Streifzüge, Heft 46
Juni
2009

Klimawandel: Umschlag in die Katastrophe?

Ist der Umschlag des Klimawandels in eine Klimakatastrophe noch vermeidbar? Zumindest im Umfeld der US-Regierung werden inzwischen auch radikale Maßnahmen zur Bekämpfung der rasant fortschreitenden globalen Erwärmung diskutiert.

Barack Obamas wissenschaftlicher Berater John Holdren wollte in seinem ersten Interview seit dem Amtsantritt des Präsidenten nicht ausschließen, dass die US-Administration sich eines Tages zur groß angelegten Klimamanipulation gezwungen sehen könnte. „Wir müssen uns diese Ideen zumindest anschauen. Konzepte einfach vom Tisch zu fegen, dazu sind wir derzeit nicht in der Lage“, sagte Holdren. Manipulationstechniken des „Geo-Engineerings“ würden in Erwägung gezogen, wenn die Regierung „verzweifelt genug“ dafür sei.

„Entsetzlich“ nannte Holdren die Dynamik der globalen Klimaerwärmung in dem halbstündigen Interview für die Nachrichtenagentur AP. Es drohe das Überschreiten von „tipping points“ (Kipp-Punkten), was „tatsächlich intolerable Konsequenzen“ nach sich zöge, so der Professor für Umweltpolitik an der Universität Harvard. Eine dieser grundlegenden Veränderungen des Klimasystems, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, sei der komplette Verlust der arktischen Eisdecke im Sommer. Dieser Kipp-Punkt würde das Klima „in unvorhersehbarer Weise verändern“. Laut Holdren könnte es bereits in sechs Jahren soweit sein.

Geo-Engineering

Den Klimawandel verglich der promovierte Physiker mit einer Fahrt in einem Auto, „das mit kaputten Bremsen im Nebel auf einen Abgrund“ zurast. Sollte die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen so langsam vonstatten gehen, dass das Überschreiten eines „tipping points“ eines Tages nicht anders zu verhindern wäre, käme laut Holdren als „extreme Maßnahme“ z.B. das „Verschießen“ von Schmutzpartikeln oder Schwebeteilchen in der oberen Atmosphäre in Frage; die Teilchen würden einen Teil der Sonnenstrahlen reflektieren. Holdren betonte, dass solch eine Technik des „Geo-Engineerings“ nur als „letzte Möglichkeit“ zur Anwendung käme.

Die Bemerkungen des Präsidentenberaters haben in der US-amerikanischen Öffentlichkeit für ziemlichen Wirbel gesorgt. Holdren ist in einem Folgeinterview mit der New York Times zurückgerudert. Er betonte, einen eigenen Standpunkt vertreten zu haben, nicht den der US-Administration. Das „Geo-Engineering“ sei innerhalb der Regierung zwar „diskutiert“, nicht aber „ernsthaft in Erwägung“ gezogen worden. Es sei im Übrigen „unbedingt vorzuziehen, das Problem durch die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen“ zu lösen. Fraglich, ob dieser Weg überhaupt realistisch ist. Ein von der US-Regierung auf den Weg gebrachtes Klimaschutzpaket, das die Reduzierung des Treibhausgas-Ausstoßes um 20 Prozent bis 2020 und 80 Prozent bis 2050 vorsieht, trifft im US-Kongress auf erheblichen Widerstand.

Allerdings hat der Vorstoß ungewöhnliche Befürworter gefunden. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des konservativen „Cato Institute“ erklärte, „sehr wenige Menschen würden Geo-Engineering rundweg ablehnen“. Das „American Enterprise Institute“, ein republikanischer „think tank“, entwickelt bereits Programme zur Klimamanipulation, die es als „durchführbar und kosteneffektiv“ bezeichnet. Bezeichnenderweise waren es gerade diese konservativen amerikanischen „Denkfabriken“, die mit den Geldern der Ölindustrie lange jede öffentliche Diskussion des Klimawandels erfolgreich torpediert haben.
Viele Institutionen haben sich bereits mit den Möglichkeiten und Gefahren des „Geo-Engineerings“ befasst, darunter in den USA die „National Academy of Science“ (Akademie der Wissenschaften) und die „American Meteorological Society“ (Meteorologische Gesellschaft), aber auch das britische Parlament. Der von Holdren wieder ins Gespräch gebrachte Begriff geht auf eine 2006 geäußerte Idee des Nobelpreisträgers für Chemie, Paul Crutzen, zurück, der mit Hilfe von Schwefelpartikeln in der Stratosphäre die Sonnenstrahlung reflektieren wollte. Damit würde praktisch „der Effekt von Vulkanausbrüchen“ nachgeahmt, so Holdren.
Ähnlich argumentierte Mitte vergangenen Jahres der Australier Tim Flannery. Der einflussreiche Zoologe ergänzte, dass solche Maßnahmen „die Farbe des Himmels ändern würden“ – in ein Schwefelgelb. Das sei die „letzte Barriere vor dem Klimakollaps“. Für sein Engagement in Klimafragen wurde Flannery zum „Australian of the Year 2007“ gewählt. Die Reduktion von Treibhausgasen reicht seiner Meinung nach nicht aus. Dafür hält er den Klimawandel für zu weit fortgeschritten: „Alles entwickelt sich in die falsche Richtung, die Zeitspannen werden kürzer, die Ausmaße der Verschmutzung in der Atmosphäre wachsen.“ Die mittlerweile erreichte Konzentration an Treibhausgasen in der Atmosphäre sei ausreichend, um „einen katastrophalen Klimawandel auszulösen“.

