FORVM, No. 166
Oktober
1967

Jenseits des Kapitalismus

Ein Vortrag in Moskau

Prof. Dr. Franz Nemschak, der international angesehene Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, besuchte im Mai und Juni dieses Jahres die Sowjetunion auf Einladung des Präsidiums der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und als Gast des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen. Nachstehend der Vortrag, den er vor diesem Forum hielt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich vorweg das Thema „Planwirtschaftliche Tendenzen in der kapitalistischen Wirtschaft“ etwas näher erläutern. Das Wörtchen „kapitalistisch“ könnte irreführen. Im Lehrbuch „Politische Ökonomie“, herausgegeben vom Institut für Ökonomie an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Dietz-Verlag Berlin, 1955) fand ich unter dem Stichwort „Kapitalismus“ u.a. die Sätze:

In der kapitalistischen Ordnung ist die Grundlage der Produktionsverhältnisse das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln, das zur Ausbeutung der Lohnarbeiter dient ... Die Klasseninteressen der Bourgeoisie und des Proletariats sind unversöhnlich.

Qualitativ neuer „Kapitalismus“

Ich fürchte, ich würde nicht verstanden werden, wenn ich nicht vorweg erklärte, daß der „Kapitalismus“, wie er im sowjetischen Lehrbuch definiert wird, in den westlichen Ländern nicht mehr existiert oder im Sterben liegt oder, weniger unhöflich und weniger dramatisch gesagt, sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert hat und sich ständig noch verändert. Es handelt sich nicht nur um Veränderungen quantitativer Natur, sondern um solche, die bereits etwas qualitativ Neues hervorgebracht haben; im Westen ist ein neuer wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Typus im Entstehen begriffen, Entwicklungsprodukt eines unerhört dynamischen Prozesses, angetrieben durch die rasante Entwicklung der Produktivkräfte.

Diese neue Wirtschafts- und Gesellschaftsformation wird mit verschiedenen Etiketten versehen: „pluralistische Gesellschaft“, womit ausgedrückt werden soll, daß in der modernen Gesellschaft zahlreiche und vielfältige Interessen, Kräfte und Gegenkräfte am Werke sind und ihren Einfluß ausüben. Andere sprechen von einer „Gesellschaft im Überfluß“ (John Kenneth Galbraith) mit ihren problematischen, manchmal fast skurrilen Begleiterscheinungen; man spricht auch von einer „Revolution der Manager“ (James Burnham) und will damit erklären, daß nicht mehr die Eigentümer der Produktionsmittel, die Bourgeois, sondern die angestellten Direktoren der großen Kapitalgesellschaften das Heft in der Hand haben.

Die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung trägt natürlich noch zahlreiche Züge der alten kapitalistischen, wie auch diese nie alle feudalistischen Kennzeichen abgestreift hat. Für sie sind aber nicht mehr das private Eigentum an den Produktionsmitteln und der elementare Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat charakteristisch und ausschlaggebend, sondern andere Merkmale und neue Widersprüche, wie sie der Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft fortwährend gebiert.

Am Beispiel Österreichs

Vielleicht darf ich diese „permanente Revolution“ im neuen, nicht mehr typisch „kapitalistischen“ Wirtschafts- und Gesellschaftssystem am Beispiel Österreichs verdeutlichen, obwohl meine Heimat nicht der Prototyp eines hochentwickelten „kapitalistischen“ Landes ist. Trotzdem kann man Österreich als Beispiel wählen, weil die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in allen westlichen Ländern, wenn auch auf verschiedenen Wohlstand-Niveaus, sehr ähnlich sind und sich grundsätzlich in gleicher Richtung entwickeln.

Das Urteil über den „Kapitalismus“ orientiert sich besonders an der Einkommensverteilung zwischen selbständigen Unternehmern und unselbständigen Arbeitern und Angestellten, zwischen Eigentümern und Nichteigentümern an den Produktionsmitteln, also zwischen „Bourgeois“ und „Proletariern“.

In Österreich hatten 1963 (letzte verfügbare Einkommensstatistik) von 530.000 selbständigen Unternehmern nur 33% höhere Einkommen als die unselbständigen Arbeiter und Angestellten; die Einkommen von 67% der „Bourgeois“ waren also niedriger als die Durchschnittseinkommen der „Proletarier“.

Das Gesamtbild wird dadurch entstellt, daß unter den „selbständigen“ auch die selbständigen Landwirte mitgezählt werden, die zwar Eigentümer von Produktionsmitteln sind, aber verhältnismäßig niedrige Einkommen beziehen.

Ohne Landwirte hatten 64% der selbständigen Unternehmer höhere Einkommen als die Unselbständigen; somit bleibt auch nach dieser „Bereinigung“ immer noch ein starkes Drittel der „Bourgeois“ unter dem Durchschnittseinkommen der „Proletarier“, wenn ich mich in dieser Terminologie ausdrücken darf.

Natürlich gibt es in beiden Gruppen, unter den Unternehmern wie unter den Unselbständigen (Arbeiter und Angestellte), Spitzenverdiener, die weit über dem Durchschnitt liegen.

4% der selbständigen Unternehmer (ohne Landwirte 9%) und 1% der Unselbständigen (Arbeiter und Angestellte) verdienen mehr als das Fünffache der Durchschnittslöhne; 1½% der selbständigen Unternehmer (ohne Landwirte 3%) verdienen sogar zehnmal mehr als ein Unselbständiger im Durchschnitt.

