FORVM, No. 97
Januar
1962

Kultur als Illusion

Das Schicksalsjahr 1914, in welchem alle Standardbegriffe des bürgerlichen Zeitalters über den Haufen geworfen wurden, hat auch schlagartig deutlich gemacht, daß es ein Kulturbewußtsein „au-dessus de la mélée“ nicht mehr gibt. Nur noch die Sphäre der Machtpolitik hatte Bestand; ein paar verzweifelte Stimmen in allen Lagern konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die durch Generationen genährte Idee einer europäischen Kultur wie eine Phantasmagorie in Rauch aufgegangen war. Niemand hatte von den Kulturträgern — den Künstlern, den Intellektuellen — erwartet, daß sie sich der entfesselten Kriegsfurie entgegenstellen könnten. Unbegreiflich aber war, daß die Vertreter des Geistes in allen Ländern den über Nacht hereingebrochenen Weltkrieg, der so eindeutig um wirtschaftliche und politische Macht auf Erden ging, als Ideenkrieg mißverstehen konnten, als eine Auseinandersetzung, in der über die Kultur mitentschieden werden sollte. Daß dieser erste Weltbrand nicht nur von den Massen, sondern auch von den sogenannten Kulturschaffenden keineswegs als Störung, sondern geradezu als die große Befreiung, als das erlösende Elementarereignis ihrer Existenz begrüßt werden konnte, legt den Schluß nahe, daß die Kultur für die Mehrzahl ihrer Repräsentanten nicht mehr das große Schicksal ihres Lebens war. Vielmehr empfingen auch sie die Bestimmung ihrer Existenz geradezu mit selbstquälerischer Lust von der Politik.

Große und kleine Dichter und Denker aller Nationen schienen mit einem Schlage darin einig zu sein, daß nicht mehr zählte, was sie bisher im weiten Bereich der Kultur gedacht und geleistet hatten, daß es in ihren Augen unbedeutend wurde angesichts eines politischen Fatums, das riesengroß am Horizont sichtbar wurde. Selbst ein so vorsichtiger Schriftsteller wie Robert Musil schrieb in jenen Augusttagen nieder:

Eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten ... Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockungen. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: Das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar, aber so fest zu fühlen, wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein Splitterchen war.

Daß die Kriege und Revolutionen unserer Zeit die Vertreter des Geistes so wehrlos vorgefunden haben, als eine Beute der Ereignisse und der gerade in Umlauf gesetzten Programme und Stimmungen, läßt erkennen, daß sich in der Beziehung zwischen Kultur und Leben etwas Entscheidendes geändert hat. Noch Schiller konnte den Ereignissen und Stimmungen seiner Epoche ein ethisches Ideal entgegensetzen. Das Revolutionäre und Turbulente, das seinem Jugenddrama „Die Räuber“ das Gepräge gibt, darf uns nicht übersehen lassen, daß er auf die Ideen und das politische Geschehen seiner Zeit keineswegs als ein „Bündel von Emotionen“ oder als ein von der Wirklichkeit überwältigter Mensch reagiert hat. Ein Franz Moor, der auf dem Grunde der eigenen Person die bittere Hefe des Nichts findet, könnte zur Not einem Dramatiker unserer Zeit gelingen. Für einen Dichter wie Schiller stellt die „Kanaille Franz“ aber nur die eine Hälfte der Wahrheit dar. Er hat ihn ausdrücklich als „Mißmenschen“ bezeichnet, weil Franz Moor außerstande sei, sein ephemeres Dasein an jenen Normen und Gesetzen zu messen, die sich dem Menschen in der Sphäre des Geistes vernehmlich machen. Schiller spricht für eine ganze Epoche, wenn er der Kultur die Aufgabe zuweist, „die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicherzustellen“.

Kein 1933 ohne 1917

Es ist eine Binsenweisheit, daß sich das Rad auch der Geistesgeschichte nicht zurückdrehen läßt. Trotzdem bleibt uns die Einsicht nicht erspart, daß die Ohnmacht der Kulturträger in unserer Zeit, der Bedeutungsverlust der Kultur überhaupt, mit dem Einschrumpfen des Glaubens an eine autonome Sphäre des Geistes zusammenhängt.

