FORVM, No. 100
April
1962

Gespräch über die Freiheit

improvisiert mit einem japanischen Gast

Das nachfolgende Gespräch, dessen Abdruck ich dem FORVM für sein 100. Heft gestattet habe, führte ich im Beisein von Herrn cand. phil. Hosoo mit Herrn Prof. Mitsuro Muto, welcher in seiner japanischen Heimat einen Lehrstuhl für Wirtschaftsphilosophie innehat. Auf Fragen von Herrn Professor Muto, die Herr Hosoo vorlas, wurden von mir Antworten gegeben und auf Tonband aufgenommen. Friedrich Torberg hat das so entstandene Manuskript geglättet und lesbar gemacht. Wer genauer wissen möchte, was ich denke, soll sich nicht an Überspitzungen halten, die man sich im Gespräch erlaubt, und nicht an die Zufälligkeiten dessen, was hier gesagt und nicht gesagt wurde. In meinen politischen Schriften ist des näheren zu finden, was ich meine. Ich bitte den Leser, das vorliegende Gespräch wirklich als bloßes Gespräch zu nehmen.

K. J.
Ihre „Philosophische Weltorientierung“, die ich vor acht Jahren ins Japanische übersetzt habe, hat mich über wesentliche Unterschiede zwischen existentieller Freiheit, Philosophie und Wissenschaft belehrt. Wenn ich mich aber als Soziologe mit den Problemen der Gegenwart befasse, stoße ich immer wieder auf gewisse unmenschliche Züge unserer Gesellschaft. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß wir, um der Bedrohung durch den Totalitarismus zu entgehen, eine Art sozialer Solidarität schaffen müßten. In diesem Sinne habe ich Ihre Schrift über „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ als Mahnruf verstanden. Ist mein Gedankengang richtig?

Die existentielle Freiheit ist mit der politischen natürlich nicht identisch. Die existentielle Freiheit ist eine Angelegenheit des einzelnen, die politische ist ein Gesamtzustand. Darüber habe ich in dem von Ihnen zitierten Buch geschrieben. Mit vollem Recht sehen Sie die politische Freiheit durch den Totalitarismus bedroht. Diese Drohung ist umso gefährlicher, als die politische Freiheit ja erst die Voraussetzung für die existentielle, ja für die menschliche Freiheit überhaupt darstellt. Vielleicht wird die Freiheit des einzelnen auch unter totalitärer Herrschaft nicht völlig zerstört. Aber sie wird unsichtbar. Sie kann dann nur noch im Innern des Menschen weiterbestehen. Und dazu muß der betreffende Mensch sehr stark sein.

Ich halte den Zustand der politischen Freiheit für ein kostbares Gut, für die Grundlage eines menschenwürdigen Daseins. Das Verlangen nach politischer Freiheit läßt sich weit in die Geschichte zurückverfolgen. Politische Freiheit gab es schon in der alten griechischen Polis und in der römischen Republik; im römischen Imperium ging sie zum großen Teil verloren. Sie schlängelt sich wie ein schmaler Strom durch die Geschichte des Mittelalters, und als solcher ist sie auch im heutigen Abendland vorhanden. Ihre stärkste Ausprägung hat sie wohl bei den angelsächsischen Völkern gefunden, aber auch in der Schweiz, in Holland und in den nordischen Staaten. Die von der französischen Revolution geschaffene Freiheit ist anders geartet, ich möchte sagen: formaler. Sie kann viel leichter in Diktatur umschlagen als die andere, die in jedem einzelnen Bürger steckt und die gegen Diktaturgelüste organisch gesichert ist.