Es ist richtig, daß es unter den Spitzenverdienern viel mehr selbständige Unternehmer gibt als unselbständige Angestellte (Arbeiter gibt es unter den Spitzenverdienern nicht mehr). Absolut gesehen spielen aber die Einkommen der Spitzenverdiener (Selbständige und Unselbständige zusammen) in ihrem Anteil am gesamten Volkseinkommen keine entscheidende Rolle.

Daß der Unterschied zwischen dem Konsum der Selbständigen („Bourgeois“) und der Unselbständigen („Proletarier“) nicht übermäßig groß ist, bestätigt eine Konsumerhebung von 1964. Ihr zufolge waren die Verbrauchsausgaben der Selbständigen-(Bourgeois-)Haushalte in den Städten nur um 14% höher als die Verbrauchsausgaben der Angestellten- und Beamtenhaushalte.

Im Zeitalter des Früh- und Hochkapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert sind die Gewinne (Profite) viel rascher gestiegen als die Löhne. In den letzten 50 Jahren dagegen, von 1913 bis 1966, sind in Österreich (in anderen Ländern war die Entwicklung ähnlich) die Löhne pro Arbeiter relativ stärker gestiegen als die Gewinne pro Unternehmer; die Unternehmer-Gewinne pro Kopf sind in diesem halben Jahrhundert in Österreich (nominell) um das 30fache, die Arbeiterlöhne pro Kopf aber um das 36fache gestiegen.

Im Jahre 1913 entfielen in Österreich 51% des Volkseinkommens auf Löhne und Gehälter, 1966 bereits 66%.

Dazu vielleicht eine kleine Illustration aus der jüngeren Vergangenheit: von 1953 bis 1966 ist in Österreich (2,3 Mill. Haushalte) die Zahl der Personenkraftwagen von 75.000 auf 880.000 gestiegen; 1953 gehörten nur 20% der Personenkraftwagen (14.000 Stück) Unselbständigen („Proletariern“), 1966 bereits 65% (570.000 Stück).

Es liegt mir völlig fern, den „Kapitalismus“ zu rühmen. Ich will nur darauf hinweisen, daß der ursprüngliche „Kapitalismus“ nicht mehr existiert und wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben.

Euckens dualistische Theorie

Der bekannte Nationalökonom und Soziologe Walter Eucken (1884-1950) entwickelte in den Dreißigerjahren die Theorie, daß es idealtypisch nur zwei Wirtschaftssysteme gebe: die Marktwirtschaft und die zentrale Planwirtschaft.

In der „kapitalistischen“ Marktwirtschaft werde die Wirtschaft von Millionen Einzelnen, von den Unternehmern und Haushalten (Konsumenten) dezentral geplant, wobei die zahllosen Teilpläne mit Hilfe der Preise über den Wettbewerbsmechanismus koordiniert werden.

In der sozialistischen Planwirtschaft sei allein der Staat, die politische Gemeinschaft, Träger der wirtschaftlichen Pläne. Der Einzelne sei an diese Pläne gebunden, er habe sie lediglich auszuführen, er sei für die Erfüllung oder Nichterfüllung des zentralen Planes verantwortlich.

Im Zusammenhang mit dem Kriterium der Lenkung und Koordinierung des Wirtschaftsprozesses (durch die Millionen Einzelnen oder durch den Staat) spiele auch ein zweites Kriterium eine wichtige Rolle: das Eigentum an Produktionsmitteln. Da sich die Marktwirtschaft auf dem Fundament des Privateigentums an den Produktionsmitteln entwickelt hat und die zentralgelenkte Planwirtschaft unlösbar mit dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln verbunden zu sein scheint, werden Privatwirtschaft—Marktwirtschaft—Kapitalismus einerseits, Gemeinwirtschaft—Planwirtschaft—Sozialismus (Kommunismus) anderseits häufig identifiziert.

Illusorische Trennung

Die Theorie von Eucken leistete in der Zeit des „kalten Krieges“ ihre besten Dienste und mag auch heute noch bei der Ergründung der spezifischen Merkmale der verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in Ost und West als didaktischer Orientierungsbehelf nützlich sein. Anderseits darf man nicht übersehen, daß die rasche Entwicklung der Produktionskräfte und des allgemeinen Wohlstands in den letzten Jahrzehnten die streng idealtypische Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft illusorisch gemacht hat. Das gilt zumindest für die westliche Welt. Dort hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß auch in einer grundsätzlich über Markt, Wettbewerb und Preismechanismus gesteuerten Wirtschaft eine volkswirtschaftlich optimale Entfaltung der Produktivkräfte nicht ohne ein hohes Maß an zentraler Planung und Lenkung der Wirtschaft möglich ist.

Die wirtschafts- und sozialpolitisch gleich wichtigen Ziele: kräftiges Wirtschaftswachstum, dauernde Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards, hohe Beschäftigung, möglichste Stabilität des Geldwertes und eine auf längere Sicht ausgeglichene Zahlungsbilanz lassen sich in der überaus komplizierten, hoch spezialisierten und international eng verflochtenen, von starken Verbandsinteressen (Gewerkschaften und Unternehmerverbänden) durchsetzten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft von heute nicht ohne staatliche Wirtschaftsplanung und Wirtschaftslenkung verwirklichen.

Planung als Hauptthema der Wissenschaft

Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß sich die Nationalökonomen und Soziologen in den westlichen Ländern seit Jahren sehr intensiv mit der vielschichtigen Problematik der Wirtschaftsplanung beschäftigen. Die Fachliteratur über diesen Gegenstand schwillt rasch an. Ordnungspolitische Prinzipien weichen den Geboten der Zweckmäßigkeit. Für die gegenwärtige Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften im Westen ist symptomatisch, daß auf der letzten Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, „Verein für Sozialpolitik“, der ältesten und angesehensten wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft im deutschen Sprachraum (gegründet 1872), im September 1966 in Hannover, die von über tausend Wissenschaftern aus den verschiedensten Ländern besucht wurde, das Thema: Rationale Wirtschaftspolitik und Planung in der Wirtschaft von heute auf der Tagesordnung stand.

