FORVM, No. 99
März
1962

Kein Tempel für die Musen (II)

voriger Teil: Kein Tempel für die Musen

Kunst war zu allen Zeiten mit Problematik behaftet, sie hat sich nie von selbst verstanden. Sie ist nicht das tägliche Brot der Menschheit. Darum ist das Riskante und Provozierende, das ihr unentbehrlich ist, nicht vom nivellierenden Nebeneinander des „Imaginären Museums“ abzulesen, sondern wird in jenen Kreisen aufgespürt und ernst genommen, welche die Kunst ihren weltanschaulichen oder religiösen Bedürfnissen, ihrem Prestigeverlangen und ihrem politischen Machtstreben gefügig machen wollen. Nicht in unseren ästhetischen Reservaten, nicht in den Biennalen und Triennalen, die gemäß einer stillschweigenden Übereinkunft jeden nach seiner Fasson selig werden lassen, erfährt man etwas von der Macht der Kunst als Waffe im Kampf geistiger Kräfte, sondern dort, wo man sich ihrer als einer Wirkungsrealität bedienen will. Dieselben Glaubenslehren und politischen Systeme, die um den Künstler werben, wissen auch, daß sie ihn zum Gehorsam erziehen müssen. Gerade durch diese Einstellung wird die geistige Strahlkraft des Kunstwerkes bloßgelegt. Diese Strahlkraft auf das Ästhetische beschränken, hieße sie vergeuden, denn ihre Impulse reichen weiter und tiefer. Das ist der Grund, warum die Künstler sich immer wieder für außerkünstlerische Zielsetzungen verwenden ließen.

Die Beispiele, die dafür gegeben werden können, stammen aus zwei Bereichen — dem religiösen und dem machtpolitischen —, in denen stets überlegt werden muß, wie weit die Kunst Nutzen zu bringen vermag, ohne gefährlich zu werden. Die Argumente der Theologen sind denen der politischen Theoretiker erstaunlich verwandt. Beide verdächtigen den Künstler, daß er Anstoß erregen könnte. Sein Tun muß daher reglementiert, an Vorschriften gebunden werden. In beiden Bereichen verhindert man die Verselbständigung des Kunstwerks, also den Prozeß, für den die Soziologie den Begriff der „Formalisierung“ vorschlägt. Man verhindert, daß das Kunstwerk sich der Machtsphäre religiöser oder politischer Ideen entzieht.

Ehe die Kunst in den Dienst der katholischen Kirche genommen wurde, stand sie im Kreuzfeuer der theologischen Diskussion. Die kunstfeindliche Partei konnte sich auf das vierte Gebot des Dekaloges stützen:

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.

Sie konnte auf das 3. Buch Mose verweisen:

Ihr sollt euch keinen Götzen machen noch Bild, und sollt euch keine Säule aufrichten; auch keinen Malstein setzen in eurem Lande, daß ihr davor anbetet; denn ich bin der Herr, euer Gott.

Dazu kommen zwei Bilderverbote aus dem Neuen Testament, das eine aus der Apostelgeschichte des hl. Lukas:

So wir denn göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht ...

— das andere aus dem Römerbrief:

Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden, und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein materielles Bild, gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.

Deutlich wird mit diesen Geboten dem heidnischen Götzendienst der Kampf angesagt — im Namen einer neuen Spiritualität, die sich an keine materielle Form binden will. Man kann darin realpolitische Erwägungen für die Auseinandersetzung mit den spätantiken Kulten wirksam sehen. Dahinter steckt jedoch noch ein gewichtigeres Argument: der Künstler handelt anmaßend. Er gibt sich nicht mit der von Gott gewollten Wirklichkeit zufrieden. Er greift in den göttlichen Schöpfungsplan nachträglich ein, indem er diesen durch seine Schöpfungen erweitert und bereichert. Seine Tätigkeit rivalisiert mit der des Schöpfergottes. Er erfindet neue Wirklichkeiten, er ist ein „alter deus“. Damit stellt er die erschaffene Welt in Frage; er begibt sich, indem er sie nachahmt, in einen Wettstreit mit Gott. Alle diese prometheischen Züge machen den Künstler dem Theologen verdächtig, und es muß mehr als ein Jahrtausend vergehen, ehe das Wort vom göttlichen Künstler, vom „divino artista“, in der Renaissance zu einem Ehrentitel wird.