Nun komme ich zu einem Aspekt, der Sie besonders interessieren wird. Ich glaube nämlich, daß es diese Art von innerlich gefestigter politischer Freiheit weder in Indien noch in China jemals gegeben hat. Unter den ursprünglich nicht zum Abendland gehörigen Völkern hat meiner Meinung nach nur Japan den Weg zu dieser Freiheit beschritten, und zwar verhältnismäßig frühzeitig, etwa um 1870. Die Japaner sind sozusagen schrittweise in das technische Zeitalter eingedrungen, sie haben an seinem Entstehen mitgewirkt und haben sich durch dieses Schritthalten als einziges nichtabendländisches Volk den Zutritt zur Möglichkeit der politischen Freiheit geschaffen. (Ich spreche von „Möglichkeit“, denn wir haben sie auch im Abendland noch nicht sicher.) Demgegenüber sind China, Indien und neuerdings die sogenannten „Entwicklungsvölker“ völlig unvermittelt in das technische Zeitalter eingetreten, ohne daß sie sich innerlich darauf hätten vorbereiten können. Das zieht ungesunde Folgen nach sich. So wird zum Beispiel in Indien überall dort, wo es sich industrialisiert, die Überlieferung nach und nach ausgelöscht. In Japan ist das, soviel ich weiß, nicht der Fall. Dort versteht man es, sich den technischen Fortschritt der Gegenwart zunutze zu machen und zugleich an den geistigen Überlieferungen der Vergangenheit festzuhalten.

Es gehört zu den verhängnisvollen Begleiterscheinungen der Technik, daß sie heute weitgehend mit Macht gleichbedeutend ist. Alle jungen Völker drängen zur Technik, weil sie sich möglichst rasch ihrer neugewonnenen Macht versichern wollen. Hier liegt meiner Meinung nach auch ein Hauptmotiv dafür, daß sich in China ein totalitäres Herrschaftssystem etabliert hat. Die Grausamkeit, die heute in China geübt wird, ist im Grunde nur eine planmäßige, ins Gigantische getriebene Übersteigerung der Grausamkeit, die wir im Abendland am Beginn des technischen Zeitalters hatten. Aber im Abendland ist sie längst überwunden. Dort hat „Technik“ bereits sehr viel mit „Freiheit“ zu tun. Wenn nun aber ein Land wie China, wo das Festhalten an den alten Überlieferungen lange Zeit hindurch sogar die Errichtung von Eisenbahnen verhindern konnte, plötzlich mit den Errungenschaften einer hochentwickelten Technik konfrontiert wird, entstehen Schwierigkeiten, die sich dann eben nur durch Gewalt überwinden lassen. Das Volk wird zur Technik gezwungen, und über kurz oder lang kann nur noch der totale Terror diesen Zwang aufrechterhalten. Deshalb besteht bei allen jenen Völkern, die nicht wie die Abendländer oder wie die Japaner sukzessive und mit entsprechender geistiger Vorbereitung an die Technik herangegangen sind, eine so verhängnisvolle Tendenz zum Totalitarismus.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, daß man zwischen Totalitarismus und Kommunismus genau unterscheiden muß. Der Kommunismus beruht von Karl Marx her unzweifelhaft auf einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Er hat viel Wahres und viel Falsches in sich, aber der Gerechtigkeitsgedanke und der Freiheitsgedanke gehören zu seiner ursprünglichen Konzeption. Wenn Karl Marx heute in Rußland oder gar in China erschiene, um seine Lehre zu verbreiten, würde man ihn sofort verhaften, weil dort weder Freiheit noch Gerechtigkeit existieren. Man könnte sehr ernsthaft darüber diskutieren, ob wir im Abendland dem Kommunismus heute nicht schon in vieler Hinsicht näher sind als die Russen oder gar die Chinesen. Jedenfalls haben wir es in der vernünftigen Regelung des Gemeinschaftslebens und des Gemeinwohls doch schon erstaunlich weit gebracht. Nehmen Sie etwa die Schweiz. Dort gibt es keine peinlichen sozialen Unterschiede mehr, niemand hungert, jeder steht auf seinem Platz, keiner braucht demütig zu sein oder in einem bösen Sinn zu gehorchen. Man ist in Ordnung. Man hat ein Ausmaß von Freiheit erreicht, das immer mehr Gerechtigkeit bringt. Das totale Herrschaftssystem bringt immer mehr Ungerechtigkeit. Es bedeutet Zwang und Ausbeutung, es beraubt den Menschen seiner Würde, es ist das Prinzip der Unfreiheit. Gerade wer aus idealistischen Gründen für den Kommunismus ist, muß desto schärfer gegen den Totalitarismus sein. Daß man das nicht erkennt, ist eigentlich schwer zu begreifen.

