FORVM, No. 99
März
1962

Lebendige Reflexe der Linken

Eine Antwort an Rudolf Krämer-Badoni (FORVM IX/96)

Gerhard Zwerenz, Jahrgang 1925, hätte Anspruch darauf, als einer der zornigsten jungen Männer der deutschen Literatur bezeichnet zu werden — aber sein Anspruch, von Klischees verschont zu bleiben, ist womöglich noch größer und ist einer der Gründe, warum wir uns freuen, seinen nachfolgenden Beitrag zu veröffentlichen. Auch daß er die Kunst beherrscht, sich’s mit allen in Reichweite befindlichen Instanzen, Gruppen und Persönlichkeiten auf Anhieb zu verderben, sichert ihm unsere Sympathie (selbst dort, wo wir nicht durchaus seiner Meinung sind) ... Zwerenz kam 1957 aus der deutschen Sowjetzone, wo er wegen oppositioneller Arbeiten verfolgt wurde, in die Bundesrepublik, lebt seither in Köln und hat durch sein bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch „Ärgernisse — Von der Maas bis an die Memel“ erhebliches und berechtigtes Aufsehen erregt. Sein nächstes Buch erscheint im Frühjahr bei Paul List in München und führt den vielversprechenden Titel „Wider die deutschen Tabus“.

Rudolf Krämer-Badoni streitet wider die bundesdeutsche Linke, engt sie auf das literarische Feld ein — und konstatiert erstarrte Reflexe.

Aber er ging wohl von der Erwartung aus, daß ein Leichnam sich zu bewegen habe. Er studiert mithin das falsche Objekt. Das, was er als eingeborne literarische Linke ansah, möchte sich teils selbst so verstanden wissen, teils auch partizipiert es nur an den konventionellen Irrtümern der anderen. Da residiert z.B. in der Wochenschrift „Die Zeit“ (Hamburg) Rudolf Walter Leonhardt, nachgeborener Feuilletonist, heruntergekommen von der stilistischen und geistigen Höhe der Weimarer Jahre. Ein Feuilletonist, der nicht weiß, was er will, verquollen zum geistreichelnden Wirrkopf. Firmen wie Leonhardt liefern die falschen Wegmarken oder liefern sie doch an die bundesdeutschen Linkskompanien weiter; womit das allgemeine Verständnis der hiesigen Öffentlichkeit ebenso illusionär wird wie das Selbstverständnis der hiesigen Linken. Die Meinungsmacherei vergibt Kommandoposten, und Deutschland besetzt sie naturgemäß mit angesehenen Illusionisten.

Die Linke als Geschäft und Romantik

Krämer-Badoni wirft einer Linken, die entweder nicht links ist oder doch nur sehr vage, Antiquiertheit vor. Natürlich sind Andersch, Böll, Siegfried Lenz „Linke“, Natürlich? Wieso eigentlich? Ist Andersch ein Linker, weil er einmal aus Hitlers geschlagener Armee desertierte? Oder weil er vor langen Jahren einmal weit links organisiert war? Ist Böll ein Linker, weil er durchweg über kleine Leute schreibt oder doch ihre Belange zu vertreten scheint, ihren Blickwinkel liebt? Oder ist Böll ein Linker, weil ihn auch die Sowjetunion druckt und seine Bücher in fast einer Million Exemplaren verbreitet hat?

Mir scheint, dann wäre eher Pasternak ein Linker, weil ihn die Sowjetunion nicht druckt, mir scheint, dann wäre eher jeder Autor, der in kommunistischen Ländern Schwierigkeiten hat, ein Linker; denn Schwierigkeiten hat und bekommt, wer mehr Freiheit fordert.

