FORVM, No. 95
November
1961

Ihre Majestät die Zeitung

Es ist ein Verdienst des FORVM, daß es den Aufsatz von Jacques Hannak zur Diskussion gestellt hat. Durch die redaktionelle Einbegleitung wird dieses Verdienst allerdings erheblich entwertet. Man kann nicht gut die grimmige Betrachtung eines morastigen Feldes „provokant“ nennen. Auch dann nicht, wenn man dabei „getreu unserer diesbezüglichen Tradition“ verfährt. Provokant ist der Gegenstand, den Hannak sich vorgenommen hat. Nicht der Autor hat provoziert. Er hat nur auf eine schon lange währende Provokation hingewiesen und die ungesunde Ausdünstung, die sich aus diesem Morast erhebt und die öffentliche Luft verpestet, dem Sinne nach einen Gestank genannt. Daß Hannak dies getan hat, ehrt ihn, daß dies nicht schon viel früher geschehen ist, kann denen, welchen Reinheit und Würde der Presse als unerläßliche Voraussetzung für deren korrigierende Funktion in der Öffentlichkeit gilt, als Vorwurf angelastet werden.

Hannak hat es also getan, und ich stimme seinem Befund vorbehaltlos zu. Ich bin mit ihm nicht ganz einer Meinung, wenn es die hergangsmäßige Beschaffenheit zu untersuchen gilt, die zu dem miserablen Zustand eines großen Teiles unseres Pressewesens geführt hat. Es stimmt schon, der Leser hat in seiner Qualität nachgelassen; es drängt ihn nicht mehr in dem Maße wie früher zur echten Information, und sein Wille, Schein vom Sein auseinanderzuhalten, ist geschwächt, wenn nicht weitgehend überhaupt verschwunden. Er hat sich stattdessen der niedrigen Sensation verschrieben, dem Klatsch, der ungehörigen Neugier, der Zudringlichkeit ins Private, dem substanzlosen Gerede über alle Fragen und Erscheinungen unseres Daseins. Und ebenso gewiß gibt es die Kommerzpresse, die mit außerordentlichem Geschick diesem anscheinend nicht ausrottbaren niedrigen Verlangen mit ebenso niedrigen Erfüllungen nachkommt. Aber dieses Wechselspiel unterhalb jeden Niveaus hat es immer gegeben und wird es immer geben, solange es auch auf diesem Gebiet einen freien Wettbewerb gibt. Es ist gleichsam die Achillesferse der Pressefreiheit, und ich kann mir nicht gut vorstellen, wie man sie unverwundbar macht, ohne die Freiheit der Presse dreinzugeben. Das wäre doch ein zu hoher Preis. Man kann diese schändliche Gefahr nur einzudämmen versuchen, indem man sie ständig unter Kontrolle hält, unter der Selbstkontrolle verantwortungsbewußter Journalisten, und das ist ja der eigentliche hohe Sinn des österreichischen Presserates.

Lassen wir für einen Augenblick die Boulevardpresse. Über ihren Unwert sind wir uns einig. Eine andere Frage ist, wieweit dieser anfällige Leser nicht allmählich von der seriösen Presse verlassen worden ist, indem sie ihn, man verzeihe das scheinbare Paradoxon, besonders hofierte? Noch ist bei ihr dieser Leser nicht, wie bei der Boulevardpresse, der ungekrönte König aller dort Schreibenden, aber die Frage, wann er das ebenfalls sein wird, drängt sich unwillkürlich auf, wenn ich von dem „unterschwelligen Verlangen“ der breiten Masse lese, bei dessen Erfüllung man der Boulevardpresse hätte so zuvorkommen müssen, daß ihr „kein Raum“ mehr geblieben wäre.

Ich kenne die Weise. Den Inhalt und den Stil gleichermaßen „auflockern“, so heißt wohl das Zauberwort, dem auch die seriöse Presse seit Jahren gebannt lauscht und immer mehr nachgibt. Ist die Formel, „das unterschwellige Verlangen nicht rechtzeitig erkannt und befriedigt zu haben“, nicht ein anderer, wenngleich längerer Ausdruck für den gleichen Vorgang, der mit dem vorhin zitierten Zauberwort angestrebt wird? Gibt man dieser Devise nach, einerlei ob mit Bedenken oder bedenkenlos, sind die Folgen die gleichen und leicht vorauszusehen: man begibt sich auf abschüssige Bahn und schlittert ohne Halt rettungslos niederwärts. Denn man lockert damit auch seine Gesinnung auf, die Haltung zu den Fragen und Erscheinungen unserer Gegenwart wird zwangsläufig leger, und von da bis zur üblen Roßtäuscher-Methode, fünfe gerade sein zu lassen, sind es nur noch wenige Schritte. In der alten „Frankfurter Zeitung“, in der ich gelernt habe, gab es unter anderen auch den Grundsatz: Der Leser hat nur ein Recht, nämlich die Zeitung abzubestellen. Das mag so überspitzt wie frivol klingen, trägt aber eine Rechtfertigung in sich: die Unabhängigkeit vor dem Leser und die Bewahrung des Sachverstandes vor dem Terror dessen, der anschaffen kann, weil er bezahlt.

