Heft 2/2001
April
2001

Großeltern der Interventionskunst oder Intervention in die Form

Rewriting Walter Benjamins „Der Autor als Produzent“

Sicherlich erinnern Sie sich nicht mehr daran, wie Plato im Entwurf seines Staates als vollendetes Gemeinwesen mit der Kunst verfährt. Er versagt ihr im Interesse des Gemeinwesens den Aufenthalt darin. Er hatte einen hohen Begriff von der Macht der Kunst. Aber er hielt sie für schädlich.

Daß Sie sich nicht mehr an Plato erinnern, macht gar nichts. Es gibt gerade in den Praxen partizipativer, aktivistischer, interventionistischer Kunst haufenweise Fälle, die Plato bestätigen, indem sie die Kulturalisierung und Ästhetisierung, damit Kaschierung von politischen Ungleichheiten betreiben und in ihrer Fürsorge für „wirkliche Menschen, wirkliche Neighbourhoods“ laufend das „Andere“ erst konstruieren. Ein beträchtlicher Teil der Kunstproduktion hat sich Anfang der 90er Jahre, nicht zuletzt unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen, wie durch die Einbrüche des Kunstmarkts im besonderen, dem Trend der Community Art zugewandt. Vielen der daraus entstandenen, sich selbst als „politisch“ verstehenden Projekte mangelte es in hohem Maß an der Reflexion der eigenen Arbeit, während sie vollmundig überschrittene Grenzen und die Kunst als soziales Heilmittel propagierten. Zum exemplarischen Vorzeigeprojekt wie zum paradigmatischen Punching Ball wurde in dieser Hinsicht für die USA Mary Jane Jacobs Sculpture Chicago — Culture in Action (1992/93) erhoben, in Österreich fungierten in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeiten von Christine und Irene Hohenbüchler in ähnlicher Weise.

Und geschrieben steht darüber auch einiges: Bei den gestrengen KritikerInnen und TheoretikerInnen des Interventionismus und Aktivismus, Marchart, Rollig, Kravagna, Höller, Kwon, Babias und anderen. Aber auch schon viel früher und sehr grundlegend in Benjamins beiden kleinen Kunstaufsätzen, besonders im 1934 als Vortrag im Pariser Institut zum Studium des Fascismus gehaltenen Autor als Produzent. Darin argumentiert Benjamin unter Anführung von Döblin, Heinrich Mann, dem Aktivismus-Theoretiker Hiller oder den ästhetisierenden Produkten der Neuen Sachlichkeit, daß ein erheblicher Teil der sogenannten linken Literatur gar keine andere gesellschaftliche Funktion besaß, als der politischen Situation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen. Eine Tradition, deren Aufgreifen übrigens im Kunstfeld des heutigen Österreichs eine exponentielle Steigerung von revolutionären Tönen hervorbrachte: Intendanten, Kunsthallenchefs, Kuratoren, die nach dem Sturm der Erregung über die Installierung der rechtsrechten Regierung im Februar 2000 schnell verstummt sind, nun ihr business as usual betreiben und Mitgliedern der Regierung, gegen die sie eben noch fundamental protestiert hatten, ihre Institutionen zu repräsentativen Auftritten öffnen.

Wie steht’s aber umgekehrt mit der positiven Aufladung des Politischen in der Kunst, mit den Erfolgen einer politisierten Kunst, mit effektiven Praxen der Intervention? Walter Benjamins Pariser Auftritt in der Höhle des Löwen, an einem volksfrontnahen Institut, in dem ästhetische Qualität dem Inhalt streng untergeordnet war, ist — paradoxerweise, so scheint es — ganz gegen die krude Utilitarisierung der Kunst, gegen reine Tendenzkunst gerichtet. Und gegen jede inhaltistische Instrumentalisierung der Kunst für die „richtige Politik“ jenseits von Überlegungen über Technik, Qualität und Form. Die Tendenz, der Inhalt kann nur stimmen, wenn auch die Form stimmig ist. Die inhaltlich richtige Tendenz muß eine formale Tendenz einschließen.