Das Phänomen der Gleichschaltung des deutschen Kulturlebens, das sich im Jahre 1933 vor unseren Augen vollzog, ist keineswegs vom Himmel gefallen. Es ist nur der extrem politische Ausdruck für die in der Welt um sich greifende Überzeugung, daß nur mehr auf die Wirklichkeit Verlaß ist und daß der „wirklichkeitsfremde“ Geist ein luftiges, gespenstiges Etwas oder, noch richtiger, ein Nichts ist. Die sogenannte Kulturarbeit vollzieht sich seit langem in einer freischwebenden Sphäre, die weder in einem echten Glauben begründet ist noch in der Überzeugung, daß es eine Geisteswelt gibt, die, der Natur übergeordnet, ihre eigenen Zwecke, Werte und Normen entwickelt.

Im Jahre 1917 aber hatte in Rußland bereits der Prozeß einer totalen Unterstellung der geistigen Tätigkeiten unter die kommunistische Staatslehre begonnen, welche die Allmacht der Gesellschaft verkündet und den Einzelnen auch als Kulturschaffenden und Kulturteilhabenden entwertet. Hier wird Kultur eindeutig als ein rein gesellschaftliches Phänomen erlebt; es ist keine Sphäre des Geistes und der Kultur mehr denkbar, die dem Einzelnen noch auf Grund eines individuellen Erlebnisses zugänglich wäre.

Zwischen diesem östlichen Kulturbegriff und dem in unserer westlichen Welt noch partiell gültigen gibt es keine Brücke. Hier kann es auch kein Verständnis geben, da sich beide Kulturauffassungen gegenseitig aufheben. Das russische Kulturexperiment gilt mit Recht als totaler Neubeginn. Wir dagegen bleiben nolens volens die Erben einer zweitausendjährigen Geistesgeschichte, solange wir versuchen wollen, unsere Vorstellung von Kultur gegen den im Osten verwirklichten Begriff einer reinen Gesellschaftskultur zu behaupten. Obwohl auch unser Kulturbegriff längst ins Schwanken geraten ist, müssen wir an der Illusion festhalten, daß die Kultur sich in einer Sphäre mit eigenen Gesetzen und Ansprüchen vollzieht. Schon aus Gründen der Selbstbehauptung fühlen wir uns genötigt, die Kultur-Sphäre als den Bereich zu erleben, in dem der Mensch zu sich selbst kommt und begreifen lernt, daß er nicht vom Brot allein lebt, und auch nicht vom hektischen Großbetrieb und dem Geschäftswesen. In der östlichen Welt ist diese Illusion nicht mehr gestattet, sie gilt bereits als staatsgefährlich. Der dort zur Doktrin erhobene sozialistische Realismus, erklärte ein sowjetrussischer Schriftsteller, „kann und darf träumen, soweit er sich auf die wirklichen Kräfte der Entwicklung stützt“.

Die ignorierte Mauer

Es wäre leichtfertig, bei einer Betrachtung des illusionären Moments unserer westlichen Kulturvorstellung und Kulturpraxis zu verschweigen, daß das politisch gravierendste Ereignis des letzten Jahres — die hermetische Zweiteilung Berlins durch einen Gewaltakt — auch ein eminent kultureller Vorgang war. Es handelte sich hier nicht nur um die politische Zerreißung einer Weltstadt, sondern um die Verdrängung der letzten Reste des Bildes vom Menschen als einem geistig bestimmten, seinem Gewissen verantwortlichen Wesen. Wie nirgendwo anders auf der Welt stehen sich in Berlin diesseits und jenseits der Mauer zwei Auffassungen von Kultur gegenüber, die miteinander nicht das Geringste mehr zu tun haben. Dennoch gefallen wir uns in der Illusion, es gäbe — obwohl im Osten schon seit Jahrzehnten die Idee der persönlichen Freiheit aus dem Menschenbild getilgt ist — noch immer so etwas wie eine gemeinsame, für die ganze Erde gültige Kulturvorstellung. Daß wir in einer solchen Weltsituation einen echten kulturellen Austausch zwischen Ost und West für möglich halten, ja ihn durch Kulturabkommen untermauern, beweist geradezu, in welch illusionären Vorstellungen wir auch heute noch befangen sind. Nichts wirkt beruhigender, nichts ist aber gefährlicher als die Illusion, daß wir durch einen Austausch von Musikern, Schauspielern und Sängern die Völker einander „näherbringen“ und die Spannungen eines politisch unaufhebbaren, ins Geistige übergreifenden Machtkampfes verringern könnten. Als ob je irgendwo in der Welt zwischen 1914 und 1961 die in der Luft liegenden Konflikte durch staatlich gelenkte Konzert- und Theateraufführungen hätten verringert werden können! All dies sind Symptome eines unvermeidlichen „Als-Ob“-Zustandes. Der Kulturapparat ist nun einmal da, er wächst, von den Korybanten des Kulturbetriebs in den Redaktionen, Lektoraten, dramaturgischen Büros angetrieben, immer weiter und will sein Opfer haben.