Eine kleine Auslese von Vorträgen, die auf dieser Tagung gehalten wurden, mag eine repräsentative Vorstellung vermitteln, über welche Probleme der Wirtschaftsplanung sich gegenwärtig die westlichen Nationalökonomen die Köpfe zerbrechen.

  • Prof. DDr. Walter A. Jöhr, St. Gallen (Schweiz), referierte über „Planung als Mittel rationaler Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft“. Er sprach u.a. über Wesen, Methoden und Anwendungsbereiche der Planung in einer Volkswirtschaft und definierte „Planung als die bewußte vorausschauende Koordinierung verschiedener wirtschaftlicher Tätigkeiten“. Er wies darauf hin, daß die Tätigkeit der öffentlichen Körperschaften (Landesverteidigung, Verkehr, Post, Straßenbau, Gesundheitswesen, Bildungswesen, Hafenanlagen, Zivilluftfahrt usw.) auch in der Marktwirtschaft geplant und die Tätigkeit der verschiedenen Planungsinstanzen auf verschiedenen Stufen koordiniert werden müsse. Der marktwirtschaftliche Prozeß selbst könne zwar nicht in allen Einzelheiten geplant werden, der Staat habe aber die Möglichkeit und die Pflicht, diesen Prozeß auf verschiedene Weise zu beeinflussen und zu lenken.
  • Prof. DDr. Helmut Arndt (Berlin) wählte das Thema „Planung als Problem der Marktwirtschaft“ und stellte fest, daß in einer Marktwirtschaft sowohl die privaten als auch die staatlichen Planungen problematisch seien. Daher müsse man sich darüber klar werden, wann und aus welchen Gründen private Planungen durch staatlich zentrale Planungen zu korrigieren oder zu ersetzen sind. Umgekehrt müsse man auch erkennen, wann und aus welchen Gründen staatliche Planungen in einer Marktwirtschaft fragwürdig sind.
  • Auf dieser Tagung wurde u.a. noch über folgende Themen referiert und diskutiert: „Die Durchsetzbarkeit rationaler Wirtschaftspolitik in der pluralistischen (westlichen) Gesellschaft“ (Prof. Giersch), „Planung in der öffentlichen Finanzwirtschaft“ (Prof. Neumark, Frankfurt a.M), „Plankoordinierung in der Regionalpolitik“ (Prof. Schneider, Münster).

Ähnliche Tagungen und Symposien über „Planung in der Marktwirtschaft“, „Planung der Wirtschaftspolitik“ und verwandte Themen finden wir in allen westlichen Ländern. Auch die Universitäten, Wirtschaftshochschulen und Wirtschaftsforschungsinstitute beschäftigen sich eingehend mit dieser Thematik.

In allen westlichen Ländern hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die staatliche Wirtschaftspolitik planmäßig zu Werke gehen und ihre Entscheidungen auf Grund von wohlüberlegten Zielvorstellungen fällen muß, wenn sie erfolgreich sein will.

Die französische „Planification“

Am festesten verankert ist der Gedanke der Wirtschaftsplanung in Frankreich. Der Zusammenbruch Frankreichs im Zweiten Weltkrieg hat die Franzosen aufgerüttelt. Sie erkannten, daß Frankreich nur auf einer gesunden wirtschaftlichen Basis eine Chance hat, als Kulturnation und Faktor der Weltpolitik eine Rolle zu spielen. Dem rationalistischen Denken der Franzosen entsprach das Konzept einer kollektiven Planung der Gesamtwirtschaft. In Frankreich werden schon seit Kriegsende Wirtschaftspläne für Perioden von jeweils vier bis fünf Jahren aufgestellt, in denen die Regierung ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Absichten darlegt.

Die Planziele der Regierung werden niemandem aufgezwungen, sondern sind unverbindliche Leitbilder für Unternehmer-Entscheidungen. Allerdings wird plankonformes Verhalten der Unternehmer durch staatliche Förderungsmaßnahmen und verschiedene Anreize (z.B. verbilligte Kredite) unterstützt. Die Planung liegt in den Händen von hervorragend ausgebildeten Fachleuten (inspecteurs de finance). Ihre Breitenwirkung beruht vor allem darauf, daß die verschiedenen sozialen Gruppen (Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Landwirte, Familienverbände u.a.) an der Ausarbeitung der Pläne mitwirken und die Unternehmer die Planziele freiwillig als Richtschnur für ihre Entscheidungen benützen.

Die französische „planification“ ist in der westlichen Welt ein Begriff geworden, ohne in der Praxis erstarrt zu sein. Im Gegenteil, die Franzosen versuchen ständig, ihre Wirtschaftsplanung zu verbessern. Im fünften Plan, der am 1. Jänner 1966 für 5 Jahre in Kraft getreten ist, wurde z. B. ein System von „Warnsignalen“ eingebaut; sobald diese aufleuchten, werden Korrekturen vorgenommen, nötigenfalls sogar die Planziele geändert.

Planung in der Bundesrepublik

Im Gegensatz zu Frankreich wurde in der Bundesrepublik Deutschland „Wirtschaftsplanung“, unter welcher Bezeichnung sie auch immer segelte, ob als „Planifikation“ oder „Programmierung“, lange Zeit skeptisch beurteilt. Trotzdem hat sich auch in der Bundesrepublik Deutschland der Gedanke, daß die Wirtschaftspolitik geplant und wissenschaftlich fundiert werden müsse, allmählich durchgesetzt.