Damit könnte man sich zufrieden geben, und einfältige Gemüter tun es auch. Ich gestehe aber, daß es mich mißtrauisch macht, wenn Böll im Osten offiziell so bereitwillig verbreitet und gelesen wird. Es macht mich auch mißtrauisch, wenn Pasternak im Westen zum Bestseller hochgeputscht wird. Eine Herrschaft und eine öffentliche Meinung, die einen Autor und sein Werk gar zu enthusiastisch feiern oder ihm jedenfalls eindeutige Bereitwilligkeit bezeugen, müßten schier in die heilige Dreieinigkeit selbst integriert sein, käme es ihnen nur auf die Moral und nicht zuvörderst auf Geschäft und Propaganda an.

Böll ist im Westen ein Geschäft und im Osten Propaganda, weshalb ihn beide drucken. Pasternak wäre im Osten Gegenpropaganda gewesen, weshalb man ihn isolierte. Im Westen war er dasselbe und noch dazu ein Geschäft. Weshalb man ihn druckte.

Natürlich entsprechen beide Autoren nicht etwa diesen soziologischen und kommerziellen Klischees, sie sind tiefer und gehen tiefer; da aber die kommerzielle und propagandistische Welt nur diese beiden Aspekte gelten läßt, reduzieren sie sich in erschreckendem Maße darauf.

Eine manipulierbare Linke ist keine Linke. In Relation zu Bonn mag Böll so links stehen, wie Pasternak zu Moskau links stand. Beider Position ist aber nur eine Negation mit romantischem Akzent. Pasternak träumte ein vergangenes Rußland, Böll träumt ein nie vorhanden gewesenes Christentum. Sie geben Besinnung als Rückbesinnung und enden bei feierabendlicher Besinnlichkeit. Am Ende kann Moskau seinen Pasternak ebenso dem eigenen Lande freigeben, wie Bonn dem eigenen Lande Böll offeriert. Das Ärgernis ist manipulierbar. Da Stalin lange genug tot ist, mag man ihn ruhig einen finstren Gesellen heißen — und warum sollte unter so vielen Bischöfen nicht auch mal einer dumm sein? Also drucken wir Pasternak endlich auch in Moskau — Böll gaben wir ebenso endlich den Kölner Preis — mit dem bischöflichen Segen dazu.

Aber vielleicht steht Pasternak zu Moskau ebensowenig links wie Böll zu Bonn? Vielleicht stehen sie rechts? Schließlich war Pasternak manchmal eindeutig antibolschewistisch. Und Böll befeindet die Moderne, die Technik und Zivilisation derart, daß, folgte man ihm in seinen Extremen, gerade die Armen und die Massen die Leidtragenden wären.

Hier wird die Art der Linken offenbar rückschrittlich und romantisch-restaurativ. Gibt es das aber: eine romantisch-restaurative Linke? Nein, die Linke, die sich Krämer-Badoni nach seinem Rezept zusammenstellt und dann zusammenhaut, zeigt mir zwar die am Boden liegenden Opfer, aber auch den Irrtum des Siegers. Denn jene Linke, Herr Krämer-Badoni, die Sie sich da — wenn auch in unbeabsichtigter Gemeinsamkeit — mit Herrn Rudolf Walter Leonhardt zusammengezimmert haben, ist keine Linke, sondern etwas, das sich dafür hält oder auch dafür gehalten wird.

Um die Paradoxie der Irrtümer weiter zu verfolgen, sei hinzugefügt, daß Krämer-Badoni einen Rudolf Walter Leonhardt für einen Linken hält, während Leonhardt Herrn Krämer-Badoni zu den Rechten rechnet. Woraufhin sich Krämer-Badoni in der „Zeit“ beschwerte: er sei für die demokratische Massengesellschaft und mithin keinesfalls rechts, sondern viel mehr links als alle andern.

Womit wir uns also dem Linken Krämer-Badoni zuwenden müssen.