Denn längst ist im Bewußtsein der Allgemeinheit der Begriff des Kulturlebens durch den des Kulturbetriebs ersetzt. Zum Wesen des Betriebs aber gehört es, daß er, geschehe was da mag, auf jeden Fall weitergeht. Wenn man auch nicht mehr genau weiß, was die Idee einer lebendigen Kultur eigentlich bedeutet und enthält, so glaubt man doch zu wissen, wie der Kulturbetrieb auf jeden Fall in Gang zu halten ist. Ob auch der Nationalsozialismus die geistigen Grundlagen der menschlichen Existenz erschüttert, ob der Kommunismus die letzten Reste geistiger Freiheit vernichtet: es scheint vor allem darauf anzukommen, daß auf jeden Fall weitergeschrieben, weitergespielt und weitergetanzt wird.

Eine tiefere Vorstellung von Kultur freilich müßte sich gerade darin zeigen, daß bei gewissen Elementar-Ereignissen, etwa im Jahre 1933 oder im Jahr der Atombombe, den Kulturschaffenden die Feder entsinkt, das Tanzbein stillsteht und das Kulturgetue, sei es auch nur für kurze Zeit, zum Erliegen kommt. Im Sinne eines Satzes von Kafka, demzufolge gewisse Prüfungen gerade von denen bestanden werden, die die gestellten Fragen nicht beantworten können, wäre eine Gesinnung denkbar, die den Kulturschaffenden das zeitweilige Verstummen edler und würdiger erscheinen ließe als das „Weitermachen“ in einer Zeit, die ihnen die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks raubt. Fassen wir für einen Moment den fiktiven und unmöglichen Gedanken eines selbstauferlegten Moratoriums der Kulturschaffenden ins Auge (der auch ein Moratorium der zur Landplage gewordenen und immer anachronistischer wirkenden Festspiele in sich schlösse): es gibt keinen Zweifel, daß gegen ihn zwar von Stadtverwaltungen, Hoteliers, Fremdenverkehrsvereinigungen und Reiseagenturen, aber gewiß nicht vom Geist her legitim protestiert werden könnte.

Förderung als Armutszeichen

Wenn hier Kultur als Illusion verstanden wird, so ist dies nicht nur in einem negativen Sinne gemeint. Wo immer von einer Zivilisations- oder Kulturlage die Rede ist, werden gewisse Konventionen oder Tabus, aber auch gewisse für die geistige Existenz unentbehrliche Illusionen vorausgesetzt. Eine Arbeitszivilisation, in welcher das Streben nach materieller Sicherheit und Wohlstand als Hauptimpuls des Lebens anerkannt ist, hat besonders jene Illusion nötig, daß der tägliche Lebenskampf, der Drang nach Selbsterhaltung und Machterweiterung, nicht alles ist. Die Welt der Antike oder des christlichen Mittelalters hätte mit unserem Kulturbegriff nicht viel anfangen können. Auch damals tobte sich der Übermut der Mächtigen aus; Neid und Grimm der Zu-kurz-Gekommenen, aber auch die Stimmung der Zeit waren durch einen das ganze Leben überwölbenden Schicksalsbegriff bestimmt. Für das damalige Weltbild stellte sich das Diesseits als die eine, unwesentlichere Hälfte der Existenz dar; schon infolge der Kurzlebigkeit des Durchschnittsmenschen wurde das tägliche Leben ganz anders vom Erlebnis der Vergänglichkeit durchwirkt als heute, da das Ideal der Hygiene das Ideal der Unsterblichkeit aus dem Bewußtsein der Zeit verdrängt hat.