1963 wurde gesetzlich ein „Sachverständigenrat“ ins Leben gerufen, der aus fünf unabhängigen hervorragenden Nationalökonomen gebildet wurde. Er hat jährlich mindestens ein Gutachten über die Lage und die voraussichtliche Entwicklung der gesamten Wirtschaft auszuarbeiten und zu untersuchen, wie in der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Preisstabilität, kräftiges Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht gewährleistet werden können.

Solange Ludwig Erhard, ein Anhänger der Schule Euckens, an der Spitze der deutschen Bundesregierung stand, waren der Wirtschaftsplanung die Hände gebunden. Der neue Wirtschaftsminister Prof. Karl Schiller ist ein hervorragender moderner Nationalökonom und Befürworter einer sozialistischen Marktwirtschaft. Sein Konzept erklärte er vor Jahren im neuen Handbuch für Sozialwissenschaften. Der komplizierte Wirtschaftsprozeß soll mit Hilfe eines reichhaltigen konjunkturpolitischen Instrumentariums planmäßig gesteuert werden. Man denkt an eine zielbewußte, unorthodoxe, wettbewerbsorientierte, „antizyklische“ Wirtschafts- und Finanzpolitik, an eine „konzertierte“ Einkommens-, Budget-, Währungs- und Kreditpolitik, mit dem Ziele, möglichst hohes Wachstum bei möglichst großer Geldwertstabilität zu erreichen. Diese Wirtschafts- und Sozialpolitik soll sich auf eine vertrauensvolle Kooperation der „Sozialpartner“ (Unternehmer und Arbeiter, Unternehmerverbände und Gewerkschaften) stützen.

Planung in Großbritannien

In Großbritannien hatte die „Wirtschaftsplanung“ bisher ein wechselvolles Schicksal. Der Sturz der Labour-Regierung (1951) brachte sie zunächst in Mißkredit. In den Sechzigerjahren gewannen auch die Konservativen unter dem Eindruck der hartnäckigen Stagnation der englischen Wirtschaft ein positiveres Verhältnis zur Planung in der Wirtschaft. Im Herbst 1962 wurde der „National Economic Development Council“ gegründet, mit der Aufgabe, die Regierung bei der langfristigen Planung der Wirtschaft zu unterstützen. Diese Institution arbeitete einen langfristigen Plan für die Entwicklung der englischen Wirtschaft bis 1966 aus, mit Prognoseziffern über Wachstumsrate, Produktion und Investitionen in den einzelnen Branchen sowie eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen für wirtschaftspolitische Maßnahmen.

Unter der Labour-Regierung Wilson bekam die „Wirtschaftsplanung“ neuen Auftrieb. Die Briten versuchen jetzt, das Muster der französischen „planification“ zu kopieren, stoßen aber auf Schwierigkeiten, da der Staat in England keine so starke wirtschaftliche Stellung besitzt wie in Frankreich. Die neue Labour-Regierung hat ein „Department of Economic Affairs“ gebildet, das zahlreiche Funktionen des „National Economic Development Council“ übernommen hat und die Wirtschaftsplanung auf eine viel breitere Grundlage stellt als unter der Regierung der Konservativen.

Planung in Skandinavien

In Norwegen werden seit 1954 „Vierjahrespläne“ für die Entwicklung der Wirtschaft aufgestellt, die Regierung arbeitet mit Jahresplänen und mittelfristigen Aktionsprogrammen. Im Finanzministerium gibt es seit 1963 auch eine Abteilung für Regionalplanung.

In Schweden bemüht sich die Regierung, den notwendigen Umstellungsprozeß der Wirtschaft und die Bildung größerer Produktionseinheiten (Konzentration der privaten Unternehmungen) planmäßig zu beschleunigen. Zu diesem Zweck soll eine Staatsbank gegründet werden, die für die Finanzierung der Strukturänderungen langfristige Kredite gewähren soll.

Planung in den Niederlanden

In den Niederlanden dient ein „zentrales Planungsamt“ der Regierung als Beratungsorgan. Es stellt Wirtschaftspläne auf; bisher waren es meist Jahrespläne, vereinzelt auch langfristige Pläne, gegenwärtig versucht man auch in die mittelfristige Planung vorzudringen. Das „zentrale Planungsamt“ hat ferner die verschiedenen wirtschaftspolitischen Aktionen der Ministerien zu koordinieren und Spezialuntersuchungen anzustellen.

Planung in Italien

In Italien wurde im Herbst 1962 eine „Nationale Kommission für Programmierung“ gegründet. Ihre „Wirtschaftspläne“ enthalten Prognoseziffern und wirtschaftspolitische Richtlinien, die aber nicht verbindlich sind. 1965 wurde ein Fünfjahresplan aufgestellt, mit dem Ziele, die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien und zwischen den einzelnen Produktionszweigen zu beseitigen. Das wichtigste und wirksamste Element der Wirtschaftsplanung bildet in Italien die mit Hilfe staatlicher Holding-Gesellschaften betriebene Koordination der Industrie.

Planung in USA

In den Vereinigten Staaten von Amerika besitzt der Präsident im „Employment Act“ von 1946 gesetzliche Handhaben für eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Der Präsident wird von „Council of Economic Advisers“ beraten. Das „Joint Economic Committee“ ist das Organ der wirtschaftspolitischen Meinungsbildung des Parlaments; es nimmt zum Bericht und zu den Empfehlungen des Präsidenten kritisch Stellung, macht Sonderuntersuchungen und veranstaltet „Hearings“.