Es wird sehr oft über den Unterschied zwischen dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem gesprochen. Natürlich gibt es ihn. Dem Kommunismus liegt die marxistische Lehre mit ihrem inhärenten Freiheits- und Gerechtigkeitsgedanken zu Grunde, dem Nationalsozialismus ein dummes Durcheinander von Pseudo-Aufklärung und Rassentheorie. Aber in der Praxis ihrer totalen Herrschaftsausübung wurden sie beide nahezu identisch. Die Deutschen in der Sowjetzone erleben heute ganz ähnliche Dinge wie seinerzeit unter Hitler. Trotzdem ist man im Westen immer noch geneigt, den großen Ideen des Marxismus zu vertrauen und mit ihnen in die Unfreiheit zu rasen.

Leben mit der Bombe

Wie waren Sie mit dem Echo auf Ihr Buch über die Atombombe zufrieden?

Das Buch wurde viel gekauft und gut besprochen. Es wurde auch in fremde Sprachen übersetzt und fand vor allem in Nordamerika und in Argentinien großes Interesse. Aber wenn ein Buch gekauft wird, so heißt das noch nicht, daß die darin ausgedrückten Gedanken weiterwirken. Was das betrifft, kann ich wenig Konkretes sagen. In Deutschland — dem Land, das mich natürlich am meisten angeht — denken viele Menschen über diese Dinge so wie ich; die Zahl derer, die von vornherein gegen mich denken, ist jedoch entschieden größer. Sie wollen sich mit dem eigentlichen Problem gar nicht auseinandersetzen und verschieben es auf die Ebene der falschen Fragestellung: „Ist er für oder gegen die Atombombe?“ Selbstverständlich bin ich gegen die Atombombe. Wer wäre es nicht. Aber der Realität kann man mit einer so primitiven Feststellung nicht beikommen. Angesichts der Tatsache, daß die beiden großen Machtblöcke die Atombombe besitzen und mit ihr drohen, fragt es sich nicht, ob man dafür oder dagegen ist. Die Frage lautet ganz einfach, wie man sich in einer solchen Situation zu verhalten hat.

Ich wäre sehr dafür, die Atombombe abzuschaffen, und mir wäre jede Methode, die das ermöglichen würde, willkommen. Aber ich sehe keine. Ganz gewiß kann man die Atombombe nicht dadurch abschaffen, daß man gegen ihr Vorhandensein protestiert. Auch durch Verträge läßt sie sich nicht beseitigen. Dazu bedürfte es einer inneren Wandlung des Menschen, aller Menschen. Und derlei unangenehme Tatsachen will man nicht wahrhaben. Als ich vor ungefähr einem Jahr eine Schrift über Freiheit und Wiedervereinigung publizierte — Sie werden sie kaum kennen, es geht darin um Berlin und das geteilte Deutschland —, mußte ich ganz ähnliche Erfahrungen machen. Ich versuchte mich realistisch und nüchtern mit der Frage auseinanderzusetzen, was bisher geschehen ist und was unter den jetzt gegebenen Umständen noch erreicht werden kann. Leider hat man in Deutschland für eine so scharfe Abgrenzung der Wirklichkeit gegen Illusionen nicht viel übrig.