Solange die übergroße Mehrzahl der Menschen weiß, wozu sie auf der Welt ist, solange eine Religion oder eine große Idee das Leben in allen seinen Äußerungen bestimmt, gibt es keine Kulturkrise. Die Diskussion über Kultur, die durch Bücher, Vorträge und Tausende von Feuilleton-Beiträgen genährte Besorgnis über ihren Weiterbestand verrät bereits, daß man nicht mehr sicher weiß, worauf der ganze Rummel eigentlich hinausläuft. Aus dem Gefühl der Bedrohung heraus wird Kultur dann offiziell gefördert. Man glaubt zu spüren, daß das Leben seine Essenz verlöre, wenn es auf den Kampf um Macht und Selbsterhaltung reduziert wäre. Es sei zugegeben, daß im Zeitalter der industriellen Umgestaltung des ganzen Erdballs eine solche Förderung der Kultur durch amtliche oder halbamtliche Stellen nötig ist. Aber wir sollten uns über das Illusionäre jeder öffentlichen Kulturförderung Rechenschaft geben. Ebenso sollten wir bedenken, daß die Zahl derer, die am Kulturleben ihrer Zeit als aktiv Mitdenkende oder Mitgestaltende teilnehmen, immer kleiner wird. Wie die große Politik im demokratischen Zeitalter notwendigerweise von einer Minderheit von Politikern gemacht wird, die wir als unsere Vertreter in die Parlamente gewählt haben, so wird heute das, was man das Kulturbewußtsein einer Zeit nennt, von einer Minderheit von Menschen bestimmt, die sich die Kultur zum Lebensgeschäft machen und dadurch den Ton auch für jene angeben, die weder die Zeit noch die materielle Unabhängigkeit haben, um sich über das, was Kultur ist, ihre eigenen Gedanken zu machen.

In den letzten Monaten habe ich Angehörigen aller möglichen Berufe die Frage gestellt, wer überhaupt noch Zeit zum Lesen hat, wer sich mit der Literatur unserer Epoche oder gar mit der früherer Zeiten noch vertraut machen kann. Diplomaten, Lehrer, Geschäftsleute erklärten offen, daß sie froh seien, sich aus Zeitschriften oder gar Zeitungen eine ungefähre Vorstellung von den Strömungen unserer Zeit zu machen. Studenten haben mir oft versichert, daß die Prüfungen für ihr Berufsfach ein solches Spezialwissen voraussetzen, daß sie sich die Lektüre von Büchern außerhalb ihres Berufsinteresses nur im Ausnahmefall leisten können. In der Neuen und in der Alten Welt ist die Wissensfülle, die zur Beherrschung eines Spezialfaches verlangt wird, so groß geworden, daß das Ideal einer allgemeinen Bildung aus geistiger Überbeanspruchung unter den Horizont des Bewußtseins gesunken ist. In Amerika habe ich es mehr als einmal erlebt, daß ein Mensch, „dessen Interesse verschiedenen Kulturgebieten gilt, suspekt wird. Er gerät in den Geruch des Dilettantismus; man sieht in ihm einen Menschen, der es schwer haben wird, als Fachmann zu gelten. In Europa geht die Entwicklung in dieselbe Richtung. Man scheint sich noch nicht genügend Rechenschaft darüber zu geben, was die Vermassung unserer Hochschulen für den Kulturbetrieb bedeuten wird. 400, ja 600 Hörer in einer Vorlesung sind keine Seltenheit mehr. Man hat mir von Seminaren mit 100 bis 200 Teilnehmern berichtet, in denen eingereichte Arbeiten erst ein bis zwei Semester später von den Professoren zurückgegeben werden konnten. Ich habe von einem Germanisten gehört, dem es infolge seiner Überbürdung durch Prüfungs- und Seminararbeiten nicht mehr möglich ist, Werke selbst zu lesen, über die in seinem Seminar von Studenten referiert wird. Der Autor eines bekannten Buches über das europäische Drama hat mir versichert, daß es ihm die Fülle des Stoffes nicht erlaubt hat, sich mit den Romanen und Essays der Autoren zu beschäftigen, deren dramatische Arbeiten er behandelt hat.

