FORVM, No. 221
Mai
1972

Kasperls Exekution

Die Polizei auf dem Theater

SATANAS: Es is gar eine schwere Aufgab, was wir verlangen.
BEELZEBUB: Die Diplomatie der Hölle hat drüber Bankrott g’macht.
DIE ALTE (erstaunt): Ah, so geht denn alles z’grund?

(Johann Nestroy: Der gutmütige Teufel)

Der Kasperl ist der einzige Überlebende einer ganzen Schar von Possenreißern und Faxenmachern. In der Wiener Phantasmagorie hat der Kasperl nach wie vor seinen festen Platz, durch die Puppenbühne wurde er zu einer Institution der Kindheit. Unverrückbar scheinen die Qualitäten, die man dem Kasperl zuschreibt: der Kasperl ist immer heiter und guter Dinge. Mit Schläue und Geschick entgeht er dem Zorn des Tyrannen, der Wut der Elemente; durch seine Lügen und seine Dreistigkeit überlistet er den schnaubenden Wolf, das klappernde Krokodil. Und in verzwickten, ja ausweglos erscheinenden Situationen eilt er dem Hänsel oder der Gretel zu Hilfe, in Augenblicken der höchsten Not rettet er die schöne Prinzessin. Kasperl entrinnt allen Gefahren, er ist unbesiegbar.

Was den Mythos vom Kasperl auch in aufgeklärten Zeiten so zäh am Leben erhält, ist zunächst die spezifische Art seiner Komik. Der Kasperl agiert mit den Waffen der Sprache, seine Widersacher schlägt er durch linguistische Tricks in die Flucht: er ist gewitzt. Die mit Thomas Hobbes intensiv einsetzenden theoretischen Spekulationen über das Wesen der Komik wurden erstmals von Kant relativiert: Entgegen der Auffassung, die Ursache der komischen Wirkung liege in dem Kontrast zweier Vorstellungen, postulierte Kant, daß nicht jeder Kontrast, sondern nur ein Kontrast „in absteigender Richtung“ zu der lustvollen Entspannung, also der Komik führt. Zum Beispiel: ein Mann spannt alle seine Kräfte an, um einen Felsbrocken ins Rollen zu bringen. Und siehe da! er ist federleicht, aus Pappe. Zu lustvoller Entspannung gelangt der Betrachter der Szene jedoch nur dann, wenn er sich mit der gespannten Erwartung, die sich dann plötzlich verflüchtigt, zumindest einen Moment lang identifiziert hat: die intensive Beteiligung des Subjekts an dem Vorgang ist Voraussetzung für die Wirkung der Komik.

Diese innere Anteilnahme, das Mitmachen und Mitgehen des Zuschauers weist bereits auf den soziologischen Charakter des Phänomens: Komik ist auch ein gesellschaftlicher Mechanismus, keine rein ästhetische Kategorie. Das Wesen des Komischen tritt unfehlbar dann in sein Recht, wenn an einem natürlichen oder übernatürlichen Individuum überraschend eine krasse Unzulänglichkeit erscheint — ein Stottern, Stolpern, Stammeln, ein Versprechen, Versagen, eine Hemmung, also ein gestörter Ablauf sozialer oder sprachlicher Mechanismen. Das fordert zum Lachen heraus. Der nur mangelhaft angepaßte Einzelne muß dabei einer scheinbar vollkommen angepaßten Gruppe gegenüberstehen, etwa das Kollektiv der Zuschauer versus das Individuum auf der Bühne. Im Gefühl ihrer Sicherheit und Überlegenheit belacht die Gruppe den exponierten Einzelnen. So lacht der Stärkere über den Schwächeren, so lacht aber auch der Souverän über seine Untertanen.

Diese Art der Komik, die bei sensibleren Naturen das nachträgliche Gefühl des Peinlichen und der Scham nicht ausschließt, verkörpert die „komische Gestalt“, beispielsweise der Thaddädl. Dieser Todl, ein körperlich oder geistig gehemmter Typ, ist in Wahrheit der Klotz vom Lande, der Bauer, welcher als Repräsentant einer überwundenen und daher verachteten Gesellschaftsform zum Amusement der Höflinge und Städter herhalten muß. Der erste wienerische Hanswurst, den der Schauspieler Josef Anton Stranitzky (1676-1726) kreiert hatte, stach in seinem bäurischen „Lustigmacher“-Kostüm auffällig von der pompösen Barocktheatralik und der höfischen Intelligentsia ab, ungewollt vertrat er die „Natur“ gegenüber der „Kultur“. All die kindlichen, naiven, rührenden Züge, die man dem Hanswurst zuschreibt, sind lediglich soziale und historische Gegensätze, die ihre Entladung in der Komik suchen. Die „komische Gestalt“ ist der Versuch eines Ausgleichs sozialer Differenzen.

