Weg und Ziel, Heft 5/1997
Dezember
1997

In den Niederungen des Parnass

Also reitet er fort und erhebt auf
Kunst keinen Anspruch;
Bald mal sitzet er so,
bald auch wieder mal so
(Wilhelm Busch, Silen)

Vorausgesetztes und Mitgedachtes

Die bürgerliche Gesellschaft zeigt sich auf ihrer Oberfläche als zerteilt in scheinbar autonome Sphären, die einander dichotomisch, hierarchisiert und kaskadiert gegenüber stehen. Wir kennen diese Gegenüberstellungen aus dem Alltagsleben ebenso wie aus der Theorie; Mann und Frau, Öffentlichkeit und Privates, Arbeit und Freizeit, Natur und Kunst und andere sorgsam differenzierte Bereiche bürgerlichen Lebens [1] sind uns in Fleisch und Blut übergegangen, und diese Trennungen erheischen im Prinzip keinerlei weitere Aufmerksamkeit. Wir können uns ohne Reflexion darüber in unserer Existenz zurechtfinden. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber natürlich, daß Karl Marx seine Analyse der Warenform — also des Pudels Kern bürgerlicher Vergesellschaftung und Geselligkeit — gerade wieder mit so einer Dichotomie scheinbar autonomer Sphären beginnt: der Spaltung von Tauschwert und Gebrauchswert. Und so stellt sich die Frage, ob nicht alle anderen Ableitungen von Sphärentrennung entlang dieser ursprünglichen Aufhebung von Einheit in eine getrennte Betrachtung dessen, was wert ist und was nicht, zu geschehen hätten.

Ich lasse diese Frage zunächst unbeantwortet. Ich stelle hier nur eine nicht weiter ausgearbeitete Behauptung auf; es lässt sich aber im Verlauf des Aufsatzes wohl erkennen, daß diese Arbeitshypothese von Sphärentrennungen und ihren jeweiligen Zuordnungen zur Gebrauchswert- oder Tauschwertseite durchaus praktikable Ergebnisse erlaubt. Zur Scheinbarkeit der Autonomie von Tauschwert und Gebrauchswert bitte ich, sich bei Gerhard Scheit, Der Fetisch des Gebrauchswerts, in »Streifzüge« 2/1996 und Franz Schandl, Vom Fortschritt in der Geschichte über den Wert zum Gut, in »Weg und Ziel« 1/1997 schlau zu machen. Auf jeden Fall möchte ich aber auf Roswitha Scholz, Der Wert ist der Mann, in »Krisis« 12/1992 verweisen, die in ihrer Arbeit eine eindeutige Zuordnung innerhalb dieser Sphärentrennung — hier in der Geschlechterfrage — trifft: Tauschwert korreliert mit Mann. Und so möchte ich, angeregt durch ihre Gedanken, diesen Faden weiterspinnen. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß uns die Sphärentrennung nicht nur dichotomisch, sondern auch kaskadiert entgegensteht. Um im Bild von Frau Scholz zu bleiben, die Dichotomie von Mann und Frau wird auf’s Vielfältigste gebrochen und durchgeführt durch weitere ihrer Art, etwa Kind — Erwachsenes, erwerbstätig — arbeitslos, Zugehörigkeiten zu in sich wieder gebrochenen strata wie Arbeit und Kapital, etc. Und es scheint mir erlaubt, dem in der Krisisdebatte so bezeichneten Abspaltungstheorem insoweit zu folgen, als ich die Zuordnung zu Tauschwert und Gebrauchswert auf die scheinautonomen Sphären bürgerlicher Vergesellschaftung zu verlängern trachte.

Der lange Weg zur Marktfähigkeit

Kunst als Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, getrennt von Natur, ist der Gebrauchswertseite zuordbar; zunächst meint Kunst nur das Repräsentieren, den Blick der Gesellschaft auf sich selbst, ihre Selbstdarstellung mit künstlichen Mitteln. So bleibt Kunst überhaupt auf dem Nährboden vorbürgerlicher Gesellschaft und durch die Genese der bürgerlichen hindurch lange Zeit von der Marktproduktion abgespalten, das künstlerische Produkt ist, während das industrielle Produkt (die Veredelung des vorgefundenen natürlichen Rohstoffs) zur Warenform und zur Bewährung auf dem Markt drängt, von dieser Entwicklung abgeschnitten, ja eine Entwicklung in diese Richtung ist untersagt. Kunst dient zunächst nicht den Kunstschaffenden, um mit der Ausübung ihrer Tätigkeiten ihr Leben zu fristen, Kunst dient den Auftrag Gebenden zu ihrer Darstellung und Erbauung. Rechstitel am Kunstwerk durch die Schaffenden entstehen nicht, werden sogar ausdrücklich unterdrückt. So war Eigentümer der Schöpfungen Haydns, die unter diesem Dienstverhältnis entstanden, Fürst Eszterhazy. Die Tafelbilder der Portraitisten gingen sofort in die Repräsentation des Senats, des Salons, des Hofes oder der Privatwohnung über. Kein Museum, kein Verlag, keine Agentur vermittelte den Künstlerinnen und Künstlern Rechte an ihren Schöpfungen, die Werke waren direkt an Gebrauch, das heißt an Anschauung und Repräsentation gebunden, im weitesten Sinn des Wortes also nicht einmal Sache der Künstler. Ein öffentliches Publikum, das für die Werke so etwas wie Marktfähigkeit herstellen konnte, öffentliche Galerien, Museen und Konzertsäle, gab es lange Zeit nicht. Bloß das Theater machte eine Ausnahme, indem es nicht nur Werke sondern auch Öffentlichkeit produzierte, aber das Theater war schlecht angesehen. Dennoch muss es eine erstaunliche Rolle für die bürgerliche Kunstentfaltung gespielt haben. [2]

Kunst kann aber nur durch die Entwicklung der Warenproduktion selbst als der Gebrauchswertseite verhaftet manifest werden. Wenn denn also der Gebrauchswert als Repräsentationsfonds der bürgerlichen Gesellschaft die Kunst in ihrer Gesamtheit (Schöpfung und Schöpfende inbegriffen) als ihm anhängend beansprucht, tritt gleichzeitig das Kunstwerk selbst aus seiner vorbürgerlichen Wertlosigkeit in die bürgerliche Geselligkeit ein und beginnt wie jedes Produkt, sich mit seinen Meistern nach der Tauschwertseite umzusehen. Vor allem die Entwicklung des Verlagswesens sorgte für eine gründliche Veränderung der geschaffenen Werke und der künstlerischen Persönlichkeit. Wurden einerseits die Werke marktöffentlich, erschienen andererseits die Dichter, Komponistinnen, Virtuosen, Malerinnen, etc. als Subjekte, die ihre Produkte zu verkaufen, Rechte an ihrer Produktion geltend zu machen trachteten.

