Indianisiert den Marxismus!
Reynaga: Weil ich mich als Teil eines Volkes, einer Kultur, einer Rasse betrachte, die vor Tausenden von Jahren entstanden ist. Bolivien aber wurde erst im Jahre 1825 gegründet. Die Wirklichkeit, über die ich schreibe, hat schon Gültigkeit besessen, bevor diese Republik existierte, und könnte sehr wohl auch nach ihr existieren. Ein bolivianischer Schriftsteller zu sein bedeutet nichts; als Ketschua-Indio hingegen will ich den Rassismus, der mein Volk vernichtet, zerschlagen.
Reynaga: Mein Vater ist ein Ketschua aus der Region von Potosi; meine Mutter ist eine Weiße aus dem Aymaragebiet von La Paz. In meiner ganzen Kindheit habe ich den Rassismus sehr tief drinnen im eigenen Fleisch erlebt. Ich bin völlig gezeichnet davon. Weder Schule noch Universität konnten diese Schande, ein Indio zu sein, tilgen. Im Gegenteil: gerade durch die Reflexion darüber spürte ich sie um so tiefer. In Bolivien ist jeder ein Opfer des antiindianischen Rassismus. Da ich etwas von der Welt der Weißen kennenlernte, konnte ich einerseits Distanz gewinnen und vergleichen; andrerseits konnte ich mehr darüber nachdenken, was es heißt, Indio zu sein. Man muß wissen, daß diese Probleme in Bolivien tabu sind. Vorher hatte ich mich niemals nach meiner Rasse gefragt.
Indianer sein ist wie eine Geschlechtskrankheit
Reynaga: Dort sprach man auch nicht davon, denn es war ein sehr unangenehmes Thema. Indio sein ist, als hätte man eine Geschlechtskrankheit. Mein erster Ausweg aus den inneren Spannungen war der Anschluß an eine Partei der extremen Linken. Schon während meiner Schulzeit begann ich mit Mario Monje zu arbeiten, dem Chef der Kommunistischen Partei. Damals gab es für mich keinen anderen Weg. Doch leider mußte ich auch innerhalb der Kommunistischen Partei einen antiindianischen Rassismus erfahren. Ein Indio hatte Spanisch zu lernen, um ein guter Kommunist zu sein, er mußte die Kleidung seines Volkes ablegen und sich westlich anziehen, um „normal“ zu sein.
Reynaga: Ich habe eine gewisse Aversion gegen das Schreiben. Wer sich zum Schriftsteller berufen fühlt, muß alles liegen- und stehenlassen, um die Ideen aufzuschreiben, die in ihm brennen. Schleudert er sie nicht heraus, stören sie ihn. Deshalb fing ich erst viel später an zu schreiben.
Auch Guevaras Guerillas waren weiß
Reynaga: Ich habe mich niemals entschieden zu schreiben. Nach meinem Austritt aus der Kommunistischen Partei schloß ich mich 1967 der Guerillatruppe von Che Guevara an. Nach vielen Gefängnisaufenthalten war ich in Kuba. Als politischer Flüchtling in Mexiko schrieb ich einen Brief an meine politische Organisation in Bolivien, der immer länger wurde und sich vertiefte, bis er sich zu einer Broschüre entwickelte, die ich ergänzen wollte, und ... das Resultat war ein Buch: ich wollte die Indios zu einer politischen Kraft machen. In Bolivien gibt es fünf Millionen Einwohner, vier davon sind Indios (Ketschuas und Aymaras). Eine halbe Million sind Mestizen und eine halbe Million Weiße. Alle politischen Parteien, auch die Guerilla, gehören zur Welt der Weißen. Man mußte sich dieser indianischen Kraft nähern, um die Ausbeutung auf seiten der Ausgebeuteten zu besiegen.
Reynaga: Ja. Aber ich nannte das Buch später „Weiße Guerillas unter indianischen Völkern“. Ein Volk ist nicht etwas Massives, das sich manipulieren läßt. Eine revolutionäre Organisation darf nur dann indianisches Blut gebrauchen, wenn sie für die Befreiung der Indios kämpft.
Marxistischer Kolonialismus
Reynaga: Der antiindianische Rassismus begann mit der Erfindung Lateinamerikas durch Europa Ende des 15.
Jahrhunderts. Zuvor hatte es weder Latein noch Amerika bei uns gegeben! Die „Unabhängigkeit“ brachte nicht etwa die Befreiung der Indios, der spanische Kolonialismus setzte sich fort im Rhythmus der Marseillaise, im Schatten der Trikolore. Die heutigen Symbole, die Internationale und die rote Fahne, ersetzen wieder nur die Symbole der Französischen Revolution und das Coca-Cola-Emblem. Die kommunistischen Parteien schleppen natürlich das jahrhundertelange antiindianische Erbe mit sich.