Diesem dialektischen Muster Benjamins folgend meine ich, daß gerade für produktive Spielarten von mikropolitischem Reformismus dem großen inhaltlichen Entwurf, der ins Vage geht und die Subjekte, sowohl die KünstlerInnen als auch ihre „Objekte“ in den Communities, in den Vordergrund stellt, diesem großen Entwurf also, die Intervention in die Form, die Veränderung der Strukturen vorzuziehen ist. Dazu ist im Sinne einer materialistischen Kritik vorab weniger zu fragen, wie ein Projekt zu den Produktionsverhältnissen steht, sondern wie es in ihnen steht. Was uns zu den von Benjamin beschriebenen Großeltern der Intervention bringt und dort vor allem zu einem, der in der Sowjetunion der späten 20er Jahre immer radikaler seine Kunstproduktion in konkrete mikropolitische Interventionen transformiert hat:

Sergej Tretjakow unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzugreifen. Er bestimmt sie, die Mission, durch die Angaben, die er über seine Tätigkeit macht: Als 1928, in der Epoche der totalen Kollektivierung der Landwirtschaft, die Parole: „Schriftsteller in die Kolchose!“ ausgegeben wurde, fuhr Tretjakow nach der Kommune Kommunistischer Leuchtturm und nahm dort während zweier längerer Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff: Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung von Wanderzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und Wanderkinos usw.

Hinter diesem auf den ersten Blick skurril anmutenden Sammelsurium an Tätigkeiten steht das Konzept einer radikalen Verschiebung der Positionen sowohl der Kunstproduktion als auch der Kunstrezeption. Auf der Seite der ProduzentInnen vollzieht sich eine neue Variante der Politisierung von Kunst durch die Erweiterung der künstlerischen Kompetenz, der Entwicklung neuer Formen zur Entwicklung von mikropolitischen Organisationsformen. Nicht in der zum Klischee verkommenen Widerständigkeit des autonomen Kunstwerks, aber auch nicht in der plumpen Tendenz des revolutionären Sujets, sondern in der Übersetzung der formalen Fähigkeiten der KünstlerInnen vom Kunstwerk auf die Organisationsformen der Gesellschaft liegt demnach die politische Bedeutung der Kunst. Der operierende Schriftsteller hat dabei die Aufgabe, produktive Ausgangsbedingungen herzustellen, Anstöße zu geben, Strukturen zu hinterfragen. „Tendenz“ erwächst dabei nicht aus der subjektiven Proklamation eines Besserwissenden, sie wird in den Erfahrungen der sich durch die „Literarisierung aller Lebensverhältnisse“ verändernden Wirklichkeit selbst erlebt.

Und an dieser Stelle bewegt sich das Argument Tretjakovs von der Funktion der ProduzentInnen auf die andere Seite, wo eine möglichst lawinenartige Metamorphose von KonsumentInnen in ProduzentInnen ausgelöst werden soll:

Jeder Mensch kann und soll [...] in jedes von ihm produzierte Ding jenes Maximum an Genauigkeit, klarer Kontur und Zweckmäßigkeit einbringen, das bis heute nur die sich in dieser Sache hingebenden Spezialisten besessen haben, die Formsucher, die Arbeiter der Kunst. [...] Die Freude der Verwandlung des Rohmaterials in eine bestimmte gesellschaftlich nützliche Form, verbunden mit dem Können und dem intensiven Suchen nach der zweckmäßigsten Form — das ist es, was die Losung ‘Kunst für alle‘ beinhalten sollte. Jeder soll ein Künstler sein, ein vollendeter Meister in der Sache, die er im gegebenen Moment tut.

Besonders die letzten Punkte der Aufzählung von Tretjakovs Arbeitsfeldern in der Kolchose verweisen auf die Bedeutung der Medien Zeitung, Radio und Film für seine Konzeption einer Kunst für alle: Von der Liquidierung des Analphabetentums über die Wandzeitung bis zur Wandlung des einfachen Arbeiters in den Korrespondenten der Pravda, das war das Konzept, das Walter Benjamin wohl ein wenig voreilig schließen ließ, in der Sowjetunion komme die Arbeit selbst zu Wort.

In der Beschreibung des Tätigkeitsfelds Tretjakows als Großvater der Intervention zeigt sich jedenfalls deutlich, was für Benjamin und auch für mich die wichtigsten Kategorien einer nichtinhaltistisch verstandenen Interventionskunst sind:

Die Tätigkeit der InterventionistInnen liegt erstens eindeutig im Präproduktiven, also neben und vor allem vor dem Werkcharakter. Das bedingt ein weitgehendes Ausfallen der Ausstellbarkeit von Produkten, des Zirkulierens im Kunstmarkt, der Notwendigkeit von Vermittlung.