Wenn also Marktöffentlichkeit für das künstlerische Produkt dieses zur feil zu bietenden Ware macht, werden gleichzeitig die Schöpfenden gezwungen, ihr Überleben nicht mehr von feudalen Abhängigkeiten gesichert zu sehen, sondern es an die Geldmaschine zu binden. Sie arbeiten für Verlage und Galerien, sie kontraktieren Orchester und Museen, sie erheben Anspruch darauf, nicht zuletzt an ihrem in Geld nachweisbaren Erfolg gemessen zu werden. Das Kunstwerk beginnt nun seine Wanderung durch die Gesellschaft. War es früher Privatsache, eine intime Abmachung zwischen Auftrag Gebenden und Ausführenden, eine Abmachung auf Treu und Glauben, so erscheint es hinfort als Beliebiges, aus der Verfügung der Schöpfenden Auftauchendes, willkürlich als Kunst Bezeichnetes, das seine Bewährung und Berechtigung erst auf dem Markt suchen muss. Die vormals klar geregelte, idealtypisch harmonische Beziehung zwischen Künstler und Nutznießer ist zerbrochen und muss über den Markt erst wieder hergestellt werden. Natürlich war diese Beziehung nur idealischerweise harmonisch. Auch Tizians Assunta war ein Skandal; hatte der Maler es doch gewagt, der katholischen Ikonographie in’s Gesicht zu schlagen und zu malen, als würde die Frau aus freien Stücken in den Himmel auffahren und nicht von Gott gerufen. Und auch der Skandal der sixtinischen Kapelle mit den vielen Nackten gehört heute zum Anekdotenschatz, aus dem die Vorstellungen vom unverstandenen Genie gespeist werden. Dennoch sind diese Irritationen zwischen Auftrag Gebenden und Ausführenden anders zu bewerten als der Skandal, den wir aus unserer Zeit, richtiger aus der Zeit unserer Großeltern, kennen.

Kunst als Unternehmen — die Ausbildung der künstlerischen Charaktermasken

Das Kunstwerk steht nun Betrachtenden gegenüber, die erst auf dem Markt gefunden werden müssen. Gleichzeitig verändert sich die Situation der Künstlerinnen und Künstler. Ungesichert, aus den feudalen Bindungen gelöst, verfügungsberechtigt über ihre Arbeitsprodukte, müssen sie sich auf dem Markt umsehen und ihr gesellschaftliches Ansehen wie ihr individuelles Überleben durch Geldmachen verdienen. Eine nicht zu unterschätzende Konsequenz aus dieser neuen Stellung ist, was nun als künstlerische Freiheit bekannt werden soll und im übrigen mit der unternehmerischen Freiheit korrespondiert. Die Bilder, die nun entworfen, die Lieder, die nun komponiert, die Geschichten, die nun erzählt werden, transportieren nicht mehr nur die vom sozialen Konsens genormte Sicht der Gesellschaft ihrer selbst. Der alte soziale Konsens ist jetzt gebrochen und wird wieder neu hergestellt vermittels des Wirkens Einzelner.

Als Einzelne gekennzeichnet, verfasst und gerufen, aus ihrem Wirken ein jedes für sich zusammen mit all den anderen die neue Ordnung zu schaffen, stellen sie diese auch im Künstlerischen her. Was früher gottgegeben, von säkularen Instanzen dieses Göttlichen garantiert und verbreitet war, unterliegt nun der Kompetenz Einzelner; als Schaffende und Betrachtende einigen sie sich darüber, ob die in den Kunstwerken geronnene Sicht auf Natur und Gesellschaft korrekt ist, ob die dadurch vermittelte Vorstellung von Schönheit auch zur Erbauung und Zerstreuung führt, als Kaufende und Verkaufende über den Wert der dargebrachten Kunstwerke.

Die sich selbst verantwortlichen Individuen, Künstlerinnen wie Künstler, bringen Werke auf den Markt, die oft den lange tradierten Vorstellungen von Schönheit, Wohlklang, Verständlichkeit und Verständigung nicht entsprechen; dennoch erheben sie den Anspruch, als Schöpfende gesellschaftlich anerkannt zu werden, durchaus im Gegensatz zu einem fallierenden Fabrikanten. Hier wird die kapitalistische Gebrauchswertseite wieder deutlich sichtbar: wenn schon das Kunstwerk, seiner allgemeinen Gültigkeit entkleidet (und dafür mit der Aura des Originals entschädigt), seine höheren Weihen nur noch auf dem Markt erfährt, dürfen wenigstens die Schöpfenden einen Abglanz dieser allgemeinen Gültigkeit auf sich ziehen. Wenn auch ihr individuelles materielles Schicksal durch eine neue gesellschaftliche Anerkennung noch nicht gemildert wird, entsteht doch in der Übertragung des Heiligen vom Werk auf die Person eine Art Rekompensation für den Verlust der Sicherheit, die das Aufgehobensein im Kunstwerk und seinem Raum für die Künstlerinnen und Künstler bereit hielt. Wer an Hof und Kirche gebunden war, war gesichert und sein Werk ad majorem gloriam dei. Wer diese Bindungen aufgab, zu namentlichem Ruhm und eigenem Gewinn zu arbeiten begann, hatte — durch die Jahrhunderte bürgerlicher Geselligkeit — eine Reihe von Entwicklungen der künstlerischen Persönlichkeit zu durchlaufen: vom sich selbst bildenden, alles lernenden Enzyklopäden der Renaissance über die gebildeten Gestalten der Klassik und die Typen des Sturm und Drang, die diese Bildung zu verweigern begannen, bis hin zu den armen Poeten und der Boheme; Persönlichkeitsentwicklungen, die aber alle das selbe Ziel und die selbe Grundlage haben: das eigenverantwortliche, solitäre, schöpferische Genie.