Die kunstfeindlichen Argumente wurden zuletzt von dem Bedürfnis, die Kunst lehrend und propagierend zu verwenden, aus dem Felde geschlagen. Immerhin trugen sie wesentlich dazu bei, daß die Anfänge der christlichen Kunst auf eine lapidare, abstrahierende Zeichensprache eingeschränkt blieben. Damit schien fürs erste die Gefahr einer Vergötzung des künstlerischen Gebildes gebannt, denn das spröde schematische Zeichen konnte nur als Hinweis auf Glaubenstatsachen interpretiert, aber schwerlich als Selbstwert aufgefaßt werden. Indes stellte sich in den kommenden Jahrhunderten bald heraus, daß gerade in dieser Zeichensprache die Tendenz zu spielerischer, abstrakter Esoterik angelegt war.

Das demonstriert am augenfälligsten die kunsttheologische Auseinandersetzung, welche im 7. Jahrhundert ausgetragen wurde und die irische Buchmalerei zum Gegenstand hatte. Die irischen Mönche schufen damals Werke, deren Reichtum an komplizierten ornamentalen Verflechtungen unser gegenwärtiger Kunstgeschmack — an abstrakten Formkomplexen geschult — zu den Höhepunkten der frühmittelalterlichen Kunstübung zählt. Diese Buchmalerei hatte freilich für ihre ornamentale Polyphonie einen Preis zu entrichten: sie mußte ihr das klar lesbare Menschenbild zum Opfer bringen. Die linearen Energien wurden so eigenmächtig, daß sie die menschliche Gestalt — etwa in den Evangelistendarstellungen — aufzulösen bzw. ornamental zu zersetzen drohten. Dadurch geriet das Bild in Gefahr, seinen didaktisch-lehrhaften Charakter zugunsten einer subtilen Formengrammatik einzubüßen. Von Rom aus wurde dieser Tendenz in der Synode von Whitby (im Jahre 664) ein Riegel vorgeschoben. Das von römischer Vernunft diktierte Streben nach Anschaulichkeit und Faßlichkeit siegte über das ungleich kunstvollere, aber zu anspruchsvolle Linienlabyrinth. Damit war die Buchmalerei ihrem katechisierenden Auftrag zurückgewonnen, die Gefahr einer „formalistischen Abweichung“ — um im Sprachgebrauch der marxistischen Kunstpäpste zu reden — abgewiesen.

Etwa ein halbes Jahrhundert später brach in Byzanz der Bilderstreit aus. Seine realpolitischen Motive sind zweifellos in der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu suchen — und diese Tatsache liefert den Beweis dafür, daß beide Parteien sich des instrumentalen Charakters der Kunst bewußt waren. Es ging um die Ikonenverehrung, aus der die Klöster, die Erzeugungsstätten der Ikonen, materiellen Gewinn und Machtzuwachs zu ziehen wußten. Die weit verbreitete volkstümliche Verehrung galt nicht dem Kunstwert, sondern der Wirkungsrealität der Ikone: man schrieb ihr bewirkende Kräfte zu, sie wurde geküßt und gleich einem lebendigen Wesen verehrt. Dadurch ging ihre hinweisende Funktion verloren. Die Bilderfeinde, die Ikonoklasten, beriefen sich auf die vorhin erwähnten Bilderverbote der Bibel. Das Bild widerspricht der Natur des Göttlichen, die Gott-Mensch-Natur Christi läßt sich nicht mit einer menschlichen Gestalt zur Deckung bringen. Hingegen wurde das Kreuz als abstraktes Zeichen weitgehend geduldet. Daraus erkennt man, daß die Ikonoklasten — wenn auch in gleichsam puritanischer Beschränkung — die Macht des Bildzeichens sehr wohl zu nutzen wußten. Zugleich bedienten sie sich eines Einwandes, der dem Verewigungsanspruch des Kunstwerkes gilt: sie verwahrten sich gegen die Verbildlichung menschlicher Personen mit der Begründung, daß es unzulässig sei, das Vergängliche zu verewigen und zu verherrlichen. Nicht viel anders lauteten die Bedenken mancher Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie bezweifelten, ob die anspruchslose, vergängliche Wirklichkeit etwa eines Stillebens einen würdigen Gegenstand der Malerei darstelle.

