Streifzüge, Heft 45
März
2009

Kapitalismus oder Entwicklungsland?

Anmerkungen zur Typologie des nachsowjetischen Russlands

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen, und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen „Kritik der politischen Ökonomie“, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat die Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor der Perestroika zutreffe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Austausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleicht sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den 80er Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus sowie ein „wertschaffender Kolonialismus“ und schließlich noch der „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit Polizei- und Militärgewalt.

Nichts dergleichen geschah im nachsowjetischen Russland: Schon in den 60er und 70er Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit der Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher, konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 90er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; die Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammenarbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte; Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nicht geändert. Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, das die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60 Prozent abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentums an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural- bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den so genannten entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung. In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen, liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: „Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.“ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren, in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins – Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion und die ganze neue herrschende Schicht Russlands – bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neoliberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Seit dem 1. Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der so genannten „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gasverkäufen resultierenden Einnahmen ergänzend zur Modernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits-, des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft sowie in spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwedew übernahm diese Stafette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7-Prozent-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew. Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, die er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres Mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte, Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten ebenso wie die kommunalen Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. Mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Literatur

  • Kai Ehlers, Herausforderung Russland. Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung; dort das Kapitel: Das Missverständnis vom Kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation; Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997.
  • Kai Ehlers, Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation; edition 8, Zürich, Mai 2004.
  • Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen; Verlag Pforte/ Entwürfe, April 2005.
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