Immer mehr gehen dabei Künstler und Kunstwerk auseinander, bis cum grano salis am Ende das marktöffentliche Werk nicht mehr verstanden wird, hingegen jedes noch so sonderbare bis asoziale Verhalten der Künstler goutiert wird. Die Geschichte der Moderne ist voll von Beispielen dafür, James Joyce mag also herhalten. Wahrscheinlich gibt es mehr LeserInnen von Biographien über den Dichter als seiner Werke, mehr LeserInnen von Abhandlungen über die sexuelle und poetische Ausbeutung seiner Frau als des Monologs Molly Blooms (alles in allem weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin allzu viele Menschen, aber ich könnte zumindest eine Krimiautorin anführen, die ihre Kritik der Moderne durch eine Detektivgeschichte einem breiteren Publikum zugänglich macht). Schließlich wird noch die Akzeptanz des schrillsten Auftretens zum Gütesiegel für die unverstandenen Werke, und wer dieses Spiel zu spielen nicht bereit ist, wird mit der Formel des unverstandenen Genies, das mit Würdigung nach seinem Tod zu rechnen habe, abgespeist. Jedenfalls ist Glanz und Repräsentanz, die Darstellung der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft nicht mehr an’s Kunstwerk selbst gebunden, sondern an dessen Schöpfende; der Gebrauchswert tritt an deren Personen rein zutage. Der Inhalt der Werke selbst verliert sich zusehends in’s Rätselhafte, erklärlich nur noch für eine geringe Zahl von Adepten, Spezialistinnen, Bewunderern und Kritikerinnen, was den Tauschwert gegen Null triebe, wäre da nicht die verehrte Person, die im doppelten Sinn ihr Werk verkauft.

Das auseinander Treten von Künstler und Kunstwerk geht aber auch nach der anderen Seite. Die Werke verkaufen sich so gut, dass die Schöpfenden hinter dem Verkaufserfolg verschwinden. Der Anreiz des Gewinns bringt die Nachahmer in’s Spiel, die ebenso verwechselbar sind wie ihre Massenprodukte. Wer den originalen Röhrenden Hirsch für die Schlafzimmerwand geschaffen hat, ist wohl heute unbekannt (außer vielleicht einem Anwalt). So verhält es sich auch mit Stammbuchpoesie und Schlagerkomposition. Da gibt es keine Rätsel außer der Frage nach den KünstlerInnen; ein Hirsch ist ein Hirsch ist ein Hirsch, und obendrein ein Geschäft. Hier ist der arme Poet fehl am Platz und erscheint höchstens als Karikatur. Das Zerfallen der künstlerischen Äußerungen in der bürgerlichen Geselligkeit in E und U ist mit diesem auseinander Treten von KünstlerInnen und Kunstwerken vollzogen.

E und U — Sphärentrennung in der Sphäre der Kunst

Dieser Zerfall der Kultur in die Bereiche von E und U entspricht wieder den scheinautonomen Sphären, denen wir in der bürgerlichen Gesellschaft oft und gerne begegnen. E ist dabei nach der Gebrauchswertseite hin definiert, U hingegen nach der Tauschwertseite. [3] Diese Trennung legitimiert mit Verweis auf den Gewinn der leichten Muse auf dem Markt und mit schlechtem Gewissen das mangelnde Interesse an der Hochkultur, stellt aber dafür den schöpferischen, innovativen, vorwärts treibenden künstlerischen Akt unter Kuratel. Und so finden wir als letzte Stufe in der Entwicklung der Freiheit der Kunst eine eigens geschaffene Bürokratie vor, die diese Freiheit durch politischen Auftrag der Gesellschaft zu gewährleisten hat, paradoxerweise in einem öffentlichen Raum, der den Markthallen entzogen ist. Das auseinander Treten von E und U ist in seinen Anfängen nicht leicht nachzuvollziehen. Der Beginn des Verlagswesens lässt sich für die Musik zeitlich mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts festmachen, öffentliche Museen und Galerien folgen erst etwas später, Buchverlage früher. Diese Marktöffentlichkeit erlaubt künstlerisch Tätigen nun, sich ihr Publikum zu bilden und heranzuziehen, erlaubt die Bildung eigener Schulen und Sezessionen, erlaubt es Gruppen, sich über ihre eigenen Zeitungen und andere öffentliche oder kontraktierte Organe als Stil, Avantgarde, etc. darzustellen.

Gleichzeitig schafft der Markt eine allgemein gültige Verständigung darüber, wie sich eins zerstreuen zu lassen hat. Tanzmusik, Operette, Vaudeville erheischen ihr Recht, und die Komposi- teure kommen den Aufträgen, sich darauf zu spezialisieren, ohne weiteres nach. Zumindest in den Anfängen sind wir mit einem erstaunlichen Niveau konfrontiert, das die Unterhaltungsbranche bereit hält. Erwähnt seien hier Johann Strauß Sohn und Jaques Offenbach und deren Operetten. Jeder Auftritt ist schon ein durchkomponiertes Meisterwerk und gleichzeitig ein hit (was auch noch für Cole Porter oder George Gershwin gelten mag). [4] Der hohe Anspruch aber an die Bildung des Publikums, der auch in der Unterhaltung durch das Kunstwerk eingefordert wird, geht seiner integrierenden Kraft verlustig durch eine immer mehr auf die Spitze getriebene Individualisierung der Künstlerinnen und Künstler, der einheitlich zu folgen für ein großes Publikum, das durch das Verlagswesen erst auf die Beine gestellt wurde, immer schwieriger wird angesichts der singulären Schulen, Stile, Parteiungen mit ihren durchaus komplexen Sichtweisen auf Kunst und Gesellschaft. Und so wird hinfort einerseits für einen Markt geschaffen, der die Einheitlichkeit eines warenförmig konstituierten Publikums transportiert und betont, und andrerseits für einen Anspruch, der Gesellschaft in ihrer Forderung nach Darstellung auf höchst komplexer aber individueller Ebene gerecht zu werden. Für die KünstlerInnen beginnt damit ein Spagat, der alles andere als erfreulich ist.