In solchen theologischen Überlegungen scheint die Wurzel des Streites zu stecken, der heute in säkularisierter Form zwischen den zweckfreien und den angewandten Künsten ausgetragen wird. Denn die Vergötzung ist nur dann denkbar, wenn das Bild der Gebrauchssphäre entzogen ist, ebenso wie die ästhetische Bewunderung die ja oft der Idolatrie nahekommen kann — sich nur am musealen Objekt, am Gegenstand zwecklosen Wohlgefallens ereignen kann. Im 19. Jahrhundert stellte Theophile Gautier den Satz auf: „Sobald eine Sache nützlich ist, hört sie auf, schön zu sein.“ Gegen dieses Romantikerwort wenden sich wenig später Semper in Deutschland, William Morris in England. Die künstlerische Gestaltung soll wieder auf die Bereiche des Nützlichen zurückgelenkt werden. Mit dem Weimarer Bauhaus versucht dann unser Jahrhundert, daraus die Lehre zu ziehen und den formschöpferischen Akt auf den Gebrauchsgegenstand und das Industrieprodukt zu konzentrieren. Das geschieht in dem Augenblick, da dem Künstler der sichtbare Gegenstand entschwindet und er sich gleichsam nach einem neuen Gegenstand umsehen muß.

In der Ablehnung, mit der das ästhetische Geschmacksprodukt bedacht wird, steckt eine dunkle Erinnerung an die ursprünglich religiöse Scheu vor dem Kunstwerk, das Eigenwert beansprucht. Auch ein gewisser Puritanismus dürfte hiebei Pate gestanden sein. Die Bestrebungen des 19. und 20. Jahrhunderts zielten darauf ab, die ästhetische Alleinherrschaft des vergötzten Tafelbildes zu brechen und die künstlerische Tätigkeit auf die breitere Basis der Gebrauchskunst zu stellen. Es ist kein Zufall, daß diese Bestrebungen im sachlichen Norden Europas, in England und in Deutschland, wurzeln. Die Tendenz zur Bildlosigkeit, als deren Sprecher bereits Jahrhunderte früher die Reformatoren auftraten, gelangt hier leichter zum Durchbruch als im Süden Europas.

In diesem Zusammenhang muß die Kunstpolitik der Calvinisten erörtert werden. Calvin rügt die inhaltliche Verweltlichung der Kunst und das Prunken mit materiellem Glanz. Er bestreitet dem Künstler das Vermögen, sich Gottvater vorzustellen. Darin erkennen wir den theologisch durchaus legitimen Versuch, dem Künstler den Zutritt zur höchsten Sphäre zu verweigern, diese also vor dem Zugriff der Ästhetisierung zu bewahren.

Zweifellos spricht aus Calvins Kritik ein nüchternes, spirituelles Glaubensideal, ein Kunsturteil, das sich von außerkünstlerischen Motiven leiten läßt. Ähnliche Erwägungen können jedoch auch ästhetischen Tendenzen entspringen. Das zeigt eine erst seit kurzem erforschte Strömung in der Architekturtheorie der italienischen Renaissance, die für eine Einschränkung der dekorativen Ausschmückung der Kirchenräume eintrat, sogar die weiße, bildiose Wand forderte und gleichzeitig die architektonischen Formen auf Kugel und Würfel reduzieren wollte. Auch hier verzichtet man auf den üppigen Schmuck, die gemalte Illusion und das Schaugepränge, doch diesmal zugunsten eines Ideals, in dessen Spiritualität sich bereits Merkmale der ästhetischen Zurückhaltung und des vornehmen „understatement“ erkennen lassen. Dieses Ereignis — bezeichnend für die Renaissance und die folgenden Jahrhunderte — zeigt, wie sich allmählich an die Stelle der theologisch motivierten Kunstregeln jene der ästhetischen Spekulation schieben.

