FORVM, No. 473-477
Juli
1993

Im Narrenturm der Philosophen

Michael Benedikt (Hrsg), Verdrängter Humanismus — verzögerte Aufklärung, Verlag Turia und Kant, Wien 1992, 959 Seiten, öS 460

Vor vielen Jahren hatte alles ideal begonnen: Es gab die Idee, Studenten wieder in jene Universität zu integrieren, die ihren Lehrbetrieb je nach Fakultät ausgelagert hatte. Ja, die Studenten sollten auch jenes Maß eigenständiger Forschungsarbeit verrichten dürfen, die ohnehin geleistet, der aber das geistige Ursprungszeugnis vorenthalten wurde. Die Universitätsreform der 70er Jahre und die Agilität der Wissenschaftsministerin ermunterten in den verschiedensten Fächern die Studenten, die in Aussicht gestellte Förderung studentischer Forschung auch in Anspruch zu nehmen. Das war keineswegs überraschend, auch wenn Realisationen erst 15 Jahre später in Angriff genommen wurden, denn im allgemeinen waren die Leistungen des Universitätspersonals nicht so leicht von jenen der Studenten zu unterscheiden. Dieses Ansinnen war auch nicht damit zurückzuweisen, nun würden schon jene Wissenschaft machen, selbst wenn sie sie erst studieren. Kurzum: Als im philosophischen Seminar sich eine Gruppe konstituierte, um eine österreichische Geschichte des Philosophierens darzustellen, war diese auch von den genannten Motiven begleitet worden. Professor Benedikt erhielt die informelle Leitung dieses Projekts, die Aufgabe der Koordination der einzelnen Themen und Autoren. Das war alles recht vernünftig.

Es war eben anfänglich eine ideale Geschichte, die mit Idealismus begann. Mit der Unterstützung durch die Gremien der Fonds zur Forschungsförderung war auch Geld ins Haus gekommen. In der Regel hat dieser Umstand eine paradoxe Wirkung: Kaum kassiert, sinkt die Begeisterung für die Thematik und deren Bearbeitung. Kaum daß man die präsumptiven Autoren gesehen hat, waren sie auch schon verschwunden. Der Zustand des „Projekts“ war vor mehr als vier Jahren etwa im vergleichbaren Zustand wie Österreich zur Zeit der schlesischen Kriege. Der einzige, der nun mit diesen unglücklichen Bedingungen und Resten aus hochfliegenden Plänen übrig geblieben war, war Michael Benedikt. Als Leiter eines Projektes hatte er eine Verantwortung, zu der sich die Pläneschmiede der ersten Stunde nicht veranlasst sahen.

Da dieser Umstand eines philosophischen Projektes aufs Haar den politisch-militärischen Bedingungen des Untersuchungszeitraumes glich, war also jener Reformgeist aufzubieten, der für Österreich immer schon Paradigma war: Um die Pläne in ihrer ursprünglichen Absicht zu belassen, muß alles anders werden! Michael Benedikt ernannte die Herren Wilhelm Baum und Reinhold Knoll zu Mitarbeitern und versah sie auch gleich mit jenen Epitheta, die für das 18. Jahrhundert ein Zeichen waren: Haugwitz und Kaunitz.

Wie schon in der Verwaltungsreform war vorerst ein ideeller Kassasturz zu machen. Dieser fiel überraschend dürftig aus. Die Einberufung des vormaligen Teams war etwa so erfolgreich wie die Einberufung eines Reichstags — es erschienen nur jene, die mit der Arbeit noch Interessen verbanden. Zur Aktivierung wurden schließlich Symposien anberaumt, die auch viele Ergebnisse brachten, ihre Intention war es aber, zu retten, was noch zu retten war. Professor Benedikt hatte dadurch einen Überblick zu organisieren begonnen, der schrittweise die nicht-gehaltenen Zusagen durch verbindliche ersetzte und damit war eine Professionalität angepeilt worden, die sich den Problemen des Themas stellte.