Planung in Japan

In Japan dominiert ebenso wie in den bisher genannten Weststaaten die Privatwirtschaft. Trotzdem wurde seinerzeit ein „Plan zur Verdoppelung des Volkseinkommens 1961 bis 1970“ entworfen. Er enthielt wichtige volkswirtschaftliche Größen und wurde von einem „Wirtschaftsplanungsamt“ im Ministerrang vertreten. Der „Plan“ unterschied zwischen den Aufgaben des Staates im öffentlichen und im privaten Sektor der Wirtschaft.

Im öffentlichen Sektor ist der Staat unmittelbar verantwortlich für die Infrastruktur, für Erhaltung und Verwertung der natürlichen Hilfsquellen des Landes, für Erziehung, Wissenschaft und Technik sowie für soziale Fürsorge. Im privaten Sektor soll sich der Staat auf „Voraussage und Führung“ beschränken. Die Regierung soll Bedingungen schaffen, welche die Initiative der Unternehmer stimulieren, Strukturumwandlungen der Industrie fördern und eine ruhige Preisentwicklung im Interesse der Verbraucher garantieren.

Da die tatsächliche Entwicklung den Zehnjahrplan über den Haufen geworfen hat, wurde an seiner Stelle ein „mittelfristiger Plan 1964 bis 1968“ aufgestellt, der auf die Postulierung ehrgeiziger Planziele verzichtet, aber durch verschiedene Maßnahmen die Entwicklung der Produktivkräfte zu fördern versucht: Ausweitung des Außenhandels, Aufbau einer hochleistungsfähigen Industriestruktur, höhere Qualifizierung und größere Mobilität der Arbeitskräfte, Verbesserung des Lebensstandards, Nutzung des technischen Fortschritts, Förderung der Forschung.

Dieser kurze und unvollständige Überblick möge zeigen, daß heute auch die westlichen Länder, in denen die Wirtschaft grundsätzlich über den Markt gesteuert wird, auf Planung in der Wirtschaftspolitik nicht mehr verzichten wollen, weil sie mit Recht befürchten, daß eine planlose Wirtschaftspolitik auf die Dauer zu Mißerfolg verurteilt ist.

Internationale Planung

Im Zeitalter der Düsenflugzeuge und Nachrichtensatelliten, seitdem ungeheure Entfernungen in kürzester Zeit überbrückt werden, die einzelnen Volkswirtschaften weltweit zusammenarbeiten und mannigfach miteinander verflochten sind, genügt es im Westen nicht mehr, die Wirtschaftspolitik bloß national zu planen. Vielmehr wird es immer notwendiger, die nationalen Wirtschaftspolitiken auf verschiedenen Gebieten aufeinander abzustimmen, zu koordinieren oder sogar zu fusionieren und gemeinsame Wirtschaftspolitiken zu entwickeln.

In lockerer Form und auf bestimmte Sachgebiete beschränkt haben schon bisher verschiedene internationale Institutionen in diesem Sinne gewirkt: z.B. die Economic Commission for Europe (ECE in Genf), die Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD in Paris), das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT in Genf), die Europäische Konferenz der Verkehrsminister in Paris, die Montanunion in Luxemburg, auf monetärem Gebiet der Internationale Währungsfonds und die Weltbank in Washington, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ in Basel).

Planung in der EWG

Mit der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), vor allem seit sie in die zweite Stufe ihrer Verwirklichung eingetreten war (1962), begann sie die Wirtschaftspolitik zunächst der sechs Mitgliedstaaten in einem festeren Rahmen planmäßig auf bestimmte Ziele auszurichten. Der Rom-Vertrag selbst verwendet nicht ausdrücklich die Worte „Wirtschaftsplanung“ oder „Programmierung“, enthält aber in mehreren Artikeln (2, 6, 103 und 145) Bestimmungen über „Koordinierung“, „Abstimmung“ und „schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik“ der Mitgliedstaaten.

Die Kommission der EWG hat in einem Memorandum „Mittelfristige Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft“, das Ende Jänner 1964 vom Europäischen Parlament einstimmig gebilligt und am 15. April 1964 vom Ministerrat der EWG angenommen wurde, ganz konkrete Vorstellungen und praktikable Vorschläge für eine planmäßige Gestaltung der Wirtschaftspolitik in einer Marktwirtschaft entwickelt.

Ich kann nur die Hauptgedanken dieses Konzeptes wiedergeben, das mir der Versuch einer schöpferischen Synthese der beiden gegensätzlichen Ordnungsprinzipien, der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft, zu sein scheint.

Die EWG-Kommission denkt nicht an einen bis in das Detail ausgearbeiteten Wirtschaftsplan, sondern an eine längerfristige Rahmenplanung. Bereits in ihrem Aktionsprogramm hieß es:

Nach Auffassung der Kommission muß die Gemeinschaft über ihre künftige Entwicklung eine mehrere Jahre umfassende Übersicht haben. Diese Vorausschau wäre keineswegs gleichbedeutend mit einem autoritäten Plan, der die Freiheit des Marktes beeinträchtigen und den Privatunternehmern vorgeschrieben würde, sondern mit einem Rahmen vergleichbar, in den sich die Maßnahmen der Regierung und der Institutionen einfügen würden.

