen seiner Gegner keine willkürliche Auswahl treffen und vorgeben, den „ganzen“ Gegner „zerstört“ zu haben, weil er eine seiner zweitrangigen und zufälligen Meinungen zerstört hat; er darf auch nicht vorgeben, eine Lehre „zerstört“ zu haben, weil er das theoretische Ungenügen der Vertreter dritter oder vierter Klasse dieser Lehre bewiesen hat.

Man muß seinen Gegnern gegenüber gerecht sein. Man soll bemüht sein, zu verstehen, was sie wirklich sagen wollen, und sich nicht maliziös bei ihren oberflächlichen und unmittelbaren Aussprüchen aufhalten. Das gilt dann, wenn das eigene Ziel darin besteht, den Ton und das Niveau der eigenen Anhänger zu heben, und nicht darin, auf jede Art und Weise rund um sich Leere zu erzeugen. Die eigenen Anhänger müssen diskutieren können; sie müssen den eigenen Standpunkt im Gespräch mit fähigen und intelligenten Gegnern vertreten und nicht allein mit grobschlächtigen Leuten ohne Vorbildung, die autoritativ oder emotional überzeugt werden können.

Die Möglichkeit des Irrtums muß betont und gerechtfertigt werden, ohne dabei die eigene Auffassung prinzipiell fallenzulassen.

Das Entscheidende ist nicht schon die Meinung von Müller, Meyer, Schulze, Schmidt, sondern das gesamte Ensemble der zu gesellschaftlichen Elementen und Kräften gewordenen Meinungen. Diese Meinungen gilt es, bei ihren repräsentativsten theoretischen Vertretern zu widerlegen, welche durchaus des Respektes würdig sind, was das Niveau ihres Denkens und ihre persönliche Lauterkeit betrifft.

Man darf dabei nicht glauben, durch Widerlegung von Meinungen auch schon die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Elemente und Kräfte zerstört zu haben — was rein aufklärerischer Rationalismus wäre.

Tötet Lächerlichkeit den Idealismus?

Das Publikum glaubt nicht, daß die objektive Wirklichkeit der äußeren Welt problematisch sein könne. Es genügt, das Problem zu stellen, um einen nicht zu stillenden gargantuesken Heiterkeitserfolg zu erzielen. Die Öffentlichkeit glaubt, die äußere Welt sei objektiv wirklich; aber hier entsteht die Frage: Welches ist der Ursprung dieses Glaubens und welchen kritischen Wert hat er?

Dieser Glaube ist religiösen Ursprungs, auch wenn der daran Glaubende religiös indifferent ist. Alle Religionen haben gelehrt und lehren noch, daß die Welt von Gott vor der Schöpfung des Menschen geschaffen wurde und folglich der Mensch die Welt fix und fertig, ein für allemal katalogisiert und definiert vorgefunden habe; so ist der Glaube an die objektive Wirklichkeit der Welt im Alltagsverstand zu einer ehernen Tatsache geworden und lebt mit unveränderter Festigkeit weiter, auch wenn das religiöse Gefühl erloschen ist. Daher ist es „reaktionär“, nämlich ein impliziter Rückgang auf das religiöse Gefühl, wenn man sich auf den Alltagsverstand stützt, um die idealistische Anschauung durch ihre „Komik“ zu zerstören. Tatsächlich bedienen sich katholische Schriftsteller und Redner des gleichen Mittels der ätzenden Lächerlichkeit: „Die Idealisten sind Leute, die denken, daß dieser Kirchturm nur existiert, weil man ihn denkt; dächte man ihn nicht, würde es den Kirchturm nicht mehr geben.“

Das Problem ist, wie mir scheint, das folgende: wie kann man erklären, daß die idealistische Anschauung, wenn man sie heute der Öffentlichkeit erläutert, nur Gelächter und Grimassen hervorruft? Mir scheint dies ein typischer Fall zu sein für die Distanz zwischen dem Leben des Volkes und gewissen Gruppen von Intellektuellen, die doch die „zentrale“ Führung der hohen Kultur und der großen Volksmassen innehaben; die Sprache der Philosophie ist zu einem Kauderwelsch geworden, das die selbe Wirkung hat wie die Sprache des Harlekins.

Aber wenn der Alltagsverstand sich bloß erheitert, müßte der Philosoph der Praxis versuchen, die reale Bedeutung der idealistischen Anschauung zu erklären, den Grund ihres Entstehens und ihrer Verbreitung unter den Intellektuellen sowie auch, warum sie den Alltagsverstand zum Lachen bringt. Die subjektivistische Anschauung ist gerade der modernen Philosophie in ihrer vollendetsten und fortgeschrittensten Form eigentümlich; als ihre Aufhebung entstand der historische Materialismus, welcher in seiner Überbau-Theorie auf realistisch-historische Weise dasselbe ausdrückt, was die traditionelle Philosophie in spekulativer Form sagte.