Die Linke als Elite, welche nörgelt

In seiner Zuschrift an das irritierte und irritierende Feuilleton der Hamburger „Zeit“ verwahrte sich Krämer-Badoni nachdrücklich gegen eine Rechts-Identifikation. Krämer-Badoni möchte kein Rechter sein, wiewohl er hauptsächlich nach links hin angreift. Nun will in Deutschland heute sowieso kaum einer als Rechter gelten, weil dann der Vorwurf des Nazismus nicht fern ist. Aber lassen wir diese banale und unkorrekte Gleichsetzung einmal beiseite. Krämer-Badoni will auch ohne sie kein Rechter sein, er fühlt sich auch nicht als nicht-nazistischer, ergo demokratischer Rechter. Seine Gründe: Wir leben in einer neuen Zeit, in der Bundesrepublik haben sich radikal neue Verhältnisse gebildet, wir haben nämlich „einen wachsend sich nivellierenden Lebensstandard“, also eine sich mehr und mehr demokratisierende Massengesellschaft, zu der sich Krämer-Badoni fast leidenschaftlich bekennt, denn: „... bloß kein Elitengetue!“

Kein Elitengetue? Gegen wen ist das gesagt? Gegen das „linke“ Geschwätz, das linke Elitengetue.

In der Tat. Das gibt’s hierzulande mit fleckiger Penetranz. Das muß sich einer anschauen. Die Luft muß einer mal atmen, auf literarischen Mustermessen und Kollektionsschauen, wenn die Branche ihre neuesten Dichtungen feilbietet. Die Filialleiter des Konsums und die Propheten der reinen Sprache treffen zum Fest der unbefleckten Empfängnis aufeinander.

Aha, wird man hier ausrufen, das geht gegen dieGruppe 47, von manchen auch Gruppe 4711 genannt.

Mitnichten geht es gegen die Gruppe an sich. Sie besteht aus zu vielen Individuen, als daß man abstrakt dagegen sein könnte. Es gibt da die zum literarischen Bonzentum aufgerückten Reich-Ranickis neben Denkern wie Walter Höllerer und Walter Jens, es gibt Schwätzer wie Fritz J. Raddatz, es gibt den aus erklärlichen Gründen zur geistigen und auch sonstigen Sozialdemokratie bereiten Hans Werner Richter, es gibt die Enzensberger und Walser, denen es gut geht und die noch nicht wissen, wogegen sie sein sollen, weshalb sie erst einmal provisorisch gegen alles sind, den DDR-Kommunismus ausgenommen, der sich dafür erkenntlich zeigt und die Enzensberger und Walser mit einem jeweiligen Epitheton ornans bedenkt (vgl. das Schriftstellerlexikon vom Volksverlag Weimar). Es gibt Gruppenmitglieder wie Böll, der die Treffen seit langem meidet und dieserhalb ein Murren erntet („Wir haben ihn gemacht, jetzt will er nicht mehr ...“, räsonierte ein Gruppenideologe). Es gibt die vielen unbekannten und namenlosen oder fast namenlosen Autoren, die an den Zusammenkünften teilnehmen, um sich der Kritik zu stellen oder um alte Freunde wiederzusehen und einmal der Einsamkeit zu entrinnen, oder auch in der so verständlichen wie legitimen Hoffnung, mit dem letzten Opus endlich etwas Außerordentliches geleistet zu haben und nun bekannt zu werden und einem großen, berühmten Verleger aufzufallen.

Verwerflich? Nein. Gar nicht. Gruppen und Gruppenbildungen sind immer berechtigt. Bedauerlich nur, daß es bei einer Gruppe blieb. Warum bildeten sich keine anderen Gruppierungen? Diese eine Formation schafft innen und außen Mißtrauen, innen infolge der Vielzahl von Interessen und weil sich manch einer beherrschende Positionen baut. Es gibt Cliquenkämpfe, Eifersüchteleien, Geschäftsrücksichten, Bruder- und andre Küsse und also auch das Gegenteil davon. Außerhalb ist’s auch nicht ganz erfreulich; man kennt Stellen in Rundfunk und Presse, die gelten weithin als Pfründe der 47er, und da werden schöne Geschichten erzählt drüber.