Leser als Gefahr

Der geschmeichelte, der hofierte Leser ist für die seriöse Presse eine Gefahr. Für diese Tendenz könnte ich einige Beispiele aus seriösen Zeitungen anführen, aber ich begnüge mich mit einem, das etwas außerhalb liegt, aber in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Tendenz steht. Es ist noch nicht so lange her, da wurde der österreichische Rundfunk wieder einmal zum Prügelknaben der österreichischen Presse degradiert. Den Anlaß dazu gab die Erklärung des Vorstandes, es sei notwendig, den monatlichen Beitrag des Hörers zu erhöhen. Es war nicht nur die Boulevardpresse, die daraufhin ihre stinkenden Breitseiten gegen den Vorstand und die Institution abgeschossen hat. An diesem Kesseltreiben beteiligte sich auch fast die gesamte seriöse Presse. Auch bei ihr sagte sich niemand, daß dieser Hörerbeitrag seit mehr als zehn Jahren trotz mehrfachem Anziehen der Preise und Löhne gleichgeblieben ist; niemand verwies auf die ungesunden Relationen, die in diesem Lande anscheinend im Begriffe sind, sich ein Bürgerrecht zu erwerben, und die doch so leicht und deutlich sichtbar zu machen wären, mit dem Hinweis etwa auf die Kosten einer Tramwayfahrt, den Preis einer Kinokarte oder eines seriösen Sonntagsblattes. Niemand machte geltend, daß der Vorstand aus Vertretern der beiden Parteien zusammengesetzt ist und solche Grundsatzerklärungen nur einstimmig gefaßt werden können. Es gab nur üble Verdächtigungen und Verleumdungen in allen Nuancen und Graden, die von der einen Seite nach der anderen gezielt wurden, und daneben und darüber die fast unappetitliche Schmeichelei um die Gunst des Hörers, wiederum nach dem Spruch: wer zahlt, schafft an. Läßt man den Hörer, dieses vieltausendköpfige Ungeheuer, ungehindert planen und schalten, landet man unweigerlich beim „Wunschkonzert“. Die Entsprechung beim Leser kann Hannak jede Woche in der Rubrik „Unsere Leser schreiben“ in der eigenen Zeitung finden. Dort geht es nicht viel anders zu als beim „Wunschkonzert“.

Seriosität, Qualität, was ist das nun? Die Geschmäcker seien verschieden, hört man es von allen Seiten schallen, und beim Himmel, es gibt kaum noch einen anderen Spruch, bei dem die erbärmliche Dürftigkeit und Banalität so klar zutage tritt wie gerade bei diesem. Es kann hierauf nur eine Antwort geben: zuerst müssen Fragen der Qualität geklärt sein, ehe man auf den persönlichen Geschmack zu sprechen kommt, und unterhalb dieser Qualitätsgrenze darf es diesen persönlichen Geschmack einfach nicht geben. Oder ein geistiges Tun hört auf, geistig zu sein.

Die Qualität einer Zeitung läßt sich wohl am besten an einer Gesinnung ablesen, die ihre Blutprobe in der täglichen Konfrontation mit den seit langem ausgebildeten, allgemein gültigen Begriffen der Redlichkeit und Treue zu bewähren hat; sie wird sich ablesen lassen von ihrer Haltung zu den Grundfragen des Lebens; von daher wird auch zu bestimmen sein, wieweit sie außer der genauen und unvoreingenommenen Information des Lesers noch imstande ist, zu untersuchen und festzustellen, wie die Substanzen unserer Zeit gelagert sind und ob und nach welchen Absichten sie sich verändern. Sie wird, je nachdem das Ergebnis dieser Untersuchung ausfällt, überzeugend zu warnen oder beizupflichten wissen. Und die qualitätvolle, seriöse Zeitung wird täglich zu beweisen haben, daß die Sprache, ihr Handwerkszeug, rein erhalten bleibt, daß sie gestanzten Modewörtern aus dem Wege geht und diese durch frische, unverbrauchte ersetzt; sie wird immer und überall die Anstrengung zeigen, durch ihre Sprache Grundsituationen spürbar und sichtbar zu machen; sie wird zeigen, daß in dieser unermüdlichen Auseinandersetzung zwischen Sprache und Jargon der Mensch, der Geist, das Leben selbst verteidigt werden.

Der fehlende Druck

Wir leben in einer lauen Zeit, ein öffentlicher Geist, der uns mitzureißen vermöchte, ist kaum zu vernehmen. Sollte das nicht auch auf einen Mangel, auf ein Versagen der seriösen Presse zurückzuführen sein? Ich erinnere mich mit einiger Wehmut an das Wirken der „Arbeiter-Zeitung“ während der Besatzungszeit; sie sprach für alle, die zu leiden und zu fürchten hatten, und sie setzte sich damit ein ehrendes Denkmal. Muß auf uns wirklich ein Druck liegen, damit Gesinnung mit Qualität sich verbindet und Menschliches offenbart?

Die Losung in lauen Zeiten hieße also besser: nicht „auflockern“, sondern in Wahrung der Qualität dichter zusammenschließen, eine Konklave bilden, die sich von der Entartung der Boulevardpresse in allem deutlich abhebt. Diese Losung sollte für die Parteipresse jeder Couleur gelten und auch die Haltung der unabhängigen Presse bestimmen. Die Verpflichtung zur Qualität, ihre unerbittliche Bewahrung ebnet die politischen Gegensätze keineswegs ein. Sie läßt sie nur schärfer hervortreten.

P.S. Wer vermöchte die Empfindungen nicht zu begreifen, die in einem Mann wie Jacques Hannak beim Lesen des „Heute“ aufsteigen und sich ausbreiten müssen. Man verzeihe diese private Bekundung, aber es sei ihm dazu gesagt, daß ich dieser Wochenschrift nicht einmal eine Berichtigung, geschweige denn einen Aufsatz zum Abdruck überlassen würde.

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