Reynaga: Die Präsenz des Indios in Lateinamerika ist so stark, daß die katholische Kirche ihre Festtage ändern mußte, damit sie mit den indianischen Festen zusammenfallen. Sonst wäre niemand zu den kirchlichen Festen gekommen. Was den politischen Synkretismus betrifft, ist es jetzt schlimmer als damals. Die Pfarrer waren oft flexibler und weniger dogmatisch als einige Marxisten heute. Für die [die Marxisten] gibt es keine Rassen, sondern höchstens ethnische Gruppen und soziale Klassen, die sich nach ihrem Platz im industriellen Produktionsprozeß bestimmen — was dem indianischen Leben völlig fremd ist.
Reynaga: Ich weiß nicht, aber eins ist mir klar: die indianischen Völker werden frei sein ... mit oder ohne Marxismus. Ohne ihn dann, wenn es bei seinem europäischen Dogmatismus bleibt.
Reynaga: Mein Buch wurde in Schmerz und Blut geboren. Nach seiner Veröffentlichung in Bolivien steckten sie meine Mutter ins Gefängnis und folterten sie zehn Monate lang. Die Befreiung des Indios ist ein unantastbares Thema. Die Minderheit, die die Indios unterdrückt, verbietet, davon zu sprechen. Weil es in den Kolonialländern relativ mehr Freiheit gibt als in den kolonialisierten Ländern, wurde dieses Buch bei Harper & Row in New York publiziert.
Reynaga: Natürlich. Die Machtelite weiß, daß in einem Land wie Bolivien einige theoretische Abhandlungen, einige Zitate von Marx, Lenin oder Mao nichts Explosives anrichten. Außerdem haben sie schon gelernt, sich gegen die aus den westlichen Ländern importierten Drohungen zu wehren, aber sie wissen auch, daß ihr rassistisches System vor der Kraft der Indios impotent wäre.
Reynaga: Das ist vor allem eine Frage der Zeit. Der Indio mißt die Zeit anders als der Westen. Die indianische Musik beispielsweise wirkt vielleicht langsam oder gar langweilig auf dich. Man muß die Zeit der indianischen Revolution mit den Rhythmus der Indios messen, die fünf Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Auch eine Frucht reift nicht rascher, wenn wir um den Baum herumspringen. Dieser Prozeß der Reifung trägt Merkmale, die in den Titeln der Weltpresse nicht aufscheinen und hoffentlich noch lange Zeit nicht aufscheinen werden.
Che wie Christus
Reynaga: Che sprach nicht zu den Indios, er sprach zum bolivianischen Volk, und das bolivianische Volk ist eine Einheit, die noch nicht existiert und vielleicht niemals existieren wird. Im Gegensatz dazu sind die Indios eine Einheit, die schon seit vielen Jahrhunderten einen eigenen Charakter hat. Aber natürlich hat Che den ganzen Kreuzweg durchschritten, bis er allmählich isoliert und zuletzt ermordet wurde. Viele Indios stellten Che neben Jesus Christus, zündeten ihm Kerzen an; wenigstens ein Weißer hatte sich ebenso aufgeopfert, wie es die Indios Jahrhunderte lang taten.
Du malst mir die lateinamerikanische Revolution in ziemlich schwarzen Farben. Einerseits das kapitalistische System, das die Indios ausbeutet, andrerseits die Linke, die sich der wirklichen Kräfte des Volkes noch nicht bewußt ist, jener Kräfte, die obendrein vom antiindianischen Rassismus infiltriert sind. Wo gibt es ein Licht? Wie kann man vergangene Fehler vermeiden?
Reynaga: Eine der sehr einfachen Wahrheiten, die sich verbreiten, ist: MAN MUSS DEN MARXISMUS INDIANISIEREN. Ich vertraue der lateinamerikanischen Linken, auch wenn sie selbst kolonialisiert ist, denn in den letzten Jahren gab es große Veränderungen in ihr. Ich vertraue auch den indianischen Völkern. Sie werden sich vereinigen.
Reynaga: Genau, die Bauern und Bergarbeiter sind Indios. Die Indios arbeiten unter dem Joch der Ausbeutung der Weißen, der Großgrundbesitzer und Kapitalisten.
Reynaga: Die indianische Realität ist nicht bolivianisch, sie ist lateinamerikanisch, obwohl sie natürlich in einigen Teilen mehr Fundament hat als in anderen: alle Gebiete außer dem südlichen Argentinien, Uruguay und gewissen Zonen von Chile und der Küste von Venezuela kennen das Problem der Indios. In Brasilien beispielsweise ist das Problem der Schwarzen zugleich das Problem der Indios. Natürlich muß in den Gebieten mit mehr europäischem Blut auch die revolutionäre Strategie eher europäisch sein mehr marxistisch-orthodox.