Sie hat zweitens mit Eingriffen in die Form, in die Strukturen eines mikropolitischen Felds zu tun. Statt einer Arbeit an Produkten muß sie die Arbeit an den Mitteln der Produktion sein.

Drittens ist über die mikropolitischen Effekte hinaus der Modellcharakter maßgeblich, der anderen ProduzentInnen einen verbesserten Apparat zur Verfügung stellt, sie zur Produktion anzuleiten vermag.

„Was tun“ ist nicht nur der Name der Konferenz, anläßlich derer dieser Text entstand, [1] auch nicht nur einfach der Titel eines Aufsatzes von Lenin, es ist auch — wie Walter Benjamin erwähnt — eine Frage, die sich Alfred Döblin 1931 in Wissen und Verändern! gestellt hat. Döblins präkommunitaristischer Ansatz läuft im Wesentlichen auf einen Appell nach „Menschlichkeit“, „Toleranz“, „friedlicher Gesinnung“ und „Zusammenschluß der Menschen“ hinaus. Er begeht dabei in Überschätzung der eigenen — depolitisierenden — Funktion als „Geistiger“ „neben dem Proletariat“ und in Ermangelung einer Reflexion der eigenen Position im Produktionsprozeß denselben Fehler wie die aktuelle identitätspolitische Tradition, die sich der Hilfe für und Unterstützung von „benachteiligten Gesellschaftsgruppen“ und dem empowerment von Communities widmet. In diesen verunglückten Exemplaren der Community Art ist es gelungen, auch noch das Elend, die Ungleichheiten, indem sie auf modische Weise dargestellt werden, auszustellen, zum Gegenstand des Genusses, des Konsums zu machen, also den von Brecht formulierten Kardinalfehler noch zu übertreiben, einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn zu verändern. Während der Zielgruppe, Community oder Neighbourhood durch den Prozeß des othering eine begrenzende Identität vorgeschrieben wird, halten die beteiligten KünstlerInnen ihre phantasmatische Stellung als flexible, alles überblickende UniversalistInnen. Frei nach Benjamin geantwortet: Wenn Intellektuelle oder KünstlerInnen ihren Ort neben dem Proletariat suchen, befinden sie sich schon über ihm. Denn was ist das für ein Ort? Der eines Gönners, eines ideologischen Mäzens. Ein unmöglicher.

Wenn also im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld gefragt wird, was zu tun sei, ist jedenfalls vorauszusetzen, daß eine wie auch immer geartete Solidarität des/der spezifischen (als einzig modellhaft möglichem) Intellektuellen mit „dem“ Proletariat immer eine vermittelte bleiben wird. In der Nachfolge von Tretjakow und Co. wird es daher sinnvoll sein, sich nicht auf die Verbesserung der Menschen zu konzentrieren, sondern auf die Veränderung der Strukturen, die Ungleichheiten produzieren. Als Update der Brecht-Benjaminschen Forderung, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne ihn zu verändern, muß es nun heißen, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, sondern ihn zu verändern.

Literatur

  • Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Verlag der Kunst, Dresden/Basel 1995
  • Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen. Projekte/Ideen/Stadtplanungsprozesse im politischen/sozialen/öffentlichen Raum, Verlag der Kunst, Dresden 1998
  • Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1963
  • Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge (= Gesammelte Schriften, Band II 2), Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 690-701
  • Christian Höller, Fortbestand durch Auflösung. Aussichten interventionistischer Kunst, in: Texte zur Kunst, Nr. 20/1995, S. 109-117
  • Christian Kravagna, Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis, in: Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, S. 28-47
  • Miwon Kwon, Im Interesse der Öffentlichkeit, in: springer II/4, S. 30-35
  • Oliver Marchart, Von Proletkult zu Kunstkult oder Was Sie schon immer über kulturelle Hegemonie wissen wollten, aber in „Texte zur Kunst“ nicht finden konnten, in: Gerald Raunig (Hg.), Kunsteingriffe. Möglichkeiten politischer Kulturarbeit, IG Kultur Österreich: Wien 1998, S. 120-127
  • Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Passagen: Wien 1999
  • Gerald Raunig, Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands, Turia+Kant: Wien 2000
  • Stella Rollig, Das wahre Leben. Projektorientierte Kunst in den neunziger Jahren, in: Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, S. 12-27
  • Sergej Tretjakov, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts, Rowohlt: Reinbek/Hamburg 1972

[1Was tun? Interventionskunst und Aktivismus am 9.12.2000 im depot im Museumsquartier Wien

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