Wer mitreden will, greift notgedrungen zu dem Hilfsmittel, sich aus Buchrezensionen oder bestenfalls aus Büchern über Bücher ein Bild der geistigen Produktion seiner Epoche zu machen. Vor einigen Monaten habe ich an einem Gespräch über Robert Musil teilgenommen, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß sich nur zwei der zahlreichen Teilnehmer mit den Büchern des Autors beschäftigt hatten. Einer von diesen beiden gestand, daß er den „Mann ohne Eigenschaften“ „diagonal“ gelesen habe. In einer solchen Situation bekommen Buchrezensionen und Theaterkritiken eine neue Bedeutung. Bisher hatten sie dem Zweck gedient, das Publikum zu informieren, ob sich die Lektüre eines Buches oder der Besuch einer Aufführung lohne. Heute sind Rezensenten immer mehr die Funktionäre der öffentlichen Meinungsbildung, die den zeitknappen Kulturinteressenten ihre Gedanken und Urteile zum Weiterverbrauch in Diskussionen und Kulturgesprächen aushändigen. Eine große deutsche Zeitung hat vor kurzem allen Ernstes davon gesprochen, daß Autoren und Kritiker heute geradezu die Aufgabe hätten, „Bewußtsein zu stiften“.

So hat sich eine kleine Schicht von Fachleuten herangebildet, die auf Grund ihrer den Mitmenschen schon zeitlich versagten Vertrautheit mit den neuesten Bühnenwerken, Büchern und Ausstellungen autoritativ versichern, was als zeitgemäße Kunst und Kultur anzusehen ist und was nicht. In seinem Buch „Die Zerstörung der deutschen Literatur“ hat Walter Muschg darauf hingewiesen, daß vor sechs Jahren das Andenken des dänischen Märchendichters Andersen plötzlich rund um den ganzen Erdball mit solcher Lautstärke gefeiert wurde, als ob Kindermärchen über Nacht die Lieblingslektüre der Menschen geworden wären. Dabei hätte man wahrscheinlich diejenigen an den fünf Fingern einer Hand abzählen können, die durch einen derartigen Kulturbetrieb veranlaßt wurden, zu Andersens Märchen zu greifen. Niemand, der die spektakulären Goethe-Feiern des Jahres 1932 miterlebt hat, hätte auf den Gedanken kommen können, daß in einem Lande, das unter Mitwirkung von Staats- und Stadtbehörden, von Hoch- und Mittelschulen einen solchen Goethe-Kult inszenierte, ein knappes Jahr später nicht minder spektakuläre Bücherverbrennungen organisiert werden konnten.

Die Revolution der Kulturmanager

Was für Bücher gilt, gilt mutatis mutandis für Ausstellungen. Es soll nicht verkannt werden, was von idealistisch gesinnten Museumsleitern vor allem auch in der Neuen Welt unternommen wird, um die Kunst, wie man sagt, an das Volk heranzubringen. Und es soll ebenso nicht geleugnet werden, daß es gelungen ist, den Sinn für Bildqualität in breiteren Schichten zu schärfen. Dennoch haben die vielen Vorträge und Artikel über bildende Kunst in Presse und Radio den Mut zum eigenen Geschmack und zum eigenen Urteil abgestumpft. Wiederum hat der normale Kunstfreund zu wenig Zeit zum Nachdenken, zu wenig Kraft zur Sammlung, um einen eigenen Kunstgeschmack zu entwickeln. Mehr als je greift er die in der Luft liegenden Slogans auf, um mit den propagierten Kunstrichtungen in Einklang zu bleiben und als Kenner mitreden zu können. Kunstexperten scheuen nicht davor zurück, den zeitbedrängten Mitmenschen Bilder einer bestimmten Schule oder Richtung nicht so sehr um ihrer artistischen Qualität willen, sondern nur darum zu empfehlen, weil sie die besondere Problematik unserer Krisenzeit ausdrücken.