Die Komik des Kasperls ist dagegen von ganz anderem Kaliber. Der Kasperl redet und redet, er ist voller Übermut und foppt sein Publikum, jagt ihm einen gehörigen Schrecken ein, läßt es absichtlich zu Mißverständnissen kommen, er stört und verwirrt die Fäden der Handlung, und vor allem: er bringt als Individuum das Kollektiv auf seine Seite. Der Kasperl steht in ständigem direktem Kontakt mit den Zuschauern, ruft sie als Zeugen auf, feuert sie an, belehrt sie und wird von ihnen belehrt, hetzt sie auf gegen einen Widersacher. Mit seiner Einleitungsformel „Seid ihr alle da?“ macht er sich das Kollektiv von vornherein zum Komplicen in einem Spiel, in dem er selber der Überlegene ist. Und das Publikum antwortet ihm: Jaaa!

Ein wesentliches Element bei der Produktion von Komik ist das Fiktive. Das Heraustreten aus der Illusion, die Verständigung mit dem Publikum über die Spielfiktion ist nur in der Komödie möglich und wäre der Tod der Tragödie. Das Spiel wird als Spiel, die Vorgänge werden als bloße Bühnenvorgänge deklariert — alles ist nur gestellt, nicht wirklich. Die Puppenbühne erfüllt diesen Hang zur Abstraktion am vollständigsten. Der Ur-Hanswurst Stranitzky war Besitzer eines Marionettentheaters und gleichzeitig der Verfasser der berühmten „Wiener Haupt- und Staatsactionen“. Dazu zitiert Walter Benjamin in „Ursprung des deutschen Trauerspiels“: „... Indessen giebt es noch eine dem Deutschen ganz eigenthümliche Hinneigung ... es ist die zum Ernst im Allgemeinen, zur Feierlichkeit, bald zur Breite, bald zur sentenziösen Kürze — und Geschweiftheit. Dafür erfand man jene sogenannten Haupt- und Staatsactionen ... Hier erscheinen die Könige und Fürsten mit ihren goldpapierenen Kronen auf dem Haupte sehr trübe und traurig, und versichern das mitleidige Publikum, es sei nichts schwerer als regieren, und ein Holzbauer schlafe viel besser; die Feldherren und Officiere halten vortreffliche Reden, und erzählen von ihren großen Thaten, die Prinzessinnen sind, wie billig, höchst tugendhaft und, wie nicht minder billig, erhaben verliebt gewöhnlich in einen der Generale ... Desto weniger beliebt sind bei diesen Poeten die Minister, welche gewöhnlich schlimm gesinnt und mit schwarzem oder wenigstens grauem Charakter behaftet erscheinen ... Der clown und fool ist den Personen des Stücks oft sehr lästig; aber sie können die verkörperte Idee der Parodie, die, als solche, ja unsterblich ist, schlechthin nicht loswerden.“ [1] Diese Beschreibung der Haupt- und Staatsaktionen, die zwar nicht durch Puppen dargestellt wurden, enthält jedoch bereits ein recht komisches Element. Die Ablösung von der Realität, die Fiktion, verdeutlicht der sichtbare Mechanismus der Marionetten; das Knarren der Scharniere, die offen betätigten Fäden der Handlung vertreiben alle Illusionen.

Wenn der Kasperl heute eine Figur des Puppentheaters ist und sein Publikum Kinder sind, so war das keineswegs schon immer so: es ist das Resultat der Aufklärung, des Josefinismus und des Vormärz.

Die Figur des Kasperl ist später und unter anderen historischen Bedingungen entstanden als der Hanswurst, und im Gegensatz zum deutschen Harlekin ist der Kasperl ein lokales, auf Wien beschränktes Phänomen. Durch den Puritanismus, der das Theater ebenso wie Musik und Tanz verabscheute und mit Verbot belegte, waren die berühmten Theatergruppen aus England nach Europa, nach Norddeutschland gekommen. Doch nach und nach übernahmen im 17. Jahrhundert auch die wandernden „Banden“, die Erben der englischen Komödianten, in ihren großen Aktionen die barocke Theatralik der Hofbühnen. Der Einfluß der Aufklärung tat ein übriges, um den Hanswurst der Verachtung zu überliefern. Vor allem Gottsched tat sich bei der Verbannung des Hanswurst (1737) hervor; gleichzeitig gings an die Ausmerzung alles Wunderbaren, Irrationalen, Phantastischen, bestimmte Elemente der Comedia dell’arte, wie der Stegreif, wurden verboten, die Harlekinaden, die Haupt- und Staatsaktionen, auch die Oper waren verpönt.