Konkretere Planungen zum „Geo-Engineering“, das uns einen malerischen Schwefelhimmel bescheren könnte, liegen in Moskau bereits vor. Juri Israel, Direktor des „Instituts für globales Klima und Umweltschutz“ der Russischen Akademie der Wissenschaften, stellte bereits Mitte 2007 ein Maßnahmenpaket zur Klimamanipulation vor. Unter anderem sollten Flugzeuge „in einer Höhe von bis zu 14 Kilometern über der Erde eine dünne Aerosol-Schicht aus schwefelhaltigen Teilchen mit einem Durchmesser zwischen 0,25 und 0,5 Mikrometer“ versprühen, wie RIA-Nowosti damals meldete. Eine Million Tonnen des mit Schwefelteilchen präparierten Aerosols könne Juri Israel zufolge in der Atmosphäre versprüht werden, um die durchschnittlichen Temperaturen kurzfristig um 1,5 Grad Celsius zu senken. Sobald die Schwefelteilchen zur Erde herabsinken würden, müsste „nachgesprüht“ werden.

All diese Maßnahmen basieren auf dem Phänomen des „global dimming“ (globale Verdunkelung), das schon heute die Klimaerwärmung abmildert. Durch die mit zunehmender Industrialisierung einhergehende Luftverschmutzung hat sich die Sonneneinstrahlung stark verringert. Staub- und Schmutzpartikel, Aerosole und Kondensstreifen von Flugzeugen absorbieren einen Teil des Sonnenlichts. Hans Joachim Schellnhuber, Klimaberater der Bundesregierung, bezifferte die Wirkung dieses Schleiers aus Schmutzpartikeln Ende März in einem dpa-Interview: „Wenn man die heutige Treibhausgaskonzentration einfrieren und den Schmutzschleier wegziehen würde, dann würde dies wahrscheinlich schon zu einer Erwärmung um 2,4 Grad führen.“

Die Bedeutung der „tipping points“ für die Dynamik des Klimawandels wird bereits seit einigen Jahren innerhalb der Wissenschaft diskutiert. Der US-amerikanische Klimawissenschaftler James E. Hansen kann getrost zur akademischen Elite seines Landes gezählt werden. Er ist Professor für Erd- und Umweltwissenschaften an der renommierten Columbia University und steht bei der US-Raumfahrtagentur NASA dem „Goddard Institute for Space Studies“ vor. In den 1980er Jahren war Hansen einer der ersten Wissenschaftler, die eindringlich vor den Folgen der Erderwärmung warnten.

Rückkopplungseffekt

In einer im Mai 2007 publizierten Arbeit entwickelt Hansen den Begriff des „schnellen Rückkopplungseffekts“ (fast-feedback-effect), den er am Beispiel der sprunghaft schwindenden Eisdecke in der Arktis erläutert. Demnach schmilzt das Eis an den Polen nicht langsam und graduell über die Jahrhunderte, sondern schlagartig, binnen kürzester Zeit. Das gesamte arktische Klimasystem würde entsprechend schlagartig „kollabieren“, d.h. von einem Zustand (geschlossene Eisdecke Polarmeer) in einen anderen (eisfrei im Sommer) umschlagen. Dieser Ansicht hat sich inzwischen ja auch der wissenschaftliche Berater des Präsidenten angeschlossen. Ursprünglich ging die Klimawissenschaft davon aus, dass solche Prozesse graduell und langsam – parallel zum langsamen und graduellen Anstieg der Treibhausgaskonzentration – über einen längeren Zeitraum ablaufen würden.

Schon im Juni 2008 warnte Hansen in einer Rede vor dem US-Kongress, dass die Zeit zu handeln äußerst knapp bemessen sei. „Elemente eines perfekten Sturms“ seien nachweisbar, eine „globale Katastrophe“ stehe kurz bevor. Auch Hansen geht – ähnlich wie Flannery – davon aus, dass die erreichte Konzentration von CO2-Partikeln in der Atmosphäre bereits zu hoch sei. Das Klima könnte sehr bald diesen „Punkt des Umkippens“ erreichen. Sei dieser Punkt überschritten, würde es sich mittels positiver Rückkopplungen „dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen“.