So bildet sich seit dem 15. Jahrhundert neben dem religiösen ein ästhetischer Dogmatismus heraus, dessen Eingriffe in das Kunstgeschehen mindestens ebenso folgenreich waren wie die der kirchlichen Vorschriften. Dieser ästhetische Dogmatismus erwies sich bald als ein gefügiges Instrument weltlicher Prestigepolitik und geriet so binnen kurzem in deren Abhängigkeit. Seine staatlich sanktionierten und überwachten Lehrstätten wurden die Akademien. Das Kardinalbeispiel dafür ist die von Ludwig XIV. im Jahre 1648 gegründete Académie Royale der Maler und Bildhauer. In ihren Statuten finden wir die Bestimmung, daß zur Bewerbung um den Jahrespreis der Schüler nur Werke zugelassen werden, welche die Taten des Sonnenkönigs verherrlichen. Der Künstler hatte sich rückhaltslos der Propaganda für seinen Brotgeber zu widmen. Der thematischen Bevorzugung entsprach die formale, für die sich die Bezeichnung „höfischer Klassizismus“ eingebürgert hat. Die Kunst sollte die Staatsmacht verklären.

Die von der Staatsmacht abhängige Ästhetik fordert vom Künstler die Darstellung des Wahren und Idealschönen. Glorifizierung duldet weder das Häßliche noch das Gewöhnliche. Die dem Künstler zugewiesene Welt erstreckt sich nur auf das, was die Billigung des Herrschers besitzt. Der Künstler ist somit ein potentieller Rivale des Herrscherwillens, wie er früher von den Religionsstiftern als Rivale des Schöpfergottes gefürchtet wurde. Er muß darum durch strenge Vorschriften diszipliniert werden. Der Gottkönig kann niemals den Künstler neben sich dulden, der vorgibt, Herr in seinem eigenen Reich zu sein. Daher muß die höfische Kunstpolitik die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten auf das schmale Repertoire des Idealschönen einengen; dieses Dogma bietet sich ja förmlich dazu an, mit der staatlichen Macht identifiziert zu werden.

Das aus antiken Vorbildern destillierte Schönheitsideal, von den Ästhetikern als Höhepunkt der Kunst ausgerufen, soll die königliche Macht konsolidieren und die Herrschaft des Sonnenkönigs zum gesellschaftlichen Idealzustand verklären helfen. Beide Machtbereiche, der ästhetische und der politische, scheinen für die Ewigkeit bestimmt. Nur eine Kunst, die sich dem Idealschönen verschreibt, dient dem Fortbestand der königlichen Macht, da ihr die ästhetischen Dogmen das Abschweifen in den kritischen Realismus, in die Satire und in den unkontrollierbaren Bezirk subjektiver Eigenwilligkeit versagen. Der Staat strebt Bewahrung und Befestigung seiner Macht an, er will Stabilität. Daher muß die staatliche Kunstpolitik, will sie sich der Künstler für ihre Zwecke bedienen, die Unbeweglichkeit eines unverrückbaren Schönheitsideals zum Leitbild erheben, also den politischen Konservativismus durch den künstlerischen glorifizieren lassen.