David Byrd, 1973

Sie werden zerrissen zwischen dem Wunsch, zu gefallen, also auf dem Markt erfolgreich zu sein, und der Forderung, Werke abzuliefern, die in ihrer höchsten Form die bürgerliche Gesellschaft, deren Ausdruck und Abbild sie sind, codieren und damit das Unbegriffene, Unverstandene der besten aller möglichen Welten auf den Punkt bringen. Die Werke, die so als Ergebnisse künstlerischer Freiheit entstehen, sind so konkurrenzlos wie auch keine andere Gesellschaft mit der bürgerlichen konkurrieren kann, die sich selbst nur als die Vollendung menschlicher Entwicklung zu denken vermag. Die Werke sind konkurrenzlos, weil in ihnen das Singuläre, Einzigartige des bürgerlichen Individuum wie auch das verschleierte, rätselhafte zustande Kommen dieser Formation von singulären, von einander abgesetzten Individuen in unbegriffener Geselligkeit sich ausdrückt. Kurz: sie sind konkurrenzlos, weil jedes Werk für sich in die Aura des Originären, Vollendeten, nicht mehr Vergleich- und Messbaren gehüllt ist. Gleichzeitig wird von ihnen verlangt, dass sie sich auf einem Markt bewähren. Wie unmöglich diese Bewährungsprobe ist, zeigt sich am Augenfälligsten in der Malerei. Kein Preis der Welt kommt so zustande wie der Preis für Bilder. Eindeutig vom Gebrauchswert bestimmt, jeder Überprüfung, die ökonomischen Kriterien stand hält, entzogen, nur bezogen auf die rätselhafte Darstellung des künstlerischen Programms, [5] zeigen sich Bilder, von denen Galeristinnen und Auktionare sagen: „Was ein Narr dafür zahlt.“

Diese Zwickmühle bedeutet für die KünstlerInnen nicht nur einen Kampf um’s materielle Überleben, wo der Markt, auf dem sie sich bewegen, als Preis- und Qualitätskontrolle versagen muss. Ein niedriger Preis für ein Kunstwerk oder ein astronomisch hoher (also Unverkäuflichkeit in beiden Fällen) sagt noch nichts über das Kunstwerk selbst aus, bewertet es nicht nach seinem Tauschwert, der ja nach den Regeln der politischen Ökonomie nicht festgelegt werden kann. KünstlerInnen erhalten also nie einen Marktpreis für ihre Werke, bloß für sich selbst, für die Aufwendungen, die getroffen werden müssen, um bekannt zu werden oder zu bleiben. Tritt aber die industriell verfertigte Massenproduktion auf den Markt, degradiert sie die Kunstschaffenden zu anonymen oder austauschbaren Anhängseln, unabhängig davon, welche Fangemeinden dabei mobilisiert werden. Von der Kunst zu leben, ist also ein schweres Geschäft, will eins nicht nur auf dem Markt (auch der Eitelkeiten) reüssieren, sondern gleichzeitig seine individuelle, schöpferische Potenz wahren, seinen Gestus und Duktus des Demiurgen nicht aufgeben, seine Rolle als moralische, lehrende, aufklärerische Instanz ausfüllen, oder schlicht sein Publikum mit höchstem Raffinement und größter Meisterschaft verwöhnen, auch wenn es diese Ausfälle in neue Erfindungen und Welterklärungen vielleicht gar nicht goutieren mag.

E und U — Dilemma und Sehnsucht nach Einheit

Ich habe weiter oben schon die hohe Qualität der Unterhaltungsmusik des vorigen Jahrhunderts angesprochen. Doch schon zeigt sich das Auseinanderklaffen von E und U auf eine Weise, die den KünstlerInnen nicht mehr gut bekommt. Auch hier sei wieder Jaques Offenbach erwähnt, dessen Oper, nachdem seine satirischen Operetten aus der Mode kamen, nicht mehr an die ehemaligen Erfolge anschließen konnte. Anton Bruckner, um ein anderes Beispiel zu nehmen, war sich zwar nicht zu schade, für lokale, befreundete Gesangsrunden zu komponieren, aber für sich selbst erlebte er die Aufhebung der Trennung von E und U (einer Trennung, die zu seiner Zeit schon lang zugange war, aber noch nicht benannt wurde) vor allem in der Kirchenmusik. Hier war noch ein Refugium, das seine künstlerische Kompetenz, also die Neuerungen, die er der katholischen Gemeinde zumutete, nicht oder nur halbherzig in Frage stellte und gleichzeitig ein großes und dankbares Publikum bereithielt, um dessen Gefallen er sich nicht oder nur wenig zu kümmern brauchte, solange die Kirche ihren Segen gab.

Spätere Strategien gegen die Trennung von E und U sind vor allem in der aufklärerischen attitude der Moderne zu finden, die die alten Formen in neuem Gewand mit pädagogischem Impetus [6] unter’s Volk bringt oder deren (drohenden) Verlust dadurch auffängt, dass sie neue Formen findet, [7] um die alten Inhalte zu bewahren. Beide Strategien erweisen sich als zu kraftlos, um den Wunsch Schönbergs, die Leute seine Stücke auf den Straßen pfeifen zu hören, zu erfüllen. Anders geht die Avantgarde an das Problem heran. Sie will der Trennung von E und U ausweichen, indem sie überhaupt das Ende der Kunst dekretiert und somit auch das Ende dieser unglückseligen Spaltung. Ab jetzt, erklärt die Avantgarde jedweder Kunstgattung und Generation, sei Kunst tot oder aufgehoben oder aus der Trennung von der Natur herausgebrochen und der Natur wieder zugeführt oder aus der Trennung vom Publikum herausgebrochen und dem Publikum, das nun zum Zeugen und zur Expertin gemacht wird, zurück gegeben dergestalt, dass ein jedes sich zum Künstler nicht erst aufschwingen müsse, sondern kraft Geburt und Menschlichkeit schon Künstler, dergestalt, dass ein jedes Objekt, betrete es nun die Welt vor unseren Augen oder nicht, schon ein Kunstwerk sei. Allein, diese zerstörerische Anstrengung ist vergebens, wird doch auch sie aus dem Geist individualisierten Daseins geboren, das sich in Ansehung seiner individuellen, besonderen, unteilbaren Stellung in der Gesellschaft als ihr Atom, als ihr Element bereit finden muss, diese existentielle Grundlage bürgerlicher Geselligkeit immer wieder auf’s Neue zu bestätigen durch Schaffen, Beschreiben, Rechtfertigen, Erklären, durch immerwährendes Vorbild und Beispiel. Und so wie das vereinzelte, in die Katastrophe der Einsamkeit und Heimatlosigkeit gestürzte Wesen Robinson nichts Anderes zuwege bringt, als Insel und Freitag in bürgerliche facon zu zwingen, so zeitigt auch die Avantgarde in ihrer zerstörerischen Haltung, in ihrem Aufbegehren gegen Sinn und Komment, in ihrer heillosen Absicht, endlich das letzte aber auch wirklich allerletzte künstlerische, also bürgerliche Wort gesprochen zu haben und damit den ersten wirklichen Anstoß, den ersten konkreten Schritt zur Befreiung das erste Mal zu tun, nichts Anderes als das Eingehen in den Olymp klassischer Lehre davon, was Kunst ist und was nicht. Bis jetzt hat jedenfalls die Avantgarde nichts getan, außer den Kanon der modernen Kunst um neue Beispiele zu bereichern.