Lessing schreibt darüber in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“: „Seitdem die Neuberin, sub auspiciis S. Magnifizenz, des Herrn Professor Gottsched, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutschen Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage geschienen, denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und war ganz weiß anstatt scheckig gekleidet ... Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an.“ [2]

Die Säuberung des Theaters von allem Spaßigen, Possenhaften und Obszönen, das Verbot des Extemporierens und der Improvisation ist jedoch nicht mehr aufzuhalten — Hanswurst und Kasperl werden von der seriösen Bühne verdammt. In Wien vollzieht sich um 1770 unter dem Einfluß der rationalistischen „Theaterreform“ die Abtrennung der Hohen Kunst von der plebejischen Kunst; zwei konträre ästhetische Hemisphären entstehen — das Theater der Bildung und Literatur, dessen adäquatester Ausdruck auch heute noch das Burgtheater ist, und die Volkskomödie, wofür das 1781 erbaute Leopoldstädter Theater typisch war. Hier wurde vom Schauspieler Jean Laroche auch die Figur des Kasperl geschaffen — zeit seines Lebens hat er nichts anderes gespielt als diese Rolle des ängstlichen Knappen eines edien Ritters in seinen „romantisch-komischen Volksmärchen.“

Der Laroche-Kasperl steht in der sozialen Hierarchie höher als der Hanswurst, er ist kein Bauerntölpel mehr, sondern der ständige Begleiter eines Adeligen, dessen hochfliegende Pläne und dessen Lust an gefährlichen Abenteuern er nicht teilen mag. Besonnen und etwas zaghaft vermeidet er jedes unnötige Risiko, geht den wilden Tieren des Gespensterwaldes aus dem Weg, anstatt seine Kräfte an ihnen zu messen und zu vergeuden, und sucht lieber nach guten Ausreden — er macht den ziellosen Heroismus seines Ritters lächerlich. Unbeholfen und zögernd noch, beginnt sich in Kasperl das Selbstbewußtsein des Bourgeois zu bilden und zu festigen. Der Knappe ist dem Ritter überlegen, die gesellschaftlichen Kategorien verlagern sich, der Feudalismus ist dazu verurteilt, von der historischen Bühne abzutreten: im Kasperl erkennen sich die Zuschauer nun selbst. Anstatt wie früher über den Hanswurst zu lachen, lachen sie nun über den wirren Ritter — die komische Differenz hat sich verschoben. Der Kasperl als das Produkt ästhetischer Aporien mußte konsequenterweise zum Spiegelbild gesellschaftlicher Kategorien werden.

Das sozialkritische, subversive Element des Kasperl konnte sich freilich innerhalb des josefinischen Reformkatholizismus nur mit Schwierigkeiten, unter der totalen Zensur im Wien des Vormärz gar nicht mehr halten (eine verbreitete Broschüre beispielsweise trug den Titel „Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters“). Unter dem Druck des Metternichschen Polizeistaats entstand dagegen das sogenannte parodistische Zauberspiel: Wien wird ins Zauberreich versetzt, die politischen Verhältnisse erscheinen darin verfremdet. — In Adolf Bäuerles Stück „Bürger in Wien“ taucht übrigens zum ersten Mal die Figur des „Staberl“ auf. Dieser Staberl ist keine komische Gestalt, kein Lustigmacher mehr, sondern eine Charakterfigur aus dem Wiener Kleinbürgertum. Die Staberliaden erlangten damals beinahe europäische Berühmtheit. — Der Kasperl verschwand sozusagen in den Underground, auf die Puppenbühnen und zu den kleinen Kindern. Und erst da konnten sich seine metaphysischen Qualitäten voll entfalten: durch die historische und kulturelle Distanz trat seine ursprüngliche Idee klarer denn je hervor — der Kasperl wurde zur Allegorie.