Von der Kunstpolitik des französischen Absolutismus führen zwei Wege in unsere Gegenwart: der eine führt, in einer von der offiziellen Kunstreglementierung ausgelösten Gegenbewegung, zum ästhetischen Liberalismus der Demokratien, der andere zur Kunstdiktatur des Sowjetstaates. Auf dem einen Weg sammeln sich anfänglich die oppositionellen Kräfte, die sich dem Diktat des Idealschönen und der thematischen Bevormundung nicht beugen wollen. Diese Fronde wird umso stärker, je mehr die offizielle Kunst, obwohl von der Staatsmacht mit aller nur denkbaren Förderung bedacht, an Vitalität und Substanz einbüßt. Sie bestimmt die Entwicklung, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die stärksten schöpferischen Persönlichkeiten einbezieht und schließlich im auftraglosen Kunstwerk ihre letzte Konsequenz erreicht. Diese Kunst, anfangs von der Obrigkeit mit Unbehagen zur Kenntnis genommen, kann schließlich die offizielle Duldung erringen und in die Museen einziehen. Doch kann sie dies nur dort, wo der Staat das Kunstwerk aus allen seinen Funktionen entläßt und es darauf beschränkt, interesseloses Wohlgefallen zu erregen. Das ist kein Vorrecht der Demokratien, denn die künstlerische Freiheit, der jedes Experiment offen steht, hat keine politische Deckung; man kann sie nicht mit dem Geltungsbereich der politischen Freiheit identifizieren.

Das ist eine unangenehme Wahrheit, die man in der westlichen Welt nicht gerne hört. Wir sehen heute, daß auch Diktatoren wie Tito und Franco das Experiment riskieren, abstrakte Kunst zu dulden und sogar ins Ausland zu schicken. Wer jedoch die Kunst von der Politik abtrennt und sie zu einer Privatangelegenheit erklärt, hat auch kein Recht, aus der sich selbst überlassenen Kunst politisches Kapital zu schlagen, wie dies mit den Auslandsausstellungen der Volksdemokratien geschieht. Es ist heute wie zu allen Zeiten unmöglich, den sozialen Wert oder Unwert einer Gesellschaftsordnung aus den in ihr entstandenen Kunstwerken abzulesen. Das gilt aber auch für die Förderung, welche die vordem ignorierte „moderne Kunst“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den Regierungen der westlichen Welt erfährt. Vielleicht ist es das notorisch schlechte Gewissen der Demokratien, das dazu den Anstoß gab. Die politische Patronanz über die Kunst hat weder deren Wesen verändert noch auf die Politik zurückgewirkt.

Der Minister, der eine Picasso-Ausstellung eröffnet, genügt nur einer Pflicht, aber keinem Bedürfnis. Man ist bestrebt, das Kunstwerk zum Symbol der subjektiven Handlungsfreiheit zu erheben, mit welcher die demokratische Staatsform ihren Überlegenheitsanspruch legitimieren will. Wie aber, wenn auch Staaten mit Konzentrationslagern dem Künstler die Narrenfreiheit zubilligen, ohne darum ihre politische Praxis zu revidieren ? Ich sehe in der plötzlichen Nutzung der modernen Kunst durch die Politik nur eine Fluchthandlung; der politische Ideenverschleiß soll vom Geistigen her mühsam kaschiert werden.

Die Demokratien verwalten heute ebensowenig das Monopol der künstlerischen Freiheit, wie sie sich rühmen dürfen, stets das künstlerische Genie erkannt zu haben. Le Corbusier, vielleicht der genialste Architekt des Jahrhunderts, kann davon berichten. 1929 lehnte eine internationale Jury seinen Entwurf für den Genfer Völkerbundpalast ab, 1931 wiesen die Moskauer Kunstpäpste sein Projekt für den neuen Sowjetpalast zurück. Wieder zwei Jahre später wurde er von den Kulturkämpfern Hitlers zum bolschewistischen Internationalisten gestempelt.

Damit sind wir bei der Kunstregelung der Diktaturen angelangt. Sie läßt unschwer das Fortleben der Motive erkennen, mit denen früher im theologischen und absolutistischen Lager argumentiert wurde. Da der Politiker über die Wirklichkeit befindet, ja im Marxismus sogar mit wissenschaftlicher Unwiderlegbarkeit ihre Struktur und ihren Ablauf definiert, kann er nicht den Künstler neben sich dulden, der auf dem Privileg beharrt, neben die weltanschaulich sanktionierte Wirklichkeit seine eigene zu setzen. Goebbels hat das so formuliert:

Die Freiheit des künstlerischen Schaffens muß sich in den Grenzen halten, die ihr durch die politische Idee und nicht durch eine künstlerische Idee gesetzt sind.