Das gemeine Publikum jedenfalls ist nicht bereit, sich in jeder Situation als kunstschaffend zu verstehen und in jedem Weinkühler ein Kunstwerk zu sehen. Im Gegenteil, der Wunsch, mit Kunst zu tun zu haben, führt fast immer dazu, über ein gekonntes und erkanntes, erfassbares, erlebtes, identisches Abbild sich der bürgerlichen Geselligkeit zu versichern, sich ihr Prestige zu eigen zu machen, daraus Geborgenheit und Zugehörigkeit zu gewinnen. So ist die Trennung von E und U nicht nur eine Sache, die dem künstlerischen Wirken problematisch erscheinen will; auch das Publikum ist infiziert davon und leidet daran. Nicht immer will es sich mit den enigmatischen und esoterischen Diffizilitäten der verschiedenen Schulen auseinander setzen; oft will es aber auch nicht in die Trivialität flüchten müssen, sondern aus der Tatsache, dass es künstlerisch wertvolle Kunst sammelt, konsumiert, hört, sich aneignet, Prestige beziehen, also der Gebrauchswertseite verhaftet bleiben. Was aber tun, wo eigenes Unverständnis oder Unvermögen, wo mangelnde Bereitschaft oder Zeit, sich auf E-Kunst einzulassen und alle die Cliquen, Intrigen, Schulen und Lehren zu erforschen, zu fördern, sich zu eigen zu machen, eine tief gehende Beschäftigung unmöglich machen, gleichzeitig aber das allzu glatte design von U nichts als Abscheu hervorbringt und den Wunsch nach künstlerischer Ausschmückung des eigenen Lebens nie und nimmer befriedigen kann? Was also tun, wenn Paul Klee zwar für sich genommen durchaus anerkannt aber nicht goutiert wird, weil er nun doch zu unverständlich ist und zu viel Befassung erheischt? Was weiters tun, wenn ein Röhrender Hirsch Im Alpenglühen als Ersatz für Paul Klee nicht in Frage kommt?

Pop als die Rettung der Einheit

Die Coladose Warhols ist die perfekte Antwort. Sie verbindet das Rätselhafte, das Ausdruck des Schöpfenden, Sinnheischenden und Sinngebenden, Ausdruck der individuellen demiurgischen Tätigkeit bürgerlicher Produktion ist, mit dem prosaischen Profanen des Schaffenden, Arbeitenden — ebenso Ausdruck der bürgerlichen Produktivität in ihrer Allgemeinheit. Keines weiß eigentlich genau, wofür die Coladose, wofür Marilyn Monroe oder Mao Tse-tung, wofür diese Siebdrucke stehen. In ihrer Unmittelbarkeit sind sie so rätselhaft und unverständlich wie Marc oder Klee, suggerieren aber damit das Mysterium der freien Betrachtung. Wer hier seine höheren Weihen der Interpretation und Anschauung empfangen oder gespendet hat — je nach dem, wie die Gespräche auf der Party oder der Vernissage gelaufen sind —, kann sich im bürgerlichen Prestige aufgehoben fühlen. Andrerseits weist die massenhafte Verbreitung dieser Siebdrucke doch darauf hin, dass hier gesellschaftlicher Konsens nicht nur im Prestige, sondern auch im kommerziellen Erfolg, in dieser sonderbarsten Eintracht gefunden wird. Wenn es alle kaufen, muss es gut sein — die Tauschwertseite kommt zu ihrem Recht. Aber keines von euch kann diese durchdringende, diese luzide, diese Alles begreifende Interpretation der Coladose liefern, keines von euch wurde durch die Betrachtung dieses Meisterwerks so wie ich angeregt, bürgerliche Gesellschaft und meine Existenz von Grund auf zu begreifen — der Gebrauchswert verhilft mir zu meinem Recht.

Hier also lässt sich behaupten: Pop nistet sich in die Kluft zwischen E und U ein. Das Rätselhafte, Individuelle, Demiurgische, nur der eigenen Anschauung zugänglich Unverständliche wird mit dem Geselligen, allseits Begriffenen und Anerkannten versöhnt, ohne in die Niederungen des Allgemeinen abzusinken. Pop erlaubt dem bürgerlichen Individuum, in seinen künstlerischen Ansprüchen vollkommen singulär zu sein ohne jemals einsam. Pop ermöglicht eine Art der Rezeption von Kunst, die höchst gestochene Diskurse zulässt, ohne allerdings in die avantgardistische Pose zu fallen, die dadurch, dass sie aus allem und jedem Kunst machen will, Kunst zu zerstören sucht. Vielmehr wird eine Vertrautheit mit der künstlichen wie künstlerischen Welt hergestellt, die die Vertracktheit der Analysen der Realität zwar nicht ersetzt, auch nicht abmindert, im Gegenteil eher betont, aber mit dieser Betonung das Publikum aufwertet. Diese Vertrautheit schmeichelt dem Publikum, gaukelt ihm eine gewisse Meisterschaft, einen souveränen Umgang mit der künstlerischen Äußerung vor, bietet Möglichkeiten für ein Engagement in künstlerischen Belangen, wo Ausbildung, Erfahrung, Zeit, Befassung nicht hinlangen, es aber das Bedürfnis nach Prestige im Diskurs der Ästhetik und Geborgenheit im Rahmen sozialer Selbstdarstellung mit anerkannten künstlerischen Mitteln zu befriedigen gilt. Diese Vertrautheit erlaubt es uns, Moden und styles mit Bedeutungen aufzuladen, die in E nur den Schulen und Meisterschaften zukommen, die aber genauso für sich in Anspruch nehmen, der Gesellschaft den Spiegel vor’s Antlitz zu halten, vielleicht sogar, um sie wie einen Basilisken zu zerstören. Gleichzeitig erlaubt uns diese Vertrautheit wie in U mit diesen Spiegelbildern der Gesellschaft einen konfliktlosen, ja gewaltfreien Umgang; keine zerstörerische Pose ist je zu befürchten.