Eine Literatur, die zum einen in bloße Figurationen flüchtet und zum andern alles negiert, was geschieht, aber auch keinen Schatten geistiger Konstruktion vorzuweisen hat, wird mit Sicherheit lächerlich.

So seltsam es klingt: gegenüber der bundesdeutschen linken Literatur steht Krämer-Badoni links, wenigstens was die innenpolitischen westdeutschen Verhältnisse angeht, insofern er nämlich bereit ist, sie gegen kommunistischen Druck zu verteidigen. Die Gretchenfrage an seine literarischen und sonstigen Gegner, die hiesige sogenannte Linke also, wäre:

Wie wollt ihr verhindern, daß Ulbricht eines Tages nach Westdeutschland vordringt? Ihr seid gegen die H-Bombe. Gut. Ihr seid gegen Strauß. Gut. Ihr seid am Ende und mit gutem Recht gegen die verfluchte und verdammte Militärmaschine überhaupt. Auch gut. Aber wie wollen wir es nun halten — rebus sic stantibus? Ihr seid gegen Nazigenerale und Nazisoldaten, ihr seid gegen die Rechten. Gut. Weshalb aber überließt und überlaßt ihr diesen Kräften mit Ausschließlichkeit die Aufgaben einer möglicherweise notwendigen Verteidigung? Seid ihr als Linke bereit, die Freiheit zu verteidigen, im Notfall nur, aber wenn möglich, bitte, ehe es zu spät ist?

Die Linke ist verpflichtet, nach Antworten zu suchen. Oder die Rechte nagelt sie folgerichtig ans Kreuz der Destruktion. Was nämlich an geistiger Links-Konstruktion in Deutschland auftaucht, ist Importware: Leszek Kolakowski und Manès Sperber etwa, ein Pole und ein in Frankreich lebender Österreicher ; und selbst diese beiden wurden von der bundesdeutschen Linken kaum wahrgenommen. Denn man ist hier der Sprache und der Form verschworen, und ansonst ist man halt dagegen und nonkonformistisch. Man hat sich nie angestrengt, dieses Land wirklich zu reformieren. Man erhob aber den Anspruch auf derlei Titel. Da das Volk das nicht akzeptierte, wurde man böse. Eine Art Deutschenhaß stellte sich ein. In der „Zeit“ fragte man Weihnachten 1961 wieder einmal um: die zwei den ausgewählten Klasse-Intellektuellen gestellten Fragen lauteten:

  1. Was mögen die Deutschen?
  2. Was entzückt mich persönlich?

Da respondierten die Guten genau nach Schema. Auf die erste Frage mit lauter Miserabilien, denn „die Deutschen“ lieben natürlich alle miserablen Dinge, als da sind Marschmusik und viel Geld und so weiter.

Auf Frage 2 aber antworteten die Befragten exakt, geschmeichelt, persönlich; da liebt man „schöne und intelligente Frauen“, „Mozart“ und sogar einfach und schlicht den „Regen“ — denn, nicht wahr, „die Deutschen“, die sind so schlecht wie man selber gut ist, man ist nämlich gar kein Deutscher, jedenfalls gehört „man“ nicht zu „den Deutschen“, sondern ist ganz „persönlich“, ganz individuell ...

„Bloß kein Elitengetue!“ (Krämer-Badoni) ... Diese Zweipunkte-Umfrage in der „Zeit“, das ist haargenau Elitengetue, und es ist ekliger als der normierte Geschmack der Massen, weil normiertes Elitengetue! (Merke: Aus dem Festzug ausgebrochene Pfingstochsen sind immer noch Ochsen.)