Keine Wirklichkeit ohne Menschen

Der Beweis für diese hiemit angedeutete Annahme hätte größte Bedeutung; einer Reihe unnützer und müßiger Diskussionen wäre damit ein Ende gesetzt und die Marx’sche Philosophie der Praxis könnte eine organische Entwicklung nehmen, die sie schließlich zum vorherrschenden Ausdruck unserer Kulturhöhe machen würde. Es ist erstaunlich, daß man diesen Zusammenhang noch nie gründlich untersucht hat, welcher zwischen dem idealistischen Satz von der Wirklichkeit der Welt als Schöpfung des menschlichen Geistes und dem Marx’schen Satz von der geschichtlichen Hinfälligkeit aller Ideologien besteht.

Aber es läßt sich auch beweisen, daß die subjektivistische Anschauung dazu gedient hat, einerseits die Transzendenzphilosophie und anderseits die naive Metaphysik des Alltagsverstandes und des philosophischen Materialismus zu kritisieren; ihre Bewahrheitung und historische Interpretation kann sie nur in der Überbau-Konzeption finden, wogegen sie in ihrer spekulativen Form bloß ein philosophischer Roman ist.

Dem „gemeinverständlichen Lehrbuch“ Bucharins muß man vorwerfen, daß dort die subjektivistische Anschauung so dargestellt ist, wie sie aus der Kritik des Alltagsverstandes sich ergibt; Bucharin akzeptiert die Anschauung von der objektiven Wirklichkeit der äußeren Welt in ihrer trivialsten und unkritischesten Form, ohne zu bemerken, daß gerade gegen diese Auffassung eingewendet werden kann, sie sei Mystizismus.

Es ist schwer, Bucharins so mechanisch verstandene Auffassung äußerer Objektivität zu rechtfertigen. Kann denn eine außergeschichtliche und außermenschliche Objektivität existieren? Wer wird eine solche Objektivität beurteilen? Wer wird diesen „Standpunkt des Kosmos an sich“ vertreten, und was bedeutet ein solcher Standpunkt? Man kann sehr gut behaupten, es handle sich hier um ein Residuum des Gottesbegriffs, gerade in dieser mystischen Anschauung eines unbekannten Gottes.

Engels formuliert, daß die „Einheit der Welt in ihrer ... von der langen und beschwerlichen Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaften bewiesenen Materialität besteht“; dies enthält den Keim der richtigen Konzeption, weil auf die Geschichte und den Menschen zurückgegangen wird, um die objektive Wirklichkeit zu beweisen. „Objektiv“ bedeutet immer „menschlich objektiv“, was genau dem „geschichtlich Objektiven“ entspricht.

Der Mensch erkennt objektiv, insofern die Erkenntnis für das ganze, in einem einheitlichen Kultursystem geschichtlich vereinigte Menschengeschlecht wirklich ist. Aber dieser geschichtliche Vereinigungsprozeß erfolgt erst mit dem Verschwinden der die menschliche Gesellschaft zerfleischenden inneren Widersprüche; bis dahin gibt es Gruppen und daher Ideologien, die nicht universell und insofern nicht konkret sind. Es gibt also einen Kampf um die Objektivität, um die Befreiung von partiellen und somit trügerischen Ideologien, und dieser Kampf erfolgt um der kulturellen Vereinigung des Menschengeschlechtes willen. Was die Idealisten „Geist“ nennen, ist nicht Ausgangs-, sondern Ankunftspunkt. Es ist die Gesamtheit des Überbaus, der sich auf die konkrete und objektiv universelle Vereinheitlichung hin entwickelt und keinesfalls bereits die einheitsstiftende Voraussetzung ist.

Auf dem Gebiet der Experimentalwissenschaft hat bisher eine solche kulturelle Einheit ihre maximale Ausdehnung erreicht. Die Wissenschaft war bisher das am meisten zur Vereinheitlichung des „Geistes“ beitragende Erkenntniselement; sie ist die am konkretesten objektivierte Subjektivität.

Der metaphysisch-materialistische Objektivitätsbegriff scheint demgegenüber eine auch außerhalb des Menschen existierende „Objektivität“ zu vertreten. Wird aber behauptet, es gäbe eine Wirklichkeit auch ohne die Existenz des Menschen, so wird entweder eine Metapher gebraucht, oder man verfällt einer Form des Mystizismus. Wir kennen die Wirklichkeit nur im Verhältnis zum Menschen. Und da der Mensch geschichtliches Werden ist, sind auch Erkenntnis und Realität ein Werden, ist auch Objektivität ein Werden.

[1Bucharins Buch erschien 1921, Gramscis Kritik wurde 1932 geschrieben.

[2Aus diesem Grund, vor allem aber, weil er, obgleich ein Gegner der Theorien Trotzkis, dessen Brutalisierung durch Stalin kritisierte, geriet Gramsci in Opposition zu Stalin. Sie fand Ausdruck in einer aus dem Kerker geführten Korrespondenz mit Togliatti, der damals die Linie Stalins vertrat.

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