Es gibt führende Nationen

Auch wir in Japan nehmen lebhaften Anteil an der Berlin-Krise und am Problem der deutschen Wiedervereinigung. Hier, wie in einigen anderen akuten Fällen, geht es doch in erster Linie um die Sicherung der Freiheit. Und damit bin ich wieder bei der schon einmal erwähnten „sozialen Solidarität“. Wenn wir uns mit den riesigen kommunistischen Machtblöcken erfolgreich auseinandersetzen wollen, genügt es nicht, militärische Organisationen wie die NATO zu schaffen. Die schlimmere Gefahr, von der wir bedroht sind, scheint mir in dem Sprichwort ausgedrückt zu sein: „Der Mensch, der mit dem Teufel kämpft, wird selbst zum Teufel“ Wie soll man dieser Gefahr entgehen?

Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, daß die Solidarität der freien Völker eine unentbehrliche Voraussetzung für die Rettung der Freiheit ist. Allerdings verlangt diese Solidarität auch eine richtige Einschätzung dessen, worauf es im jeweils gegebenen Fall ankommt. Man muß die Reihenfolge der Wichtigkeiten erkennen, und man muß unter Umständen auch die Bereitschaft zum Verzicht aufbringen. Daß die „Vereinten Nationen“ keine Vereinigung freier Nationen sind, muß ich nicht erst sagen. Zu den freien Nationen rechne ich die USA, einen Teil der übrigen amerikanischen Republiken, die westeuropäischen Staaten (mit Ausnahme Spaniens, worüber ich jetzt nicht reden will) und Japan. Damit ist es zu Ende. Indien kann ich nicht dazu rechnen, weil es ein allzu schwankendes und im Innern allzu ungefestigtes Gebilde ist.

Die von mir aufgezählten Staaten stellten ein so gewaltiges Machtreservoir dar, daß sie sich gegen jede Drohung behaupten können, solange sie solidarisch vorgehen. Aber zur wirklichen Solidarität gehört auch die Fähigkeit, eigene nationale Ansprüche zurückzustellen und im Konfliktfall die Hegemonie der führenden Macht im eigenen Lager anzuerkennen. Ich kann für das, was ich meine, ein historisches Beispiel anführen. Im 16. und 17. Jahrhundert erhoben sich die niederländischen Provinzen gegen die spanische Herrschaft. Eine von diesen sieben Provinzen hieß Holland. Sie war die mächtigste unter den sieben, und das wurde von den anderen, ohne daß sie darum ihre Gleichberechtigung in allen übrigen Fragen aufgegeben hätten, für die Dauer der Befreiungskämpfe anerkannt. Ähnlich sollten heute, da unsere Freiheit auf dem Spiel steht, die mit Amerika verbündeten Staaten in außenpolitischen Fragen nichts tun, was nicht zuvor mit diesem stärksten Bundesgenossen verabredet worden wäre. Als England und Frankreich in der Suez-Krise ohne Einverständnis Amerikas losschlugen, verstießen sie gegen die Solidarität. Vorher hatte Amerika den schweren Fehler begangen, den Vertragsbruch Nassers in der Frage des Suez-Kanals hinzunehmen und hatte auch sonst eine zögernde Politik betrieben, die ich noch heute für verfehlt halte. Aber für noch verfehlter halte ich den von England und Frankreich begangenen Solidaritätsbruch. Man hätte, um die Solidarität der freien Völker zu wahren, auch den Torheiten Amerikas folgen müssen. Ebenso hätten die Amerikaner, als ihre Verbündeten dann trotzdem losschlugen, ihnen zu Hilfe kommen müssen, statt gegen freie Nationen wie England, Frankreich und Israel gemeinsam mit Rußland Front zu machen. Hier haben wir ein besonders krasses Beispiel dafür, daß die Solidarität des Abendlandes noch gar nicht erreicht ist. Und wenn wir sie nicht bald erreichen, sind wir verloren.