Die alte und die neue Linke

Gegenüber dem „linken“ Elitengetue ist Krämer-Badoni zweifellos demokratisch. Er trifft bei der vorhandenen Linken ins Schwarze. Bei der vorhandenen? Sagen wir’s genauer: bei den von der Meinungsmaschine zur Linken gestempelten und durchgesetzten Autoren.

Die wirkliche Linke indes bleibt davon unbetroffen, bildet sich aber dennoch, wenn auch zumeist verborgen und verschwiegen. Das große Buch des Jahres 1961 z.B. ist kaum bekannt. Der Leser nahm es nicht wahr, die Kritik vertrat es durchaus nicht mit der gebotenen Entschiedenheit.

Ich meine die Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ von Manès Sperber. Diesem Buch gegenüber sind die hochgelobten Schlager reine Stammeleien. Reich-Ranicki beschwört seine Leser, mit Anna Seghers (auch nach ihrer Entscheidung für die Mauer) doch glimpflich umzugehen, schließlich habe sie „Das siebte Kreuz“ geschrieben. Dieser Mann sollte seine Nase in Sperbers Buch stecken und erkennen, daß das Buch der Seghers wenn nicht subjektiv, so doch objektiv verlogen ist. Statt dessen kalauert er seine aus der Vortauwetterzeit stammenden Sprüche weiter in die Ohren der zwangsläufig schlecht informierten Bundesdeutschen, die sich geradezu begierig von ihm desorientieren lassen.

Wann endlich wird man die neue Sachlage zur Kenntnis nehmen? Denn sie ist bereits gegeben:

Ein als linksstehend geltender Verlag wie Rowohlt publiziert aus dem Ausland bezogene Pornographien, gegen die gar nichts, für die alles spräche, wäre „links“ nichts weiter als ein Plädoyer für Promiskuität —

Ein als linksstehend geltender Autor wie Alfred Andersch schreibt nur noch Sentimentalitäten —

Ein als linksstehend geltender Autor wie Wolfgang Koeppen schreibt nur noch Reiseführer —

Ein ... aber lassen wir das.

Die Dinge müssen neu durchdacht werden. Einem Manès Sperber gegenüber hat Krämer-Badoni unrecht. Auch einem Christian Geißler gegenüber, dessen „Anfrage“ bestehen und gültig bleibt. Auch einem Heinrich Schirmbeck gegenüber, der den Roman „Ärgert dich dein rechtes Auge ...“ geschrieben hat.

Diese Aufstellung ließe sich noch fortführen und sie stieße gewiß auf Erstaunen. Schirmbeck? Man kennt ihn nicht, wenn aber doch, glaubt man zu wissen, daß er eher ein konservativer Autor ist. Geißler — den kennt man eher, aber ist dessen Buch denn „Literatur“? Und Sperber? Wer war das doch gleich?

Bleibt festzustellen: Die literarische Linke gibt es nicht im Konsumverein an der Ecke. Was Krämer-Badoni an dieser Stelle antraf, war eine Kopie, die dem Original nur in der bundesdeutschen Nacht gleicht.

Unsre Linke, das sind neben Sperber und Geißler nur noch wenige, ist nur weniges, so das eben genannte Buch von Schirmbeck, auch noch Koeppens „Tod in Rom“, „Sansibar oder der letzte Grund“ und die Freiheitskirschen des Alfred Andersch, ein paar Erzählungen von Böll, ein paar Gedanken bei Jens, einige Rudimente bei Adorno, einige frühe Frechheiten bei Bense — und schließlich da und dort noch einiges, ja, einige Stücke des „Grasstrommlers“ ...

Der bundesdeutsche Nachkrieg hat nämlich auch die überlebenden Linken in seine Kompromisse gebeugt, und man wird sehen, ob es jenem eben erst angekommenen Ernst Bloch gelingt, sie zu umgehen.