Pop hält also eine exakte Mittelposition zwischen E und U inne. Mehr noch, Pop vermittelt E und U einander, vermittelt bürgerliches Selbstverständnis nach der einen wie der anderen Seite hin; nach der des wirtschaftlich erfolgreichen Schaffens wie der des schöpferischen Menschenbildes des einsamen Demiurgen; vermittelt die Seite der Konkurrenz der industriellen Produktion en masse mit der der idealischen Konkurrenzlosigkeit des Genies: vermittelt die Tauschwertseite, das ist die Möglichkeit und Fähigkeit, vom Verkauf von Kunst gut zu leben, mit der Gebrauchswertseite, die sich in diesem Fall als die Darstellung des Rätselhaften, des Unbewussten einer Gesellschaft zeigt, die das Zusammenwirken ihrer Mitglieder durch konkurrierendes Aufeinandertreffen und einander Ausstechen nicht erkennen kann, sich dieses Widerspruchs nicht bewusst ist.

Exkurs zu Benjamin

Pop hat mit den Ansprüchen wahrer, hehrer Kunst (mit E) genauso zu tun wie mit den Ansprüchen wahrer, bürgerlicher, industrieller Produktion (mit U). Pop ist also das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Pop ist die künstlerische Tätigkeit und Ausübung, die mit den Zumutungen der technischen Reproduzierbarkeit souverän umgeht. Walter Benjamin hat diese Zumutungen schon beschrieben und daraus das Erstehen neuer Kunstformen gefolgert, deren sich das Proletariat bemächtigen müsse. Hauptsächlich ging es ihm dabei um den Film. Sehen wir von der Naivität seiner politischen Forderungen ab, so lassen sich noch immer aus seinem Essay bemerkenswerte Argumentationslinien festmachen und verwenden. Vor allem der Begriff der Aura, mit dem das Kunstwerk, bevor es in den häuslichen Massenkonsum eingegangen ist und so noch in Galerien, Ausstellungen, Museen und Konzertsälen angesiedelt war, begriffen und beschrieben wurde, ist bei der Betrachtung von Pop hilfreich.

Mit Aura war das Original ausgestattet, so Benjamin. Aura verlieh dem Kunstwerk erst seine Erkennbarkeit. Das auratische Kunstwerk war an eine Umgebung gebunden, die es so erhöhte, dass sich eins erst seelisch reinigen musste, wenn es etwa das Museum oder den Konzertsaal betrat. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Publikums stellte sich bei dieser Prozedur ein (allein schon die Wahl der richtigen Kleidung bereitete auf den Kunstgenuss vor) und sicherte so die Aufnahmefähigkeit auf einem hohen Niveau, nicht zuletzt deswegen, weil sich das Publikum der Größe und Vergänglichkeit des Augenblicks bewusst war, in dem es mit dem solitären Werk konfrontiert war. Wo aber dieser schreiende Hinweis auf die Einzigartigkeit und Unwiederbringlichkeit des gerade nur jetzt in diesem Raum erlebbaren Kunstgenusses nicht gemacht werden kann, geschieht zweierlei. Zum einen verliert das Original mit den ihm gerechten Hör- und Sehgewohnheiten (oder richtiger: an ihm erworbenen Fähigkeiten) an Wucht — wo es Schallplatten, Magnetophonbänder und CDs gibt, verlieren Parkettsitz und Orchestergraben, verliert das Hörvermögen, das sich eine Symphonie beim einmaligen Anhören merkt, an Bedeutung. Die Aura geht vom Original auf das Wiedergabegerät über und verlischt dort. Dann übernehmen die Wiedergabegeräte eine produktive Rolle und erzwingen eine ihnen angemessene Kunstform. So entstehen Film und Videokunst, so sind Happenings und Installationen erst möglich geworden durch das Verknüpfen geeigneter Reproduktionsmaschinen.

Aber es gibt auch ein Zweites: die Aura streicht vom Original zu den Schöpfenden und zum Publikum und lässt sich dort nieder. Das ist Pop, der die Kunstformen und -inhalte beibehält, aber der geänderten Situation Rechnung trägt. Nicht neues Rezeptionsverhalten wird durch ihn vom Publikum gefordert, nichts oder nur wenig Neues wird formal und inhaltlich geboten. Tafelbild und Rundumplastik, Roman und Strophenlied dominieren; hin und wieder dringen Elemente von Konzeptkunst (also Gesamtkunstwerk oder Programmkunst) ein, aber nie von Happenings oder Installationen. Die bewährte, über einige Jahrhunderte tradierte künstlerische Semantik garantiert, dass das Publikum sich im Werk wiedererkennen und seine Kompetenz als am schöpferischen Diskurs teilnehmend unter Beweis stellen kann. Gleichzeitig wird von den Schöpfenden eine Starposition eingenommen, die die alte Pose der Meisterschaft ironisiert und ersetzt. Wo nämlich das Kunstwerk selbst auf Grund seiner ausgewiesenen Konservativität und unter dem Druck der technischen Reproduzierbarkeit der Aura und damit des signum der Originalität verlustig geht, wird die Ikone des Popstars selbst zum Original.

Es mag hilfreich sein, diese Ausführungen mit Namen zu illustrieren. Für die Malerei wären da Andy Warhol, Roy Lichtenstein, aber auch Friedensreich Hundertwasser oder Franz Zadrazil zu erwähnen, in der Dichtung James Ellroy oder Bret Easton Ellis, Umberto Eco oder Josef Haslinger, in der Musik David Bowie oder Madonna, Steve Reich oder Werner Pirchner, in der Bildhauerei Jeff Coon, Jean Tingely oder Daniel Spoerri. Alle Werke, die mit diesen Namen verbunden sind, halten genau jene Mitte zwischen E und U, sind vieldeutig und rätselhaft genug, um als echte Kunst durchwegs Anerkennung zu finden, zeugen von großer Begabung und guter Schulung der Ausführenden und erlauben auf Grund ihrer herkömmlichen Formensprache große Anteilnahme sowohl in der Rezeption und Identifikation als auch auf dem Markt. Aber nicht immer ist diese Mittel- und Mittlerstellung eindeutig. Im Gegenteil macht es das Wesen einer solchen Stellung aus, dass ihr Gegenstand zwischen den Polen oszilliert, aber ohne sich je an der einen oder anderen Seite zu verfestigen. Vor allem als Geschichte der Entwicklung von Pop gibt es Vorformen in Dichtung und Musik, die das eigenständige Besetzen der Kluft zwischen E und U erst ahnen lassen.