Man braucht die Amerikaner nicht zu lieben. Aber man muß sie respektieren. Sie sind das Volk, mit dem man am besten reden kann. Sie hören zu, sie sind Vernunftgründen zugänglich, und sie haben den Willen zur Selbstbehauptung, den wir alle brauchen. Ohne die „fremden Besatzer“ wäre Deutschland wehrlos. Der nationale Stolz, der sich gegen solche Erkenntnisse sträubt, ist das eigentliche Gift für die westliche Solidarität. Er muß überwunden werden. Im Osten wird er durch Zwang und Terror überwunden (denn auch die Völkerschaften der Sowjetunion haben nach wie vor ihr eigenes Nationalstaatsgefühl). Wir im Westen haben die Chance, ihn aus freier Entscheidung zu überwinden. Wir müssen diese Chance ausnützen, solange es Zeit ist.

Nachgeben ist sicherer Untergang

Was geschieht, wenn der Gegensatz zwischen der solidarischen freien Welt und dem Kommunismus auf die Spitze getrieben wird? In Ihrer Schrift über die Atombombe formulieren Sie die Alternative: „Verlust der Freiheit oder Vernichtung der Menschheit.“ Sehen Sie in der gegenwärtigen Krise eine solche Gefahr ? Und was können wir tun, um ihr zu entgehen?

Die von mir gemeinte Alternative will eigentlich ausdrücken, daß im Falle eines Widerstandes die Möglichkeit totaler Vernichtung besteht und im Falle der Nachgiebigkeit des Westens die Freiheit mit Sicherheit verlorengeht. Zu irgendeinem Zeitpunkt werden wir zwischen der Gewißheit des Freiheitsverlustes und der Möglichkeit einer totalen Katastrophe zu wählen haben. Ich bin, wie Sie wissen, der Meinung, daß die Freiheit unlösbar zur Menschenwürde gehört. Was mit der Menschheit geschehen wird, wissen wir nicht. Aber wir wissen, worum es zu kämpfen lohnt. Und wenn wir die Freiheit preisgeben, um unser Leben vor der Atombombe zu retten, so müssen wir fragen, was für ein Leben es sein wird, das wir auf solche Weise gerettet haben; und ob wir ein solches Leben dann überhaupt noch als lebenswert empfinden können. Ganz abgesehen davon, daß die Gefahr der Atombombe damit noch immer nicht aus der Welt geschafft wäre. Niemand kann die Möglichkeit ausschließen, daß nach einem totalen Sieg des Kommunismus, also nach dem totalen Verlust der Freiheit, die beiden totalitären Großmächte Rußland und China miteinander in einen Konflikt geraten, in dem wir alle erst recht zugrundegehen würden. Kurzum: man entrinnt dem Atomtod nicht, indem man Freiheit und Menschenwürde preisgibt.

Lassen Sie mich noch etwas sehr Wichtiges hinzufügen: die Entschlossenheit, unsere Freiheit zu verteidigen, enthebt uns nicht der Verpflichtung, alles irgend Mögliche auf dem Verhandlungsweg zu erreichen. Da eine Änderung des heute gegebenen Machtzustandes und der heute gegebenen Grenzen nur durch Gewalt herbeigeführt werden könnte, müssen wir uns bis auf weiteres mit diesem Zustand und diesen Grenzen abfinden. So unerträglich es ist, daß ein Teil des deutschen Volkes oder das ganze ungarische Volk in Unterjochung leben (um nur zwei Völker zu nennen, die gegen das Joch zu rebellieren versucht haben) — ohne Krieg läßt sich nichts daran ändern. Und wir können, um einzelnen Völkern zur Freiheit zu verhelfen, nicht den Untergang der ganzen Menschheit riskieren. Es ist entsetzlich, so denken zu müssen, aber wir müssen so denken. Nur dürfen wir dann umso weniger die Freiheit dort preisgeben, wo sie noch besteht. Wenn man etwa die zwei Millionen Westberliner der Unfreiheit überließe, so wäre das der erste Schritt zum unweigerlichen Verlust der Freiheit aller. Es gibt einen Punkt, an dem man haltmachen muß.