Doch wie in der politischen Wirklichkeit war auch im Projekt die Frage aufgetaucht, was denn überhaupt das Merkmal des Philosophierens in Österreich war? Gibt es eine österreichische Philosophie? Die heftigen Auseinandersetzungen waren von einer Menge grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten begleitet. Es gibt ja die Tradition einer offiziellen Philosophiegeschichte, die aus Faktenpositivismus besteht und das für österreichisch gelten läßt, was nicht nur in den enger oder weiter gefaßten Grenzen der österreichischen Republik an Philosophischem entstanden war, sondern auch hin und wieder nur das zu Österreich gehörig akzeptiert, sollte sich die Koinzidenz von Aufenthaltsort, Sozialisation und Staatsbürgerschaft ermitteln lassen. Diese Einschätzung wurde im Projekt zu korrigieren versucht.

Eine andere Frage war, ob es denn diese Eigenständigkeit des Philosophierens gab? Zumeist ist doch die Philosophie in Österreich von weitaus mächtigeren Geistesentwicklungen überschattet, sodaß die Bezeichnungen einer genuinen und originellen Philosophie für Österreich erst ab 1870 einsetzen. Es war das Ziel der Herausgeber, sogar die Untiefen des Philosophierens in Österreich als einen markanten Punkt anzunehmen, ja gerade die Frage zu erörtern, warum etwa diese Tugenden des Denkens nicht diese Ausprägung erfuhren wie in Königsberg, Weimar oder Göttingen und Tübingen? In der Bestandsaufnahme im Zuge der Projektreform mußte man erkennen, daß Michael Benedikt gerade zum Zeitpunkt gesamteuropäischen Aufbruchs in die Aufklärung den Zusammenbruch der philosophischen Tradition nach Leibniz feststellte, eine Unterbietung dieses Standards, jedoch in Österreich anscheinend andere Qualitäten gefragt waren. Es war auch in Österreich kritisch philosophiert worden, ebenso auch amateuristischer, aber mit einem starken Hang zu Realismus und Nähe zum Wiener Hof.

Alle diese, hier nur meritorisch nacherzählbaren Aspekte waren bald zu Themenkatalogen angewachsen und verboten zugleich eine Geschichte einer Philsophie als besonderer Teil von Landeshistorie. Es war eben einerseits der Fall, daß jene Phänomene dominierten, die dem Projekt den Titel gaben, andererseits rumorte es gewaltig, gerade wenn man an die Vereinigungen der Freimaurer und Illuminaten denkt. Es mußte sich also ein Spezifikum entwickeln lassen, das sowohl der Aufgabe gerecht wird, für österreichisch genommen zu werden — und dafür gab es bislang immer die bösesten und ironischsten Kommentare —, als auch die Leistungen zu sondieren und für diese Erklärungen zu finden, selbst wenn sie nicht direkt Zugang zum Olymp der Philosophie erhielten. Diese Größe im Kleinen erlaubte also doch eine nicht unwichtige Gedankenarbeit inmitten eines Landes, was oft übersehen wird, wird doch die Qualität grundsätzlich an Erfolgen gemessen. In dieser Hinsicht hatte es selbst in Österreich immer gewaltige Wissenschaftserfolge gegeben, selbst wenn es hiefür noch keine entsprechenden Vergrößerungsgläser gibt.

Dieser Rückblick auf die Rekonstruktion von unbekanntem Denken kann also nicht über jene Achse der Bedeutungen und im Koordinatensystem von Werk und Wirkung erklärt werden, sondern findet im Impressionismus der Darstellungen einen adäquaten Stellenwert. Die Dickleibigkeit des Buches verlangt daher nicht, daß alles der Reihe nach gelesen wird, sondern stellt in sich schon ein Ensemble her, das leicht für österreichisch genommen werden kann. Es ist alles da, alles hat seinen Widerhall oder gar seine Nachahmer gefunden, doch vermutlich alles immer etwas langsamer, vorsichtiger, und mißtrauischer als andernorts. Im Projekt kann man daher bis zur Groteske gesteigerte Erwartungen, Hoffnungen lesen und zugleich von der wenig zufriedenstellenden Ausbildungssituation an den Hochschulen. Diese retardierenden Momente in der Beschleunigung zur Aufklärung waren gleichzeitig auch Merkmal der nun eintreffenden Beiträge gewesen. Diese zeigten sich im Gewand einer Wissenschaftssprache, die immer einer blutigen Korrektur unterzogen werden mußte. Tintenblau und -rot waren Manuskripte überzogen, tagelang waren sie zu verbessern. Also konnte der Eindruck entstehen, daß Wissenschaftlichkeit verkehrt proportional zur Dürftigkeit im schriftlichen Ausdruck steht und darf nebenbei als Frage formuliert werden, ob denn das auch ein Merkmal des Östereichischen ist?