Ordnungspolitisch steht die EWG fest auf dem Boden einer von Preisen und Wettbewerb gelenkten Marktwirtschaft. Sie übersieht jedoch nicht, daß der Staat auf das Wirtschaftsleben einen bestimmenden Einfluß ausübt, fließt doch etwa ein Drittel des gesamten Volkseinkommens in den westlichen Ländern durch die öffentlichen Haushalte.

Die Interventionen des Staates müßten jedoch rationell und konzeptiv erfolgen. Wenn der Staat nur punktuell, von Fall zu Fall, eingreift, und wenn er nur die kurzfristigen Auswirkungen berücksichtigt,

besteht die Gefahr, daß die schließlich ergriffenen Maßnahmen einerseits zu spät wirksam werden, um die Entwicklung noch beeinflussen zu können, und andererseits zusammenhanglos und widersprüchlich sind. Es scheint daher immer notwendiger, mehrjährige Überblicke über die künftige Wirtschaftsentwicklung zu erarbeiten, damit sich die Interventionen der staatlichen Organe in einen kohärenten Rahmen einfügen können.

Die Wirtschaftspolitik soll also langfristig und sachkundig, auf Grund von wissenschaftlich erarbeiteten Analysen und Prognosen disponieren. Diese Prognosen als Grundlage des mittelfristigen Programmes binden nur die staatlichen Instanzen. Sie sollen aber nicht die Entscheidungsfreiheit der Unternehmer beschränken, sondern

ihnen im Gegenteil durch das Bereitstellen von Anhaltspunkten über die auf nationaler und europäischer Ebene beabsichtigte Politik gewisse Produktions- und Investitionsentscheidungen erleichtern.

Dem EWG-Konzept liegt die Erkenntnis zugrunde, daß infolge der hochgradigen gegenseitigen Abhängigkeit der Volkswirtschaften die Wirtschaftspolitik im nationalen Raum allein heute nicht mehr erfolgreich sein kann.

In gegenseitig geöffneten Volkswirtschaften üben wirtschaftspolitische Maßnahmen in einem Land Einflüsse auf das wirtschsftliche Geschehen anderer Länder aus. Ebenso können die in einem Land getroffenen Maßnahmen oft nur die gewünschte Auswirkung haben, wenn sie nicht durch entgegengesetzte Maßnahmen anderer Staaten durchkreuzt werden.

Die EWG vertritt daher die Auffassung, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik in ihren verschiedenen Bereichen auf europäischer Ebene längerfristig geplant, koordiniert, harmonisiert, nötigenfalls fusioniert werden müsse.

Symbiose von Markt- und Planwirtschaft

Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus diesen Feststellungen und Überlegungen?

Auch der leidenschaftlichste Anhänger des Privateigentums kann nicht übersehen, daß die Marktwirtschaft von heute (die kapitalistische Wirtschaft von gestern) mit zahllosen plan- und gemeinwirtschaftlichen Elementen durchsetzt ist, mehr noch, daß die westliche Marktwirtschaft ohne planmäßig operierende, bewußt auf das Gemeinwohl zielende Wirtschaftspolitik gar nicht mehr funktionieren kann.

Der Dynamik unseres technischen Zeitalters mit seinen komplizierten wirtschaftlichen und soziologischen Strukturen, der unaufhaltsamen Zunahme der kollektiven Bedürfnisse sowie der gleichzeitig unverminderten Hochschätzung der Freiheit des individuellen Verbrauchs und der Berufswahl, entspricht in der westlichen Welt offenbar am besten eine Symbiose verschiedener Wirtschaftsformen, eine wechselseitige Ergänzung, Durchdringung und Befruchtung privatwirtschaftlicher und gemeinwirtschaftlicher, marktwirtschaftlicher und planwirtschaftlicher Formen und Prinzipien.

Abgrund oder Annäherung

Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick die dramatische Situation, in der sich die Menschheit befindet.

Die menschliche Gesellschaft treibt immer rascher in eine ungewisse Zukunft. Die wissenschaftlich-technische Revolution stürmt von der Mechanisierung über Rationalisierung und Spezialisierung zur Automatisierung weiter. Wetter- und Nachrichtensatelliten umkreisen in wenig mehr als einer Stunde die Erde, auf der hart nebeneinander Überfluß und Armut herrschen. Der Mensch stößt in den Weltraum hinaus und bereitet seine erste Landung auf fremden Planeten vor, während er auf der Erde Waffen von erschreckender Vernichtungskraft entwickelt hat, die alles irdische Leben auslöschen könnten.

Gleichzeitig vermehrt sich die Bevölkerung der Erde explosionsartig. Sie wird sich bis zum Jahre 2000 auf 6 bis 7 Milliarden Menschen verdoppelt haben. Nur noch ein Fünftel wird der weißen Rasse angehören, Nordamerikaner und Russen, West- und Osteuropäer und die über den Erdball verstreuten Weißen werden zusammen nur eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung bilden. Der Aufbruch der Farbigen hat begonnen, sie fordern ungeduldig Gleichberechtigung und Anteil an den Reichtümern der Erde. Sie wollen, oft noch unter archaischen gesellschaftlichen Verhältnissen lebend, möglichst rasch an Gegenwart und Zukunft Anschluß finden.

Die hochentwickelten Industriestaaten in West und Ost stehen vor einer beispiellosen Herausforderung, der sie nur in gemeinsamer Anstrengung gewachsen sein werden. Sie tragen gemeinschaftlich die Verantwortung für das ganze Menschengeschlecht.

Vor diesem Hintergrund gibt es für den Wirtschaftsforscher, Soziologen und Politologen kaum eine faszinierendere und lohnendere Aufgabe, als sich mit den Entwicklungstendenzen in den Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen in West und Ost zu beschäftigen.