Umschlagen von Quantität in Qualität

Was Hansen, Holdren und andere Wissenschaftler hier (wieder-)entdeckt haben, ist eine alte Gesetzmäßigkeit materialistischer Dialektik. Die geht seit Marx’ Zeiten davon aus, dass beständige, quantitative Änderungen in einem komplexen System – wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre – ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt. Wie dieses „Umschlagen von Quantität in Qualität“ vonstatten geht, kann jeder seit 1878 im „Anti-Dühring“ und seit 1883 in der „Dialektik der Natur“ nachlesen. Im gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft gerade die Marx’sche materialistische Dialektik neu – freilich, ohne dies zu bemerken.
Das berühmte Zitat aus der – durchaus auch innerhalb linker Kreise umstrittenen – „Dialektik der Natur“ lautet:

Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie). Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden.

Der „quantitative Zusatz“ in unserem Klimasystem ist die permanent steigende CO2-Konzentration, die eben beim Erreichen eines bestimmten Punktes das Umschlagen des Klimasystems mit sich bringt. Das Problem liegt nur darin, dass keinesfalls klar ist, wie weit ein solcher qualitativer Umschlag gehen würde. Neben der akut vom Verschwinden bedrohten Sommereisdecke in der Arktis macht die Wissenschaft noch andere „tipping points“ des Weltklimas aus wie den Permafrostboden im hohen Norden, das gefrorene Methanhydrat in den Weltmeeren – das sich ebenfalls in der Arktis konzentriert – und die drohenden Dürren im Regenwaldgürtel, die zu dessen Absterben und Abbrennen führen würden.

Es ist durchaus denkbar, dass allein schon das Verschwinden der Sommereisdecke in der Arktis den von Hansen prognostizierten „schnellen Rückkopplungseffekt“ so weit treiben wird, dass auch große Teile des Permafrostbodens in Sibirien und im nördlichen Kanada auftauen und das bereits jetzt sich lösende, gefrorene Methanhydrat massenhaft in die Atmosphäre abgegeben wird. Hierdurch würde eine große Menge an Methan emittiert, dessen Klimawirksamkeit größer ist als die von CO2. Der Effekt könnte den des bislang im Zuge der Industrialisierung freigesetzten CO2 übersteigen. Das Klimasystem würde sich tatsächlich „dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen“, wie es Hansen formulierte. Die Folgen für die menschliche Zivilisation, ja schon für die bloße Ernährungsbasis der Menschheit wären katastrophal.
Sollten tatsächlich Holdrens Befürchtungen wahr werden und die Arktis in sechs Jahren im Sommer eisfrei sein, dann wurde dieser „tipping point“ bereits jetzt überschritten. Das Klimasystem reagiert sensibel, aber auch – nach menschlichem Ermessen – langfristig und träge auf den Klimawandel. Bis alle Auswirkungen der bislang eingeleiteten Erderwärmung vollständig im Klimasystem greifen, können Dekaden vergehen. So dauerte es beispielsweise sehr lange, bis die unteren Wasserschichten der Ozeane überhaupt vom bereits eingeleiteten Klimawandel erfasst worden sind. Dies bedeutet auch, dass selbst bei einem totalen Stopp jeglicher Treibhausgasemissionen die Klimaerwärmung noch über Dekaden fortschreiten würde.

Auch die Weltwirtschaftskrise wird aller Voraussicht nach keine Verlangsamung der Dynamik des Klimawandels mit sich bringen. Laut jüngsten Zahlen der US-Regierung sind beispielsweise die Emissionen von Treibhausgasen aus der Verbrennung fossiler Energieträger in 2008 aufgrund des Wirtschaftseinbruchs zwar um 2,8 Prozent in den USA zurückgegangen, aber der globale Vergleich trübt die Hoffnung auf eine starke, durch die Krise bedingte Reduktion der CO2-Emissionen.

Das weltweite Bruttosozialprodukt (BSP) ist im vergangenen Jahr trotz der einsetzenden Krise noch um 2,5 Prozent gestiegen. Dennoch war dieses Wachstum längst nicht mehr so stark wie in 2007, das eine globale Zunahme des BSP um 3,2 Prozent verzeichnete. Folglich hätte sich auch die Zunahme der CO2-Konzentration in der Atmosphäre verlangsamen müssen. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall: Die CO2-Konzentration stieg 2008 um 2,3 auf inzwischen 385 Moleküle pro Million Molekülen in der Atmosphäre (ppm), während der durchschnittliche Anstieg der CO2-Konzentration in den vergangenen Jahren bei nur 2,0 ppm lag. Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre ist im vergangenen Jahr also übermäßig stark gestiegen, obwohl das globale Wirtschaftswachstum bereits deutlich schwächer ausfiel als 2007!

Es wird befürchtet, dass Wälder, Ozeane und andere Treibhausgas-Senken bald gesättigt sind und kaum noch CO2 speichern können, sodass auch hier bereits ein „tipping point“ erreicht sein könnte, der einen Rückkopplungseffekt auslösen würde. Vor 50 Jahren nahmen Vegetation und Meereswasser von jeder Tonne emittierten CO2 immerhin 600 Kilogramm auf, derzeit sind es nur noch 550 Kilogramm.

Es verwundert somit nicht, dass zumindest der Klimaberater der US-Regierung und die amerikanischen konservativen Denkfabriken inzwischen „verzweifelt genug“ sind, um solch drastische Maßnahmen wie das „Geo-Engineering“ in Erwägung zu ziehen.

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