Die Illusion der Wiedervereinigung

Aus ähnlich realistischen Erwägungen dürfen wir im jetzigen Zeitpunkt nicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands rechnen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß die Weltlage sich im Lauf der Jahrzehnte ändern wird, aber zunächst ist das nichts weiter als eine Hoffnung. Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Teilung Deutschlands eine Folge des von Deutschland verschuldeten Kriegs ist und die Forderung nach Wiedervereinigung eine Illusion. Auf Illusionen kann man verzichten. Damit gibt man etwas auf, das man sowieso nicht hat. Aber auf etwas, das man hat — zum Beispiel die Freiheit der zwei Millionen Berliner — darf man um keinen Preis verzichten. Der Kampf um die Erhaltung einer heute noch vorhandenen Freiheit ist jedes Risiko wert, der Kampf um Illusionen keines.

Um die furchtbare Alternative, von der Sie gesprochen haben, zu vermeiden, muß man die Weltmeinung entsprechend zu beeinflussen trachten. Denken Sie jetzt aber an die sogenannten „Entwicklungsvölker“ in Asien und Afrika. Diese Völker leben in unvorstellbarer Armut und Unwissenheit. Sie hungern. Brot ist ihnen wichtiger als Freiheit. Liegt hier nicht ein Grund, warum der Kommunismus in diesen Ländern so viele Anhänger findet? Was können wir tun, um in diesen Völkern den Wunsch nach Freiheit zu wecken und sie mit uns solidarisch zu machen?

Ich wollte, daß ich auf diese Frage eine Antwort wüßte. Es ist eine der wichtigsten Fragen überhaupt. Keinesfalls ist sie dadurch zu lösen, daß man diesen Völkern einfach Geld oder Materialwerte schenkt. Gewiß: wenn sie „Freiheit“ sagen, meinen sie bessere Lebensverhältnisse. Aber bessere Lebensverhältnisse hängen auf die Dauer von der eigenen Leistungsfähigkeit ab. Und dazu bedarf es wieder jener schrittweise erfolgenden Entwicklung, von der ich schon früher gesprochen habe. Das braucht Zeit. Und die jungen Völker sind ungeduldig. Sie wollen sofort „gleichwertig“ sein und haben das Gefühl, daß man ihnen dazu verhelfen müsse. Vor kurzem sah ich zufällig ein paar in Ghana hergestellte Ansichtskarten, aus deren Bildern und Texten hervorging, daß nach Auffassung der Ghanesen eine Reihe bedeutender Erfindungen dort gemacht und später von den Europäern gestohlen wurden. Auf diese Weise soll eine „Gleichwertigkeit“ mit dem Abendland hergestellt werden, die auch nicht annähernd gegeben ist.

Die Menschen sind nicht gleich

Überhaupt halte ich es für einen zwar weit verbreiteten und heute allgemein als selbstverständlich hingenommenen, aber doch für einen Irrtum, daß „alle Menschen gleich“ seien. Sie sind es nicht. Sie haben sehr verschiedene Fähigkeiten, frei zu sein, Leistungen zu vollbringen, Triebe zu beherrschen, ihr Leben zu ordnen. Man kann diese Unterschiede nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Es kommt darauf an, einen Erziehungsprozeß einzuleiten, der die Menschen zum richtigen Gebrauch ihrer Kräfte und ihrer Freiheit befähigt. Die bloße Verbesserung der Lebensmittelzufuhr ist eine Hilfe nur auf kurze Sicht. Sie ist etwa nach einer Naturkatastrophe geboten, oder wenn ein Freund plötzlich in Not gerät. Auf lange Sicht kann man nur Menschen helfen, die sich selbst helfen können. Eine solche Hilfe war etwa der Marshall-Plan. Er war kein Geschenk, sondern die Voraussetzung dafür, daß die Deutschen wieder arbeiten konnten. Aber wenn man den „Entwicklungsvölkern“ nur Geld oder Nahrungsmittel schickt, ohne dafür zu sorgen, daß sie auch Pflichtbewußtsein, Verantwortungsgefühl und Arbeitsethos entwickeln, so werden sie immer weiter Geld und Nahrungsmittel verlangen, und im übrigen wird sich an ihrem Lebenszustand nichts ändern. Ich finde das nicht hilfreich, sondern grausam.