„Konvergieren“ die beiden gegensätzlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in Ost und West wirklich und können wir daher berechtigt hoffen, daß aus der fragwürdigen „friedlichen Koexistenz“ in absehbarer Zeit eine echte Kooperation auf breiterer Grundlage wird, oder handelt es sich bloß um einen Wunschtraum?

Tinbergens Konvergenztheorie

Prof. Jan Tinbergen (Rotterdam), der Vater der „Konvergenztheorie“, vertritt seit Jahren die Auffassung, daß sich die beiden Wirtschaftssysteme annähern.

In der sowjetischen Wirtschaft gewännen die Spezialbildung und der Einfluß des Managements immer mehr Bedeutung. An die Stelle der Gleichmacherei sei eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik getreten. Das Geld wurde in seiner Funktion als allgemeiner Wertmesser in das Planungssystem wieder eingeführt. Die Bedeutung von Kosten und Preisen werde mehr und mehr anerkannt. Der Zins spiele als Kostenfaktor wieder eine Rolle. Das Recht der freien Konsumwahl werde respektiert. Die Planung bediene sich ökonometrischer Methoden, die lange Zeit als „kapitalistisch“ abgelehnt worden waren; so z.B. werde auf beiden Seiten die Input-Output-Methode und die „lineare Programmierung“ angewandt. Schließlich habe man eingesehen, daß der internationale Handel nicht nur zwischen kommunistischen Ländern, sondern auch zwischen kommunistischen und freiheitlichen Volkswirtschaften nützlich ist.

Anderseits werde in der „kapitalistischen“ Wirtschaft der Einfluß der öffentlichen Hand immer größer. Mehr oder minder große Teile der Wirtschaft seien verstaatlicht. Hohe Steuern haben zur Folge, daß der Staat in großem Umfang investiere (nicht nur in der Infrastruktur) und die Konjunktur beeinflusse. Die freie Konkurrenz werde immer mehr eingeschränkt. Der Zugang zu den Bildungsstätten stehe praktisch allen offen. Volkswirtschaftliche Planungsmethoden gewännen wachsende Bedeutung. Verschiedene Märkte, nicht nur in der Landwirtschaft, würden reguliert. Globale Interventionen der staatlichen Wirtschaftspolitik bedürften immer öfter der Ergänzung durch selektive, zielende. Die Struktur- und Regionalpolitik könne überhaupt nicht dem Marktautomatismus überlassen bleiben, usw.

Tinbergen übersieht nicht, daß die Unterschiede zwischen der „kommunistischen“ und der „kapitalistischen“ Wirtschaftsordnung noch außerordentlich groß sind, aber beide Systeme stünden vor ähnlichen Problemen, die in einer hochentwickelten Industriegesellschaft verwandte Lösungen nahelegen. Da sich die Ziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik in West und Ost immer mehr nähern, würden sich auch die beiden „Wirtschaftsstrukturen“ auf eine optimale Struktur hin bewegen.

Optimisten spinnen den Faden weiter und glauben, daß die gegenseitige Annäherung im Bereich der Wirtschaft schließlich auch auf außerwirtschaftliche Gebiete ausstrahlen und insbesondere auch die Politik beeinflussen werde.

Kritik an der Konvergenztheorie

Auf der anderen Seite stehen bedeutende Persönlichkeiten in West und Ost der These von der Annäherung des „kapitalistischen“ und des „sozialistischen“ Wirtschaftssystems kritisch und skeptisch gegenüber.

Einer ihrer Wortführer, Prof. Thalheim (Berlin), weist darauf hin, daß in der Sowjetunion nach wie vor das Individualeigentum an den Produktionsmitteln grundsätzlich abgelehnt werde. Der sowjetische Direktor könne, im Vergleich zu seinem Kollegen in westlichen Kapitalgesellschaften, nur innerhalb eines kleinen Spielraumes frei entscheiden. Die Preisbildung erfolge durch die Behörden, daher sei der Preis kein Indikator der wirtschaftlichen Knappheit und keine brauchbare Grundlage für Investitions-Entscheidungen. Es bestehe auch kein Wettbewerb in marktwirtschaftlichem Sinne, Betriebe entstehen und verschwinden nicht unter Wettbewerbsbedingungen. Vor allem aber entscheide über die wirtschaftlichen Ziele letztlich nicht der Konsument, sondern die politische Instanz.

Was immer die Sowjetunion bisher an marktwirtschaftlichen Ideen und Instrumenten übernommen und in ihr System eingebaut habe, sei keine Liberalisierung im Sinne der westlichen Marktwirtschaft gewesen, sondern diente ausschließlich der Festigung der kommunistischen Planwirtschaft, hatte nur den Zweck, das eigene System rationaler, produktiver, anpassungsfähiger und widerstandskräftiger zu machen.

Das gelte auch für die mit dem Namen des Prof. Liberman verbundenen Reformvorschläge, die dem „Gewinn“ als Maßstab für die Leistungsfähigkeit und Rationalität des einzelnen Betriebes eine größere Bedeutung zukommen lassen wollen. Im Grunde habe sich die sowjetische Planwirtschaft nicht geändert, sie sei nur elastischer und flexibler geworden. Zwischen den Wirtschaftssystemen in Ost und West bestünden daher nach wie vor fundamentale Gegensätze.

Ich bin stark beeindruckt, daß auch prominente Vertreter der Sowjetunion von einer „Konvergenz“ der beiden Wirtschaftssysteme nichts wissen wollen. Prof. L. Leontjew (Moskau) wies diese These als „unrealistisches Produkt spekulativ veranlagter Kreml-Astrologen“ zurück. Es sei oberflächlich und unwissenschaftlich, von einem Eindringen „kapitalistischer Wirtschaftsformen“ in die zentrale Planwirtschaft zu sprechen.

