Grundrisse, Nummer 47
Mai
2013
Colin Crouch:

Jenseits des Neoliberalismus

Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit

Wien: Passagen Verlag 2013, 233 Seiten, Euro 19,90

Aus seiner politischen Überzeug macht Colin Crouch keinen Hehl: „Nur eine Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen kann uns retten“ (83), wobei er ergänzend hinzufügt, dass eine solche Koalition auf globaler Ebene zustande kommen müsse. Dazu bedarf es freilich einer bestimmten, d.h. einer „durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie“, die er nach zwei Seiten hin abgrenzt. Zum einen gegen eine erstarrte, „defensive Sozialdemokratie“, die an den traditionellen Interessen der Industriearbeiter und dem Erhalt ihrer Besitzstände ausgerichtet, nicht mehr innovativ und den Herausforderungen der politischen Macht des Finanzkapitals nicht gewachsen ist; zum anderen gegen den „Sozialismus“, der die Industrie verstaatlicht und den freien Markt aufhebt. Vor allem muss sich die „durchsetzungsfähige Sozialdemokratie“ mit allen (christlich oder humanistisch motivierten) Umwelt-, Bürger- oder anderen Protestbewegungen verbünden und sich zu deren Fürsprecher machen.

Nach seinen beiden Büchern über die Postdemokratie (2008) und Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus (2012) hat Crouch ein neues Thema bearbeitet. Sein Blick ist nicht mehr auf die Vergangenheit oder Gegenwart, auf die Kritik des Neoliberalismus, die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie durch die wachsende Macht der Lobbyisten und den Verfall der politischen Diskurse zu manipulierten Medienspektakeln gerichtet, sondern auf die Zukunft. „Jenseits des Neoliberalismus“ kann für ihn nur eine erneuerte, wieder erstarkte und „durchsetzungsfähige Sozialdemokratie“ stehen. Deren Grundprinzipien sind die Bejahung des kapitalistischen Systems mit seinem Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie die Anerkennung des Marktes als Institution, die, wie Crouch meint, für die meisten Probleme doch die „beste Lösung“ (22) bietet. Im Gegensatz zur neoliberalen Auffassung des Marktes aber glaubt die Sozialdemokratie nicht an die Selbstheilungsprozesse des Marktes und erhebt die Forderung nach seiner politischen Reglementierung. Diese Reglementierung zielt auf die Vermeidung dessen, was Crouch die „negativen Externalitäten“, d.h. die unerwünschten Nebenwirkungen nennt, also auf den Schutz des natürlichen Lebensraumes oder auf die Verhinderung von Monopolbildungen und den Erhalt des Wettbewerbs im Interesse der Konsumenten. Sie soll von einer Sozialpolitik unterstützt werden, die am Wohlfahrtsstaat festhält, den Menschen bei der Arbeitssuche hilft, die soziale Anpassung an den technischen Fortschritt durch Umschulung und Weiterbildung fördert und einen sozialen „Wettlauf nach unten“ verhindert.

Es sind vor allem zwei Formen des Neoliberalismus, denen Crouch den Kampf ansagt: dem „reinen Neoliberalismus“, der alle Lebensbereiche dem Markt unterwerfen und die Rolle des Staates so weit wie möglich beschränken will, und dem „real existierenden Neoliberalismus“, der durch Lobbyisten und den Einsatz von Firmen- und Privatvermögen den Staat zu einem Organ zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen macht. (43f.) Dagegen weist die „durchsetzungsfähige Sozialdemokratie“ große Affinität zu einer dritten Form des (Neo-) Liberalismus auf, der Crouch mit Wohlwollen gegenübersteht. Deren Grundsatz wurde im Godesberger Programm der SPD (1959) formuliert: „Wettbewerb (Markt) so weit wie möglich. Planung (Staat) soweit wie nötig.“ Von diesem Programm ist Crouchs „Plädoyer für soziale Gerechtigkeit“ inspiriert. Erstens wird darin die „Überlegenheit“ des kapitalistischen Marktes über die sozialistische Planung anerkannt; zweitens bleiben aber doch verschiedene Lebensbereiche (Kultur etc.) aus dem Marktgeschehen ausgeklammert; drittens steht der Markt unter dem Vorbehalt der Reglementierung, sobald sich dies im Interesse der Bürger als notwendig erweisen sollte.