Da die Verwirklichung der politischen Idee vom „Führer“ oder von der marxistischen Geschichtslogik gelenkt wird, ist dem Individuum der Spielraum für initiatives Handeln versagt. Der Künstler muß die politisch hergestellte Wirklichkeit Schritt für Schritt nachvollziehen. Mit andern Worten: er wird zu ihrem Illustrator im banalsten Sinne des Wortes.

Die Kunst der ästhetischen Kontemplation stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeit des Betrachters. Sie bereitet dem breiten Publikum Ärgernis und Unbehagen und kann darum nicht populär werden. Davon profitieren die Diktaturen, wenn sie dem Künstler Rücksichtnahme auf den vielzitierten „Mann von der Straße“ abfordern. So gelingt es ihnen, mit ihrer anspruchslosen Weltanschauungskunst das ebenso anspruchslose Bildbedürfnis der Masse zu befriedigen.

Das Ungenügen an der ästhetischen Selbstzweckhaftigkeit wird in unserem Jahrhundert nicht nur von den Strategen der politischen Propaganda ausgenützt, wir finden es auch als Wurzel verschiedener wichtiger Strömungen, die man der Geschichte der „modernen Kunst“ zurechnet, obgleich ihr Impetus gerade gegen die Isolierung und Musealisierung der schöpferischen Impulse gerichtet war. Hierher zählen etwa die holländische De-Stijl-Bewegung, das Weimarer Bauhaus, die Dadaisten und die Surrealisten. All diesen Bestrebungen ist der Versuch gemeinsam, die engen Grenzen ästhetischer Selbstgerechtigkeit zu sprengen. Sie stellen das Schöpferische über das Künstlerische. Zwar ist keine dieser Bewegungen dem Schicksal der Musealisierung entgangen, jedoch sind ihre Ideen heute noch wirksam. Ihnen ist es zu danken, wenn die Selbstgenügsamkeit unseres Kunstbetriebes von Zeit zu Zeit in Frage gestellt wird, wenn die Künstler, einsichtig geworden, dem goldenen Käfig des Exhibitionismus entfliehen wollen.

Es ist nun an der Zeit, diese Überlegungen zusammenzufassen. An Hand einiger historischer Beispiele sollte von den einschränkenden Bedingungen die Rede sein, denen sich die Kunst der Vergangenheit ausgesetzt sah. Bewußt wurden nur die beschränkenden, nicht auch die stimulierenden Maßnahmen kirchlicher oder weltlicher Kunstpolitik angeführt. Was diese Beschränkungen verhinderten, wissen wir nicht; wir kennen nur, was sie entstehen ließen, und müssen uns damit zufrieden geben. Es ist sinnlos zu fragen, welchen Weg die Kunstentwicklung ohne den byzantinischen Bilderstreit, ohne Calvin und ohne das tridentinische Konzil eingeschlagen hätte. Auf solche Fragen gibt die Geschichte keine Antwort. Sie gehören in das Feld der unnützen Spekulation, der es auch vorbehalten bleibe, die von den Künstlern geleisteten Handlangerdienste zu beklagen.

Kunst wird nicht von allgemeinen Prinzipien gemacht, sondern von Menschen, welche sich mit den Bedingungen abfinden müssen, die andere Menschen ihrem Schaffen zubilligen. Kunst ist die Leistung Einzelner. Und diese simple Tatsache ist der Schlüssel zu der Frage, warum Kunstwerke der abstrakten Einordnung Schwierigkeiten bereiten; warum sie weder von ästhetischen noch von außerkünstlerischen Gesichtspunkten erfaßt, weder als zweckfreie noch als zweckgebundene Leistungen eindeutig definiert werden können; warum Werke, die einst in einem Zweckverband standen, heute in unsere Museen transferiert werden können. Das Kunstwerk ist mehrdeutig — das ist der Grund, warum es immer wieder Verwirrung stiftet.