Ein Besuch beim „Urania-Kasperl“, der gewiß kunstlosesten Form einschlägigen Puppentheaters, korrigiert zwar die landläufigen Vorstellungen vom Kasperl, zeigt aber auch seine wahren Aspekte am deutlichsten. Der „Urania-Kasperl“ hat sich übrigens in Wien ein Monopol erobert, es gibt keine andere regelmäßig spielende Puppenbühne mehr. Doch auch sie leidet unter Besucherschwund: früher gab es je zwei Vorstellungen an Samstag- und Sonntagnachmittagen, jetzt wird nur jeweils einmal gespielt. Zu Beginn wird die kleine Guckkastenbühne durch eine Leinwand verhüllt, Farbdias werden projiziert. Als Begrüßung taucht das Menetekel an der Wand auf: Servus, liebe Kinder. Servus, ihr lieben Menschlein! Ähnlich dem Werbevorspann im Kino folgt eine ausführliche Vorschau auf die nächsten Veranstaltungen (Kasperl als Raumfahrer). Die Leinwand wird wieder aufgerollt, der Kasperl erscheint auf einem kleinen Balkon neben der Bühne. Rasendes Klatschen der Kinder. Der Kasperl hat einen Adlatus, den kleinen Petzi, der auf dem anderen Balkon auftaucht. Nach der obligaten Begrüßungsformel entspinnt sich ein kurzer Dialog zwischen den beiden, der nach wechselseitigen Anreden wie „Zuckergoschi“ oder „Knackwursti“ seinem Höhepunkt zustrebt: „Petzi muß Lulu!“ Großes Hallo (der Mütter). Petzi verschwindet, und der Kasperl richtet die Aufforderung an die Kinder, ihm ins Märchenland zu folgen.

Dieses Märchenland ist eine Wald- und Wiesenmonarchie, und eine recht komplizierte Geschichte spielt sich darin ab. Der Held ist der „Jagdbursche“ Hans, mit seinen Armstummeln sieht er aus wie ein Contergan-Kind, doch sein Job ist, wie erklärt wird, das Holzschlichten und Pferdestriegeln. Zwischen Hans und der Prinzessin, die tatsächlich Gretel heißt, besteht allem Anschein nach eine nicht standesgemäße Zuneigung. Der König, dem die Krone wie ein Steirerhütl schief auf dem Kopf sitzt, ist ein eitler, seniler Trottel, vor dem aber alle tiefe Bücklinge machen.

Dem Jagdburschen ist der Umgang mit der Prinzessin verboten, die beiden werden ertappt, Hans wird von geharnischten Wächtern ab- und dem König vorgeführt. Die Prinzessin beschwichtigt seinen Zorn: Hans darf sich als Freier um ihre Hand bewerben, wenn er drei Aufgaben zu lösen imstande ist: Wieviele Blätter haben alle Bäume der königlichen Wälder? Hüte eine Nacht lang tausend Ameisen und wache vor der Höhle eines grimmigen Bären! Fülle einen Sack mit drei Lügen! (Der Ameisenhaufen dient dabei nur als Vorwand, die „Ordnung“ der Ameisen zu preisen.) Die Beantwortung der ersten Frage schafft der Jagdbursche noch allein, als das soziologische Muster eines Angestellten versteht er es, die Eitelkeit des idiotischen Chefs richtig auszunützen. Brenzlig wird es für Hans erst vor der Höhle des wilden Bären — doch flugs ist auch schon der Kasperl samt Petzi zur Stelle, die Situation ist gerettet. Mit Hilfe des Kasperls meistert der Jagdbursche auch noch die letzte, reichlich sophistische Aufgabe, und dem verdienten Erfolg seiner Leistung, der Hochzeit mit der Prinzessin, steht nichts mehr im Weg. Nach einem kurzen Epilog mit unverständlichem Schlußvers, den die kleinen Habituées dieses Theaters mitbrüllen, entläßt der Kasperl die Besucher.

Die Kinder werden in dieser Art Kasperltheater um etwas geprellt, worauf sie tatsächlich Anspruch haben: mitzumachen, sich ins Spiel einzumischen, ihr berechtigtes Verlangen nach Aktion zu befriedigen. So aber verhalten sie sich bloß unruhig, stellen Fragen, langweilen sich und rufen nach dem Kasperl. Die Kinder reagieren richtig: der nötige Kontakt mit dem Publikum wird nicht hergestellt; und was von der Geschichte im Gedächtnis bleibt, sind die Worte „Ordnung“ und „verboten“.

Dabei wäre der Kasperl ein Feind der Ordnung. Indem er in verzweifelten Situationen durch seine Einflüsterungen den logischen, den vorherbestimmten Lauf der Handlung, das Schicksal, ändert, greift er in die Ordnung der Dinge ein und schlägt ihr ein Schnippchen. Der Kasperl macht alles wieder gut, er relativiert die Wirklichkeit. Und das heißt: in Wahrheit ist ja alles gar nicht so arg! Der spezifischen Ideologie des Wiener Vormärz, der Theodizee, dreht der Kasperl eine lange Nase.