Der Indio schweigt
Reynaga: Das spanische Erbe lehrt uns die Liebe zu den Reden, zu Deklarationen und Versprechungen. In der literarischen Produktion der lateinamerikanischen Linken gibt es viele Don Quijotes, die in das Wort verliebt sind. Der Indio hingegen ähnelt sehr dem Vietnamesen. Er spricht nicht, er handelt. Und das Handeln hat schon immer mehr gesagt als das Sprechen.
Reynaga: Ich betrachte mein Buch eher als eine Tat, als einen geschriebenen Ton. Es ist ein Baustein, um etwas zu tun. Mein Buch wurde in einigen Ländern, auch in Bolivien, von der Presse kommentiert, aber ich wehre mich dagegen. Denn ich will nicht Literatur über den Indio machen, und ich will nicht, daß sie mein Buch kastrieren.
Reynaga: Das Wort Literatur und das Wort Buch rufen in Europa Respekt hervor. Wenn jemand sagt: „Ich bin Schriftsteller“, sagt er es mit Stolz. Wenn du das in einem kolonisierten Land sagst und weißt, was du sagst, wirst du dich schämen müssen. Wie willst du Literatur machen in einem Land, wo die Leute am Verhungern sind? Ich hatte Hemmungen vor dem Schreiben des Buches, denn ein Buch sollte sich nicht durch sich selbst rechtfertigen.
Mit Sonne und Mond gegen den Christengott
Reynaga: Ich kann dir nur sagen, daß es etwas anderes ist. Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um das Konzept zu entwickeln, von dem du sprichst. Dieses „andere Ding“ kann auch Schweigen sein. Der Weiße hat den Indio einige Sachen sagen gelehrt. Der Augenblick, wenn der Indio aufhört, sie zu sagen, wird sehr wichtig sein. Dieses „andere Ding“ kann auch Religion sein, in der die Sonne der Vater und die Erde die Mutter ist; dann verwandelt sich die Religion in eine weitere Waffe gegen den Kolonialismus. Der europäische Marxismus wird schwer begreifen, daß eine Religion das Instrument für die Befreiung sein kann. Doch wenn der Kolonisierte er selbst sein will, muß er alles einsetzen, außerhalb jeglichen vorgefertigten Konzepts. Mir ist ein „theokratischer“ Indio lieber als einer, der Marx auswendig kann; denn der bleibt kolonisiert. Eine Religion hingegen, wie primitiv sie erscheinen mag, stärkt ihn, und damit revolutioniert er sich selbst.
Reynaga: Marx sprach von der europäischen Religion, der einzigen, die er kannte. Er griff sie zu Recht an. Aber er wußte nichts von der indianischen Religion.
Reynaga: Kurz: Für das Christentum ist der Mensch der Sohn der Sünde, ein Wesen, das leiden muß, um das Glück zu verdienen. In der indianischen Religion ist der Mensch kein Sünder. Er ist der geliebte Sohn der Sonne und der Erde, die zusammen die Pflanzen, die Tiere und die Menschen erzeugen. Es gibt hier keine Spur von Masochismus oder Sadismus wie in der christlichen Religion. Deiner Meinung nach ist das Statische das Schlechte und das Dynamische das Gute. Überdies machst du einen Unterschied zwischen der Zukunft und der Vergangenheit. Ich bin da nicht so sicher. Die europäische Zeit ist eine Linie, die von gestern kommt und in die Zukunft geht. Aber ich fühle die Zeit völlig anders. Für mich ist die Zeit etwas Lebendiges, eine Kugel, in der das Gestern Zukunft gewesen sein könnte — etwas Zyklisches. Die Zeit des Indios ist eine natürliche Zeit, die er in den Sternen, den Pflanzen, Tieren, in sich selber sieht. Es kümmert ihn nicht, daß er immer weiter nach oben geht. Die Zukunft als Konzept ist dem Indio fremd. Er versucht, nicht aufzuhören, das zu sein, was er ist, um jemand oder etwas anderes zu sein.
Der Indio braucht Ivan Illichs „convivial tools“
Reynaga: Man müßte die wunderbaren menschlichen Grundlagen, die die indianischen Kulturen besitzen, mit dem wissenschaftlichen Fortschritt, der den Menschen hilft, verbinden. Der Großteil der wissenschaftlichen Neuerungen zerstört den Menschen. Wenn du eine Liste von wissenschaftlichen Erfindungen machen würdest, wären viele dabei, die verschwinden könnten, und der Mensch würde besser leben. Man müßte die wenigen Erfindungen, die den Menschen wirklich beim Wachsen helfen, mit der kollektiven Erfahrung des Indios verbinden. Es berührt mich sehr seltsam, wenn ein weißer Marxist aus Lateinamerika dem Indio den Sozialismus beibringen will. Der Indio muß den Sozialismus nicht erst lernen. Er trägt den Sozialismus seiner Gemeinschaften im Blut.
*) Das Gespräch führte Leo Gabriel