So zum Beispiel finden wir Romane wie die von Georges Simenon, [8] die — wenn auch nicht als E akzeptiert — durchaus davon erzählen, wie sehr sich Simenon nach dem großen Wurf, nach seinem Einstand in die Welt des Parnass sehnt. Typische Elemente des Pop sind hier zwar schon vertreten, aber Simenon selbst steht noch für den Typus des einsamen Genies, das sich an sich selbst abarbeitet, das seine Vervollkommnung in seiner eigenen Person sucht, daher auch die unsympathischen machistischen Züge des Heros der Moderne aufweist, wie er uns immer wieder entgegentritt: von sich selbst eingenommen, alle menschliche Beziehung seinem Werk unterordnend (daher auch diese typische Frauenverachtung der modernen Geister, daher auch dieses oft wahrzunehmende beziehungslose Cliquenwesen). Jedenfalls kann an ihm noch kein Starruhm festgemacht werden, keine Öffnung der eigenen persönlichen Darstellung für das Publikum, keine Identifikationsmöglichkeit der Betrachtenden mit ihrer Popikone. Wir wissen über seine Nöte und sein Ringen, als großer Romancier in die Geschichte einzugehen, nichts aus veröffentlichten Ansprüchen an Publikum und Medien. Wir wissen darüber aus seinem höchst privaten Briefwechsel mit Andre Gide. Und wenn Simenon mit seinen Frauen prahlt, klingt das anders als bei Madonna, die ihre Promiskuitivität zum Allgemeingut erklärt; Simenon sieht hier noch sein ureigenes Vorrecht, das aus seiner hervorragenden Stellung als Künstler in der Gesellschaft abzuleiten sei.

Ganz anders stellt sich die Situation dar bei Betrachtung neuerer Hervorbringungen des genres Kriminalroman. Sjöwall/Wahlöö etwa haben gar nicht mehr den Anspruch, sich in die Annalen der Romankunst einzuschreiben; dennoch ist ihre zehnbändige Geschichte des Martin Beck ein blendend literarisch gelungenes Sittenbild der schwedischen Gesellschaft, und über dieser Arbeit erlangte das Autorenteam den Kultstatus der Popstars. Ähnliches lässt sich ohne große Mühe eine Generation später von Jan Guillou und seinem Protagonisten Carl Gustav Gilbert Graf Hamilton prophezeien. Ja noch ist zu erwarten, dass Guillou mit seinen Coq-Rouge-Romanen seine VorgängerInnen überflügelt, also der Kultstatus des Autors sich unter dem Prätext der Postmoderne verstärkt, Hamilton mehr als Beck zum Identifikationsobjekt eines sich selbst rätselhaften Publikums wird, das durch künstlerische Betätigung zu sich selbst finden, sich durch Annahme, Rezeption, Kritik und Interpretation einer romanhaften Darstellung seiner eigenen Umstände im Konsens über seine Geselligkeit geborgen wissen will. Auch James Ellroy und Bret Easton Ellis spielen auf diesem Klavier. Wir haben es nicht mehr mit dem Clown zu tun, der Hamlet darstellen will, der also an der Trennung von E und U leidet. Nein, wir bemerken selbstbewusste Menschen, die die Oberfläche des Romans nutzen und nicht mehr die Anerkennung der tradierten Kunstkritik suchen. Sie gehen so weit, vorzuschreiben, was der Roman unserer Zeit zu sein habe, und sei es unter den dümmsten Ausreden: Eco erklärt auf die Frage im Interview, warum er „Der Name der Rose“ geschrieben habe, er hätte immer schon einen Mönch umbringen wollen (se non vero bene trovato).

Der Popstar als Antiheros der Moderne

Pop sucht also nicht die Anerkennung in der Galerie der Ahnen und will sich nicht in Klassik und klassische Moderne einreihen, vielmehr verwendet Pop diesen ganzen Fundus an vorgefundener Formensprache als Folie, auf der sich Kunstwerke einer ganz anderen, der Masse der KonsumentInnen zuträglichen Art aufziehen lassen. Ähnliche Folien lassen sich aus den Volkskünsten gewinnen, was aber nur möglich ist, weil sich E daraus entwickelt hat oder wenigstens in einem einander gegenseitig bedingenden Zusammenhang über ein paar Jahrhunderte gestanden ist. Aber immer finden wir das selbe Formationsprinzip: das Vorgefundene wird bis zur Kenntlichkeit geplündert und neu besetzt. Auf diese aller genialischer Verzweiflung entkleideten Oberflächen wird nun das neue Bild geworfen. Nicht mehr naiv, sondern ironisch treten uns die Popstars entgegen, ihr künstlerisches Tun ist nicht mehr von lauterer schöpferischer Gewalt geprägt, die die KünstlerInnen antreibt und ihnen nichts Anderes zulässt. Es ist viel mehr geprägt von ihren Fähigkeiten, sich auf einem Markt zu bewegen und nicht nur, was sie sich selbst schöpferisch in der Art alter Meister entrungen haben, als ultima ratio ihres Seins zu vertreten, sondern in enger Kooperation mit einem kompetenten Publikum und in Kenntnis der Moden und styles um das gute Leben zu streiten. Der Erfolg des Popstars zeigt sich als kommerzieller, und so sehen auch die Schaffensperioden und -krisen aus. Sie stellen sich nicht dar als künstlerisches Ringen, das oft vom Publikum unbemerkt stattfindet. Die Forderung des genialischen Typus der Schöpfenden verpflichtet die E-KünstlerInnen, gewonnene Erkenntnisse mit der Darstellung ihrer Werke vor Publikum zu verbinden und dieses zu Parteinahme oder Skandal, zu rückhaltloser Unterstützung oder spröder Abwehr zu nötigen. Kein Kampf aber um Erziehung zu neuen Formen der Kunst und der Sicht auf die Gesellschaft machen Künstler und Publikum der Popkunst einander verdächtig. Nicht die von keiner Zumutung des guten Geschmacks angerührte Treue zu sich selbst als schöpfendem Genie ist die Pose des Popstars, seine Kunst ist es, dem Publikum den nächsten Trend, die neueste Mode als ureigene Errungenschaft zu verkaufen; als Errungenschaft sowohl des Stars als auch seines Publikums.