Wenn der Kasperl die Ordnung der Dinge, also die Realität, verändern kann, dann ist diese auch veränderbar. Darum hat der „Kaspar“ von Peter Handke, entgegen den üblichen Hinweisen, alles vom Kaspar Hauser und nichts vom Kasperl. Kaspar ist der reine Tor, der durch den sprachlichen Sozialisationsprozeß zum bösen Tor wird. Über dem Kopf des Kaspar schlägt die Ordnung als Sprache zusammen, Kasperl dagegen rettet sich und andere aus der Ordnung heraus. Kaspar ist das Opfer der Ordnung, Kasperl ist der Überwinder der Ordnung: aus Kaspar müßte erst ein Kasperl werden.

In manchen ihrer Arbeiten verwendeten die Autoren der Wiener Gruppe barocke Motive; einige frühe Stücke hat H. C. Artmann als Kasperliaden bezeichnet. Interessanterweise fehlt in diesen Stücken oft die Person des Kasperl, das heißt, Artmann löst das Objektive vom Subjektiven und übernimmt die bloße Funktion des Kasperl — Sozialkritik erscheint hier als Sprachkritik. Ähnliche Intentionen verfolgt die Verwendung des lokalen Dialekts: um den infamen und insultierenden Aspekt der Vulgärsprache auszunützen, um das jahrhundertealte Tabu zu durchbrechen, das Aufklärung und Klassik über die plebejische Sprache verhängten. Im Barock waren Hochsprache und Dialekt noch keineswegs steril voneinander geschieden. Eine Attacke auf das Bildungsund Moraltheater ist Konrad Bayers Stück „kasperl am elektrischen stuhl“. [3]

Dieser kaschberl ist ein echt metaphysischer Kasperl. Er hat seine Frau umgebracht und verlangt nach der Sühne durch den Tod. Um seine Schuld, den Mord, gerecht zu büßen, stellt er sich der Exekutive. Komisch ist, daß keiner sich um seinen festen Willen zur Sühne schert; der kaschberl muß die Staatsmaschinerie erst mühsam in Bewegung setzen, die ihn dann freilich der Verurteilung und Hinrichtung zuführt. Der elektrische Stuhl ist das moderne Requisit des Märtyrerdramas. Als Autor und als Analphabeth ist der kaschberl ein Anachronismus par excellence, ein armer Teufel, der besser wieder zur Hölle fährt. Seinen polemischen und zugleich komischen Effekt bezieht das Stück aus der Montage verschiedener Sprachebenen: dem elenden Feuilletonstil der Kunstkritiker; dem Schönbrunnerdeutsch der bourgeoisen Zuschauer; der Umgangssprache des kaschberl samt ihren dummen Klischees. Man täusche sich nicht: der Umgang der Autoren der Wiener Gruppe mit der Sprache ist keine müßige Ästhetik. Der Widerstand gegen die ausgelaugte Umgangssprache besitzt sehr wohl eine politische Dimension: gesellschaftliche Unterschiede manifestieren sich am schärfsten in Sprachnuancen.

Im Wiener Wurstelprater gibt es eine Theaterbude, die den Kasper! zeigt, flankiert von einem Krokodil, wie üblich, doch hier auch von einem Nilpferd. Das sind die wahren Attribute des Kasperl: Leviathan, das „Ungeheuer mit dem Krokodilsrachen, welches der Staat ist“, und Behemoth, das „andre Ungeheuer, das alles niedertrampelnde Flußpferd, die Revolution“ (Th. Hobbes). Von dem einen heißt es: „Siehe da der Behemoth, den ich neben dir gemacht habe, frisset Gras wie ein Ochse. Siehe, seine Kraft ist in seinen Lenden und sein Vermögen in dem Nabel seines Bauches. Sein Schwanz strecket sich wie eine Ceder, die Adern seiner Scham starren wie ein Ast. Seine Knochen sind wie festes Erz, seine Gebeine sind wie eiserne Stäbe. Er ist der Anfang der Wege Gottes“; und von dem anderen: „Wer kann die Kinnbacken seines Antlitzes auftun? Schrecklich stehen seine Zähne umher. Seine stolzen Schuppen sind wie feste Schilde, fest und enge in einander. Eine rühret an die andre, daß nicht ein Lüftlein dazwischen gehet. Es hänget eine an der andern und halten sich zusammen, daß sie sich nicht voneinander trennen.“

[1Franz Horn: Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, Berlin 1823.

[2G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie 1767-69, Leipzig 1856.

[3In: konrad bayer der sechste sinn, Reinbek 1966.

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