Leontjew zufolge könne und dürfe die zentrale Planung nur aus ihrem System heraus erklärt und gerechtfertigt werden, sie entspräche einer historischen Notwendigkeit.

Sie sei das einzige adäquate Mittel, das die Sowjetunion in einem knappen halben Jahrhundert aus einem rückständigen Agrarstaat in den zweitstärksten Industriestaat der Welt umwandeln konnte. Diese Transformierung erforderte eine gewaltige Anspannung aller Kräfte, die Konzentration der gesamten Energie des Volkes, es mußten ungeheure Schwierigkeiten überwunden werden. Die Industrialisierung der Sowjetunion wäre in so kurzer Zeit nicht möglich gewesen ohne straffe Zentralisierung aller wirtschaftlichen Mittel und Hilfsquellen.

Bei einer anderen Gelegenheit erklärte Prof. Leontjew sinngemäß, daß man die tatsächlichen Unterschiede zwischen den beiden Wirtschaftssystemen nicht verwischen, sondern erkennen und das Wissen um diese Unterschiede verbreiten solle. Damit würde man der Verständigung zwischen Oste und West am besten dienen.

An diese Mahnung möchte ich anknüpfen. Ich glaube, daß Leontjew die Aufgaben und die Grenzen einer vernünftigen Ost-West-Forschung realistisch abgesteckt hat.

Produktivkraft Persönlichkeit

Die Wirtschaftsforscher, Soziologen und Politologen in Ost und West sollten sich tatsächlich vor allem bemühen, die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme zu verstehen und nicht primär auf die „Bekehrung“ des „Gegners“ bedacht sein. Als Wissenschafter sollten wir möglichst vorurteilsfrei die hochinteressante Evolution der Wirtschaftssysteme in Ost und West erfassen und zu verstehen trachten, statt leichtfertig Werturteile zu fällen.

Beide Wirtschaftssysteme stehen unter dem harten Gesetz, im Interesse ihrer Selbstbehauptung ihre Produktivkräfte optimal entfalten zu müssen. In den hochentwickelten Industriegesellschaften von heute ist nicht mehr der Boden und auch nicht mehr das Kapital als „produziertes Produktionsmittel“, sondern der Mensch mit seiner schöpferischen Initiative, seinem Forschungsdrang, Erfindergeist und seinem Verantwortungsbewußtsein für die Gemeinschaft die weitaus wichtigste Produktivkraft. Daher müssen beide Wirtschaftssysteme der Entfaltung der Persönlichkeit größte Aufmerksamkeit widmen.

Wien — künftiges Zentrum der Ost-West-Forschung

Wenn man bedenkt, was hier auf dem Spiele steht, dann kann die Bedeutung einer seriösen Ost-West-Forschung kaum überschätzt werden. Tatsächlich beschäftigen sich fast alle westlichen Länder mit „Ostforschung“. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die „Sowjetologie“ zu einer eigenen weitverzweigten wissenschaftlichen Disziplin geworden. Auch die Sowjetunion und andere osteuropäische Staaten bekunden wachsendes wissenschaftliches Interesse für das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.

In Österreich ist eine Ost-West-Forschung erst in Ansätzen vorhanden. Das ist eigentlich erstaunlich, gibt es doch verschiedene Faktoren, die besonders in Österreich eine Ost-West-Forschung begünstigen: die geographische Lage, das geschichtliche Erbe und den Status der immerwährenden Neutralität.

Der vielleicht wichtigste Grund jedoch, warum gerade in Österreich eine nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch-praktisch orientierte Ost-West-Forschung tiefe Wurzeln schlagen könnte, besteht darin, daß kein westliches Land mit der Problematik „Privatwirtschaft—Gemeinwirtschaft“ so nachdrücklich konfrontiert ist wie Österreich. In keinem westlichen Land ist der Anteil der „Gemeinwirtschaft“ (Hoheitsverwaltung, verstaatlichte Industrie und Banken, Betriebe des Bundes, der Länder und Gemeinden, Unternehmungen sonstiger Öffentlich-rechtlicher Körperschaften, Genossenschaften) an der gesamten Volkswirtschaft so groß wie in Österreich. Österreich hat daher ein vitales Interesse nicht nur an einer möglichst vorurteilsfreien, ideologie-ungebundenen geistigen Durchdringung der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, sondern vor allem auch an konstruktiven praktikablen Lösungen. Die am „Modell Österreich“ gewonnenen Erfahrungen werden auch für andere Länder in Ost und West interessant und lehrreich sein.

Diese Überlegungen haben das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung, das heuer sein 40jähriges Bestandsjubiläum feiert, bewogen, künftig auch der Ost-West-Forschung einen gebührenden Platz in seinem Arbeitsprogramm einzuräumen.

Wir glauben, daß die Hauptstadt Österreichs mehr sein sollte als nur Kongreßstadt, in der sich Vertreter aus Ost und West gelegentlich begegnen. Wien sollte vielmehr, wie ich als zugegeben sehr für Wien voreingenommener Wirtschaftsforscher und politisch denkender Europäer meine, ein Zentrum der Ost-West-Forschung werden, das sich auf Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Philosophie und Politik erstrecken und auf hohem wissenschaftlichem Niveau die Voraussetzungen studieren müßte, die nicht nur für eine „friedliche Koexistenz“, sondern auch für eine fruchtbare Kooperation der Völker in Ost und West erforderlich sind.

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