Durch Übernahme fremder Eindrücke und ästhetischer „Experten“-Urteille wird aber gerade die natürliche Begeisterung für eine hohe Kunstleistung, die artistische Entdeckerfreude in der Begegnung mit einem Buch oder Kunstwerk unterdrückt und abgestumpft. Immer mehr geht man in Theater und in Konzerte, um mitreden zu können, um Mitträger eines Kulturbetriebes zu sein, der als eine Art gesellschaftlicher Verpflichtung, ja manchmal sogar als Religionsersatz über die Zeitgenossen verhängt ist. In der Öffentlichkeit wird heute die Teilnahme am Kulturleben der eigenen Zeit mit jenem Ernst und Nachdruck empfohlen, mit dem man früher die Teilnahme am kirchlichen Gemeindeleben empfohlen hat. Manchmal scheint es, als ob unsere Epoche, durch deren Kriege und Revolutionen alle bisher gültigen Werte und Standardbegriffe fragwürdig geworden sind, sich darüber hinwegtäusche durch das Gefühl, daß das sogenannte Kulturleben in alter Stärke weitergeht. Vielleicht gehört diese Illusion zu den heute lebensnötigen Illusionen. Vielleicht kann der Mensch, der jede Art metaphysischen Glaubens eingebüßt hat, nur durch eine wenn auch noch so kursorische Beteiligung am Kulturleben seiner Zeit die in ihm noch nicht ausgelöschte Sehnsucht befriedigen, in der ihn umdröhnenden Wirklichkeit nicht ganz zu ertrinken.

Unsere Kultur ist heute nichts anderes als eine Art riesiges Warenhaus, in welchem der Atheist wie der Gläubige, der Nihilist wie der Konservative mit dem nötigen Schau-, Hör- und Lesematerial versehen wird. Aber jede echte Kultur muß doch in all ihren Äußerungen eine vielleicht gar nicht definierbare, aber trotzdem vernehmbare Antwort auf die Frage nach dem Sinn des ganzen Lebensaufwandes enthalten. Was ist denn noch an Werten nach dem ungeheuren Zusammenbruch intakt geblieben? Diese Frage, die sich überall erhebt, wo von Kultur die Rede ist, kann in der heutigen Situation gar nicht mehr beantwortet werden. Das wäre an sich weder tragisch noch katastrophal; denn es hat in der Menschheitsgeschichte immer wieder Epochen geistiger Erschöpfung gegeben, auf die ein Neubeginn folgte. Man muß nur warten können. Aber wir können nicht warten. Hinter eisernen und seidenen Vorhängen werden schon die Umrisse derer sichtbar, die uns und alle unsere Kulturvorstellungen — vom Begriff der Freiheit angefangen bis zum Begriff des souveränen Individuums, das nur seinem Gewissen verantwortlich ist — begraben wollen. Kürzlich fand in Wien eine philosophische Diskussion statt, bei der plötzlich wie ein Schauer alle Teilnehmer die Gewißheit überfiel, daß schon 60 Kilometer weiter östlich eine solche Veranstaltung nicht mehr denkbar wäre.

Wir selbst haben inzwischen mit den unserem Kulturbewußtsein zugrundeliegenden Ideen und Idealen die Massen in Asien und Afrika erregt. Bestürzt müssen wir erleben, daß diese Menschen nun uns mit dem Maßstab der von uns gelieferten Begriffe und Werte messen und triumphierend feststellen, daß wir ihnen nicht nachleben. Auf unseren Bühnen aber und in unseren Büchern werden fast nur Stimmen des Überdrusses an der westlichen Kultursituation laut. In ihnen wird eine geheime Sehnsucht nach Untergang spürbar, nach einer neuen, nur vage geahnten Existenzform, in der dem Menschen die Verantwortung für die Gestaltung seines immer unübersichtlicher gewordenen Lebens abgenommen ist. In einem selbstquälerisch übersteigerten Wahrheitsdrang reißen Literatur und Kunst vom Bilde des abendländischen Menschen Fetzen nach Fetzen ab; man stürzt sich mit der Wollust der Zerstörung auf das Brüchige, das unvermeidbar Unwahre und Künstliche unserer Existenz — im Glauben, daß sich aus der totalen Absage an unsere notwendigerweise mit Unvollkommenheiten und Unredlichkeiten behaftete Zivilisation und Kultur schließlich etwas Reineres und Vollkommeneres ergeben müsse.