Für Crouch existiert infolgedessen nur die Alternative von ungerechtem (neoliberal verselbständigtem) und gerechtem (sozialdemokratisch gebändigtem) Markt, wobei er sich, was er philosophisch nicht weiter vertieft, an einem überzeitlichen Gerechtigkeitsbegriff orientiert. Auf der Höhe der Marxschen Einsicht in die Geschichtlichkeit der Gerechtigkeit und die Zwangsläufigkeit mit der die formale Gleichheit der Vertragspartner zur inhaltlichen Ungleichheit des Eigentums, der Chancenverteilung und der politischen Macht führt, befindet sich Crouch noch nicht. Statt die kapitalistischen Verhältnisse radikal, also an der Wurzel, zu kritisieren, begnügt er sich mit ein paar Verbesserungsvorschlägen. Diese greifen zudem noch romantisch auf die gute alte (Nachkriegs-) Zeit zurück, in der die Kluft zwischen Arm und Reich noch nicht so eklatant wie heute war, und man noch die Illusion haben konnte, der bürgerliche Staat sei eine von der Wirtschaft unabhängige Institution, mit der Kraft, dieser wirklich einschneidende Regeln vorschreiben zu können.

Ganz richtig stellt Crouch fest, dass wir „durch die Globalisierung des Kapitals und die damit verbundene steigende Ungleichheit ... in gewisser Hinsicht zu den ungleichen Klassenverhältnissen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt“ sind. (218) Als letzte Ursache dafür nennt er aber nicht die kapitalistische Gesetzmäßigkeit der Mehrwertproduktion und –aneignung, sondern die neoliberale Wirtschaftspolitik, als hätte das Auseinanderdriften von Arm und Reich erst nach der Hochkonjunktur der Wirtschaftswunder-Zeiten, in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, und mit der Globalisierung begonnen.

Sympathisch ist Crouchs Eintreten für mehr Egalität, für eine starke Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, für Frauenemanzipation, für das politische Anliegen von Umwelt-, Bürger- und Protestbewegungen. Er tut dies allerdings nicht um der betroffenen Menschen willen, nicht wegen des Zugewinns an (direkter) Demokratie und Freiheit. Sein letztes Kriterium sind vielmehr die Effizienz, die Wettbewerbsvorteile oder die Innovationsfähigkeit des Marktes, die seiner Auffassung nach daraus resultieren. Mehr Demokratie und Freiheit werden so zu Funktionen eines überlegenen Marktes, also um der „wirtschaftlich guten Leistungen“ (117) geschätzt, die sie ermöglichen.

Europa ist für Crouch nicht nur der geeignete Erdteil für die Verwirklichung einer „durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie“, Europa ist für Crouch (im Gegensatz zu großen Teilen der kapitalistischen Elite, die die amerikanischen Verhältnisse auf Europa übertragen wollen) auch ein Konkurrenzmodell zu den USA. Trotz der extremen Ungleichheit seiner Bürger, trotz der extremen Schwäche seiner Gewerkschaften, der schlechten Arbeitnehmerschutzgesetze und der geringen Arbeitslosenunterstützung wird den USA eine „gute wirtschaftliche Lage“ (151) attestiert. Wieder einmal geht es um eine Systemfrage: dieses Mal nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus (wie zu den Zeiten des Godesberger Programms), sondern zwischen amerikanischem Neoliberalismus und europäischer Sozialdemokratie. Um diese Frage zugunsten von Europa und der Sozialdemokratie zu entscheiden, bedarf es neuer und innovativer, weltweiter „Netzwerkexternalitäten“ wie Umweltschutz, wirkliche Bankenregulierung oder sozialstaatliche Maßnahmen; vor allem aber muss sich die Überlegenheit Europas auf dem Markt unter Beweis stellen und zwar auf dem Weltmarkt.

Genau genommen bietet Crouch keine originellen Lösungen und Perspektiven an. Er fasst zusammen, was in vielen Ländern Europas und, in Ansätzen, sogar von überstaatlichen Organisationen wie der WTO, dem IWF, der Weltbank, der OECD oder der EU schon zum Programm erhoben und auf den Weg der praktischen Verwirklichung gebracht worden ist (z.B. der Kampf gegen Hunger und Armut). Das Problem, wie ein System, das sich durch seine immanenten Widersprüche und Krisen selbst an den Abgrund manövriert hat, in ein anderes, stabileres und menschlicheres überführt werden kann, wird nur halbherzig angegangen. Der Skandal, dass ein System, das auf der Ausbeutung der Arbeitskraft und dem Diebstahl des Ersparten beruht, dadurch aufrecht erhalten wird, dass es die Ausgebeuteten und Sparer über Steuern und Inflation, auch noch an der Aufrechterhaltung dieses Systems zur Kasse bittet, kommt nicht zur Sprache. Dabei wird doch auch die „durchsetzungsfähige Sozialdemokratie“ nicht umhin kommen, das Erbe der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben anzutreten.

Der letzte Abschnitt des Buches ist „Grund zum Optimismus“ überschrieben. Es spricht für Crouchs Aufrichtigkeit, dass er der Wiederbelebung der Sozialdemokratie, auf die sich sein Optimismus stützt, dann doch nicht so recht vertraut. Sein Optimismus gleiche, wie er anmerkt, dem Optimismus der polnischen Kavallerie, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Panzer anstürmte.

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