Kunstwerke sind Hervorbringungen von Menschen, die unser Sprachgebrauch Künstler nennt. Wer bemängelt, daß die Kunst sich von der Religion mißbrauchen ließ, übersieht, daß die Werkzeuge dieses Mißbrauches Menschen waren, die sich zumeist aus freien Stücken dazu bereit fanden, ihr Tun in den Dienst der religiösen Idee zu stellen. Nur wer glaubt, im Namen eines universalen Prinzips urteilen zu müssen, wird ihnen das zum Vorwurf machen. Die Mißbilligung der zweckgebundenen Kunst, wie sie etwa von Herbert Read ausgesprochen wird, trifft sich solcherart überraschend mit der Unduldsamkeit des anderen Lagers, das in der zweckfreien Kunst eine Verirrung aburteilt.

Der Künstler ist nicht der Priester des Heiligtums „Kunst“, sondern der Träger von mehr oder minder großen Fähigkeiten, die er zur Geltung bringen, denen er einen Resonanzraum geben will. Warum sollte er in einem Zeitalter, in dem die Religion alles an sich zieht, auf diesen zentralen Resonanzraum verzichten? Der Künstler ist ein Mensch, dessen Bewußtsein sich neben der Kunst auch mit anderen Inhalten beschäftigen kann. In neuerer Zeit hat er ein starkes Sendungsbewußtsein entwickelt, er fühlt sich oft als Heiliger und Märtyrer, er glaubt, stellvertretend für die gesamte Menschheit zu stehen oder, wie Carstens in dem zitierten Brief, der ganzen Menschheit anzugehören. Er hält seine Kunst für eine heilende Botschaft, sich selbst für einen Messias.

Das ist die eine Spielart des Künstlers, die weltumarmende, die wohl dafür verantwortlich ist, daß immer wieder das Ästhetische als etwas letztlich Unbefriedigendes empfunden worden ist. Darum traten Künstler, zuweilen bis zur Selbstverleugnung, in den Dienst außerkünstlerischer Mächte. Daneben muß die andere Spielart des Künstlerischen erwähnt werden: der Rückzug auf sich selbst, die Flucht ins Private, der Protest gegen alles Öffentliche. Auch darin ist freilich der Künstler den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen verpflichtet, denn sie zwingen ihn zur Abkehr, ihnen gilt seine Resignation.

Nur eines läßt sich vom Künstler mit einiger Sicherheit aussagen: er weiß um die Fragwürdigkeit menschlichen Handelns. Eben darum sucht er nach den verschiedensten Rechtfertigungen — nach demütigenden und anmaßenden, nach dienenden und selbstherrlichen. Die exemplarische Erscheinungsform des Künstlers trägt durchwegs tragische Züge: die einsame Selbstbetätigung, der das Publikum versagt ist, befriedigt ihn ebensowenig wie der öffentliche Ruhm, den er oft mit Zugeständnissen erkauft. Da ihn das Problematische seines Tuns belastet, ist der Künstler keineswegs der exemplarische Mensch, für den er sich hält, sondern eine Ausnahme.

Darum ist, was er malt, weder repräsentativ für die Epoche, in der er lebt, noch für die Gesellschaft, deren Aufträge er ausfüllt. Was er hervorbringt, kann keine andere Kulturschöpfung ihm abnehmen, es ist zutiefst unvergleichlich. Was er uns von einer Zeit überliefert, ist niemals deren plattes Spiegelbild, sondern deren wunschbildliche Erhöhung oder deren protestierende Ablehnung. Nur das, was von einer Epoche, von einer Religion oder einer politischen Lehre der künstlerischen Formulierung zugänglich ist, kann im Kunstwerk seinen Niederschlag finden. Wäre es anders, so hätte das Kunstwerk nur den Wert eines geistesgeschichtlichen Kommentars. Kunst und Religion, Kunst und Philosophie, Kunst und Gesellschaft lassen sich nicht zur Deckung bringen. Der Rest, der stets ungedeckt bleibt, ist entscheidend.

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