Wenn wir nach einer Kultur-Idee Umschau halten, die wir der völlig vergesellschafteten „Kultura“ des Ostens entgegenstellen können, so kann das keine Kultur-Idee „auf Abruf“ sein, die mit jeder neuen wissenschaftlichen Entdeckung, jeder neuen psychologischen Methode, ja mit jedem neugeprägten Schlagwort ihr Wesen verändert. Es kann nur jene in jahrhundertelangen Leiden und Kämpfen gestaltete Idee der Kultur als eines vielfältigen Ausdrucks des Glaubens sein, daß der Mensch — trotz unaufhebbarer Verstrickung in den Kampf um Selbsterhaltung und Erfolg — an einer geistigen Sphäre, sei es als Schaffender, sei es als Aufnehmender, teilhat. In diesem Sinne, und darin liegt die unvergleichliche Würde der europäischen Kultur-Idee, kann sich der Mensch, um es mit einem Wort Otto Weiningers zu sagen, aus einer bedrückenden und einengenden Zeitlichkeit hinaussehnen und die Dimension der Ewigkeit im schöpferischen Traum ergreifen.

Kultur als Fluchtreflex

Aber nicht nur in diesem Sinne haftet dem Begriff der Kultur etwas Imaginäres, Fiktives an. Durch sein Festhalten an der Idee einer aus geistigen Quellen gespeisten Kultur, ja auch durch seine so oft snobistisch gefärbte und lippenbekennerische Hingabe an die sogenannte Kulturarbeit sucht sich der Mensch über die brutale Tatsache hinwegzutäuschen, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen vom ehernen Gebot der Selbsterhaltung bestimmt wird — und nur im Ausnahmefall von geistigen Aspirationen oder von Idealen. Wenn wir einmal sachlich und „ehrlich“ genug geworden sind, um uns aus einem im Endeffekt tödlichen Wahrheitstrieb heraus nichts mehr vormachen zu wollen, wird die Geschichte der abendländischen Kultur beendet sein. Darum gehört die Kultur zu den notwendigen Illusionen. Sie läßt den Menschen auch in einer Zeit weiterleben, in der sich die Wirklichkeit immer eindeutiger in ein riesiges Arbeitshaus verwandelt, das ihm keine ästhetischen Eskapaden mehr gestatten kann.

Auch das gehört zur Wahrheit der Existenz, daß alles, was der Mensch an Dauerhaftem zu schaffen vermeint, einmal zugrundegeht. Aber wer diesen Gedanken täglich mit zermalmendem Gewicht verspürte, würde nicht mehr leben können. Daran hat wohl Hermann Broch gedacht, als er jede echte Kultur als den Versuch einer „symbolischen Todesüberwindung“ bezeichnet hat.

So ist es doch wieder die Illusion der Kultur, die den Menschen vor der geistigen Verzweiflung retten und tröstlich an den Traum-Charakter seines und des gesamten Daseins erinnern kann. Der greise Gerhart Hauptmann starb in dem von russischen Truppen besetzten Agnetendorf im Riesengebirge mit der Frage „Bin ich noch in meinem Haus?“. Dem Europäer, der um die Weiterdauer einer Kultur bangt, deren Fundamente beben, aber noch nicht völlig erschüttert sind, mag eine ähnliche Frage auf den Lippen zittern.

Der obenstehende Aufsatz, dem ein Vortrag bei den Alpbacher Hochschulwochen 1961 zugrundeliegt, erweist aufs neue jenen kulturkritischen Elan, dem schon Eugen Gürsters (unter dem Pseudonym Hermann Steinhausen erschienene) Bücher „Die Zukunft der Freiheit“, „Die Rolle des Bösen in der Weltgeschichte“ sowie „Die Judenfrage und die Christenfrage“ ihre Entstehung verdanken. Dr. Gürster beendet in diesem Monat seine Tätigkeit als Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Wien und wird sich am Münchner Goethe-Institut neuen Aufgaben widmen. FORVM hofft, ihn auch künftighin zu seinen Mitarbeitern zählen zu können.

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