Es gehört Mut dazu, solche Wahrheiten auszusprechen.

Es sind keine absoluten Wahrheiten. Ich würde sie eher als Realitäten bezeichnen. Nicht nur bei den einzelnen Menschen, auch bei den Völkern hängt viel davon ab, daß sie sich richtig einschätzen. In Wien wurde vor kurzem ein schwedischer Gelehrter zum Vorsitzenden der Atom-Energie-Kommission gewählt. Außer den Russen waren auch die Asiaten und Afrikaner dagegen; sie lehnten es ab, immer nur hin- und hergeschoben zu werden, und wollten einen Asiaten als Vorsitzenden. Ich weiß beim besten Willen nicht, was die Asiaten zur Atomwissenschaft beigetragen haben und auf welche Leistungen sich ihr Anspruch stützt.

Freiheitlicher Sozialismus

Noch eine letzte Frage. Um die freie Welt wirklich frei zu machen, bedarf unsere Gesellschaft eines neuen Ordnungsprinzips. Dieses neue Prinzip ist, wie Sie in Ihrem Werk „Ursprung und Ziel der Geschichte“ gezeigt haben, im Sozialismus der Freiheit zu finden. Ich wüßte gerne Ihre Meinung über die gegenwärtigen sozialistischen Bewegungen in Europa, zum Beispiel über die SPD und Labour Party.

Ich habe den Eindruck, daß die gesamte abendländische Entwicklung auf das hinsteuert, was wir „Sozialismus“ nennen. Diese Tendenz ist heute allen Parteien gemeinsam. Es wirken ihr nur noch ein paar törichte Hemmungen entgegen. Manche davon liegen auf Seite der Unternehmer, die aus geschäftlichen Gründen Bedenken hegen und — nicht ganz mit Unrecht — auf das Phänomen der Preisspirale hinweisen: wenn die Löhne erhöht werden, steigen auch die Preise, und das nimmt dann kein Ende, sagen die Unternehmer. Der Arbeiter sagt das Gegenteil, und manchmal kommt es auf diese Weise zu einer ganz vernünftigen Diskussion. Sie hängt allerdings davon ab, daß man im Gesprächspartner nicht um jeden Preis den Gegner sieht, sondern sich über die gemeinsamen Interessen im klaren ist.

Natürlich stößt man auch bei den Sozialisten gelegentlich auf törichte Gedanken, aber das wird zum Glück immer seltener. Von den einst für so wichtig gehaltenen Sozialisierungen ist man ja mittlerweile weitgehend abgekommen. Sie haben den Arbeiter nicht um eine Spur freier gemacht. In Europa und Amerika weiß der Arbeiter oft sehr viel mehr von Freiheit als der Kapitalist. Chruschtschew fand auf seiner Amerikareise den heftigsten Widerspruch und Widerstand bei den Gewerkschaften. Die Unternehmer verstanden sich mit ihm sehr gut und wollten mit ihm Geschäfte machen. In der deutschen Sowjetzone waren es ja auch die Arbeiter, die rebelliert haben. In Ungarn waren es die Arbeiter und die Intellektuellen. Nicht einmal das Schlagwort von der „Diktatur des Proletariats“ kann einen Arbeiter heute noch darüber täuschen, daß „Arbeiterregierungen“ in Wahrheit nur dazu da sind, um die Arbeiter zu unterdrücken.

Nein, der Sozialismus ist keine Parteisache mehr. Er ist ein uns allen gemeinsames Bestreben, bei dessen Verwirklichung wir hie und da noch schlimme Fehler machen aber das sind nur Detailfragen.

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