Jede neue Mode, die ein Mitglied unserer Gesellschaft von einem anderen zu unterscheiden vorgibt, jedes neue style, das einer hektischen Diskussion und Bewertung unterworfen wird, ob wir es hier mit der ultimativen Verweigerungshaltung oder der letzten sinnhaften Erklärung und Beleuchtung unserer Welt zu tun haben, festigt die Bande zwischen Star und Publikum. Dass diese hypes dabei über ausgesprochen künstlerische Kanäle transportiert werden, macht die Sache nur wertvoller. Waren früher Charaktermasken wie der dandy noch der Versuch, sich nicht nur vom Pöbel, sondern von allem Volk welcher Schicht auch immer abzuheben, so sind heute die Auseinandersetzungen um die Moden Sache aller. Hier wird der Aufwand getrieben, der die eigene Stellung zur Gesellschaft zum Ausdruck bringen soll, der das Gerieren als denkender Mensch, der affirmativ, kritisch oder meinetwegen destruktiv zur Geselligkeit aller sich versteht, künstlerisch untermalt und intellektuell rechtfertigt. Und, wie oben angedeutet, sind auch hier die formalen, bekannten, tradierten Elemente von E zuwege. Das Aufeinandertreffen der Schulen gleicht in der Härte der Auseinandersetzungen den Abfolgen der Moden. Wie die Kunstkritik um die Anerkennung und Förderung einer Tradition oder einer Neuerung unter Aufbietung aller Kräfte streitet, so benehmen sich die ExpertInnen der Popkritik, wenn es darum gehen soll, einer aktuellen Ausformung von künstlerischem Auftreten in der Öffentlichkeit systemzerstörende, emanzipative oder reaktionäre Züge zuzuschreiben.

Ich will hier nicht mehr in s Detail gehen, die allgemeine Stoßrichtung meiner Argumentation ist sowieso klar geworden. Pop richtet sich dort, wo die Kluft zwischen Erbauung und Unterhaltung unüberbrückbar geworden ist, wohnlich ein zum Nutzen des Publikums wie der Schöpfenden. Möglich wurde diese Kluft durch die Entwicklung des Verlagswesens und der Entstehung des einsamen Genies als sozialer Typus, was sowohl künstlerische Arbeit zur alleinigen Unterhaltung des Publikums unter Ausschaltung der KünstlerInnen, die immer verwechselbarer, austauschbarer und unnötiger wurden, als auch künstlerische Arbeit zur alleinigen Erbauung der Genies und ihrer Adepten unter Verzicht auf ein großes Publikum zur Folge hatte. Die Lücke wird von Popstars und ihrem Publikum in Symbiose gefüllt. Möglich wurde dies auch durch die erweiterte Reproduzierbarkeit künstlerischer Äußerung in immer besserer technischer Qualität, also die immer größere Möglichkeit, ein immer größeres Publikum zu bedienen, das die Kluft zwischen Erbauung und Unterhaltung, zwischen E und U gering zu halten wünscht dahingehend, dass die Legitimierung durch den kommerziellen Erfolg mit der Legitimierung durch die künstlerische Rätselhaftigkeit und daraus gewonnene Darstellungskompetenz einhergehen möchte. So entspringt Pop wohl noch immer der Sehnsucht nach Einheit in einer Geselligkeit, die durch das Credo der diversifizierten Einzelnen geprägt ist.

Die Zauberflöte konnte noch problemlos und kommentarlos neben der Hochzeit des Figaro stehen, Girl Crazy aber nicht mehr neben Porgy and Bess und Orpheus in der Unterwelt nicht mehr neben Hofmanns Erzählungen. Die Einheit von Erbauung und Unterhaltung wurde also aufgelöst, nicht aber der Wunsch danach. Und auf dem Prospekt der tradierten Werkformen und der allgemeinen Verfügbarkeit der Popstars treten etwa Werner Pichner oder Phil Glass an, diese alte Einheit, von deren Zerstörung die klassische Moderne lebt, wenn sie sie auch wehmütig beklagt, wieder herzustellen. Ich habe hier zwei Musiker genannt, aber gemeint sind wohl alle Popstars. The Great American Nude ist so gesehen, mit allen denkbaren Vorbehalten, eine Mona Lisa unserer Zeit, Karajans Kompilation von Adagi aber, bei allem gebotenem Respekt, nur der Versuch, Geld zu machen, und, ohne dem Publikum zu geben, was des Publikums ist, plumpstes U.

[1Auch die Begriffe Rechts und Links dürften als scheinbar autonome Sphären (entsprechend der Wirklichkeit und den Versprechungen bürgerlicher Geselligkeit) in diesem Licht zu sehen sein.

[2Ich möchte nur darauf hinweisen, quasi anekdotisch, dass die Theaterzettel eine Oper als dramma per musica ankündigten, und der Autor größer gedruckt wurde als der Komponist; ja überhaupt konnte eins glauben, die Theaterdichtung wäre das Wichtigste noch vor der Musik.

[3Kunst in ihrer Gesamtheit bleibt aber immer noch der Gebrauchswertseite, dem Abgespaltenen, Konkurrenzlosen zuzurechnen, während Natur durch tauschwertorientierte Tätigkeit in’s bürgerliche Spiel kommt. Dennoch erlaubt das fortwährende Ausdifferenzieren scheinautonomer Sphären der Gesellschaft die Zuordnung von Gebrauchswert und Tauschwert auch auf der Gebrauchswertseite, was den Schein der Autonomie nur unterstreicht.

[4Wie ökonomisch legt hingegen Andrew Lloyd Webber seine Werke aus: das ganze musical steuert auf einen einzigen Schlager hin, der als single ausgekoppelt und verkauft werden kann, und das durch zwei Stunden!

[5Egal, ob Malewitschs Quadrat oder Holbeins Gesandte; beide Maler bringen ihre Sicht und ihre Person in’s Spiel, ohne sie keine Malerei, aber auch keine Malerei ohne nur persönlich codiertes Abbild, das nicht zugleich mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit aufwartete.

[6Etwa Symphonien wie die Zweite von Erwin Schulhoff mit einem scherzo alla jazz (op. 81, 1932).

[7Das beginnt schon damit, dass unversehens Bagatellen und musikalische Momente neben die Sonatenhauptsatzform treten und ihr eigenes Leben entwickeln bis zu symphonischen Dichtungen und Stücken für Orchester.

[8Wobei ich jetzt nicht unbedingt das umfangreiche Maigretwerk meine; dieses weist schon generell in Richtung Pop, vor allem, was den Starruhm des Kommissars betrifft, den Simenon durchaus an die eigene Person zu binden weiß, siehe den Band Maigrets Memoiren. Was das oben Erwähnte betrifft, müssen sich wohl ähnliche Züge und Parallelen bei Kurt Weill auf dem musikalischen Terrain finden lassen.

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