Die Sammlung der Manuskripte war ähnlich heiter wie die Leitung eines Flohzirkus. Da gibt es Autoren, die das unmittelbare Eintreffen ihrer Manuskripte versprechen und man weiß, daß dies niemals der Fall sein werde. Andere wiederum wurden um Kürzungen gebeten, worauf sie tief erzürnt sind, lieben sie doch ihren Text mehr als das eigene Fleisch und Blut. Sagen sie Kürzungen zu, erscheint nach Wochen ein leicht veränderter, aber noch längerer Text. Das alles wäre nicht so schlimm, gäbe es nicht andere Autoren, die einfach die Lust am Schreiben verloren. Die Schriftleitung war deshalb vielleicht die mühevollste Arbeit. Wenn nun dennoch ein Band vorliegt, der noch weitere ankündigt, so deshalb, weil alles letztlich wider Erwarten verlief. Sind in Österreich Förderungen und Subventionen immer schon die subtilsten Hemmnisse und Hürden gewesen, so wurde die Drucklegung von jenen Verzögerungen heimgesucht, mit denen schon die Aufklärung Bekanntschaft schließen mußte. Verdrängt hingegen mußten jene Texte werden, die den Umfang eines mittleren Telephonbuches endgültig gesprengt hätten. Insgesamt war also die Behandlung der Autoren schwierig und benötigte diplomatisches Geschick.

Und was war und ist nun wirklich das Besondere an dem Band? Vermutlich kann man die Sammlung unterschiedlichster Beiträge und Themen, selbst wenn sie nicht unmittelbar etwas Philosophisches reflektieren wollen, wo es nichts Philosophisches gab außer Lebensklugheit, schlechte Erfahrungen und trübe Erinnerungen, als die beste Verkörperung der Philosophie in Österreich dramaturgisch nahebringen. Es ging nicht darum, ob nun auch in Wien eine Art Kant gesessen wäre, nur verkannt und daher zu exhumieren und herauszuputzen als philologische Kuriosität, vielmehr die Spielart geistiger Verfaßtheit zu demonstrieren. Sie war zuerst in deplorabler Schlichtheit geboten, schließlich vom Flair der Internationalität umgeben, um dann wiederum in die Enge des Biedermeier zurückzuführen. Diese sonderbare Wegstrecke berührt bald Künste, bald andere Wissenschaften, bedient sich noch des barocken Wissens, um es wieder simplifiziert in Burlesken zum Vorschein kommen zu lassen. Es ist nicht Philosophie der gestrengen Observanz, hingegen Philosophie, die — gemäß Ingeborg Bachmanns Darstellung — von den Schlachtbänken der Geschichte übrig blieb und eine geistige Landschaft nicht von besonderer Art, sondern mit mehr Eigenarten geschaffen hatte.

Die Entstehung des Bandes war zu keinem Zeitpunkt begünstigt und schon gar nicht beschleunigt worden. Bald das Bangen um Projektverlängerung belehrte über den ungebrochenen bürokratischen Absolutismus, bald die Sorge, ob der Druck zu Lebzeiten gelänge, rechtfertigte die Schlußfolgerung, daß in Österreich eine freie Marktwirtschaft oder das Konzept einer Leistungsgesellschaft immer schon leeres Gerede war. Also erlitt eine Philosophiegeschichte ihre Themen am eigenen Kenntnisstand der Dinge.

In welchem gewaltigen Trugschluß würde sich aber erst derjenige aufhalten, würde er der Meinung sein, eine gelungene Aufklärung hätte Österreich verändert oder gar Philosophieren verbessert. Unvermeidlich würde ihm das österreichische Antlitz entgegengrinsen. Bereits am Titelbild ist der Versuch einer Antwort angeboten: der Narrenturm!

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