Falls ja, weil er alt und groß und ein kräftiger Mythos ist, dann hätten wir wenigstens einen bei uns, der vergleichbar ist unseren Toten, den Heinrich und Thomas Mann, den Brecht und Camus oder, von den Lebenden wieder zu reden, Jean-Paul Sartre und sogar Henry Miller, kurz den Ethikern, die, wohlverstanden, die Freiheit so tief durchdachten, daß sie sich ihr als Individuen verschwisterten. Das aber und nichts Geringeres ist zu fordern. Die Linke ist tot? Die Linke ist antiquiert? Sie stirbt?

Die Linke ist kein Programm, sondern eine Haltung, kein Manifest, sondern ein Charakter. Sie ist Gerechtigkeit für Rentner und Geschichte, Neger und Waisen, Amputierte und Irrende, Gefangene und Befangene, Ideen und Religionen. Sie ist immer und auch heute und jetzt noch Kampf gegen Willkür und Gewalt und also gegen Naziverbrechen in Deutschland, Rußland und anderswo, gegen Stalinverbrechen in Deutschland, Rußland und anderswo, gegen Salazarverbrechen in Portugal und Angola, die Linke ist Protest und Kampf gegen den französischen Kolonialismus in Algerien, den russischen in Deutschland, den zähen und mörderischen Wirtschaftskolonialismus einer belgischen Weltfirma in Katanga. Sie ist Protest gegen die Ermordung Lumumbas, gegen die Dummheit der Kolonialisten und Nationalisten, kurz gegen alle, die den Kommunismus noch nicht begriffen haben als Quittung für vergangene und gegenwärtige Untaten.

Krämer-Badoni verrät jene demokratische Disziplin, die er gegen unsre halbherzige Linke ins Feld führt, wenn er sich der Bundesregierung gegenüber konformistisch verhält auch in jenen Fällen, da diese sich eindeutig restaurativ gibt, also in der Schulpolitik, in der ökonomischen, politischen, geistigen, moralischen und waffenmäßigen Unterstützung belgischer, portugiesischer, spanischer und französischer Kolonialisten, kurz jenen gegenüber, die im Westen das gleiche Gesicht, die gleiche Gewaltfratze zeigen wie die wohlbekannten östlichen Politruks.

Ich persönlich hätte von Ulbrichts KZ-Wächtern das Verderben zu erwarten. Aber ich verweigere trotzdem die antikommunistische Geste, wenn sie mich in eine Front bringt mit denen, die seit Jahrhunderten Menschen als Haustiere halten, Dörfer niederbrennen, wenn jemand Freiheit verlangt, Völker verfolgen, so sie sich selbst regieren wollen. Ich habe kein Ohr für jene seltsamen Freiheitswächter, die sich erst um die Selbstbestimmung der Papua sorgen, wenn diese nicht mehr durch die Holländer, sondern durch die Indonesier gefährdet oder verhindert wird.

Wie denn? Unsere Politiker sollten gescheiter sein als unsere Literaten? Das geschähe in unserem Lande weiß Gott das erste Mal. Das ist so voraussetzungslos, daß es höchstens als Glaubensbekenntnis genommen werden kann.

In Deutschland gibt es nur eine Tradition unter Politikern: Die guten scheitern oder werden umgebracht, und die schlechten setzen sich durch und regieren noch zu einer Zeit, da kein verständiger Mensch sich ihnen mehr anvertrauen wollte, steuerten sie statt des Staatswagens ein Kraftfahrzeug.

Wie sagte Castro von den südamerikanischen Reichen? „Mit denen sind keine Reformen zu machen. Die sind blind. Die laufen selbst ins Messer ...“

Na, denn man zu. Mit Gott, an den nur ein paar alte Tanten noch aufrichtig glauben, und einem Vaterland, das es längst nicht mehr gibt ...

Das Verzieren von Wohnungen

Nein, eine Bonner Regierung, die rechts von Kennedy steht, ist keine Legitimation für einen Mann der Feder. Es wäre höchste Zeit, gerade in Deutschland, radikal antikolonialistisch zu sein. Es wäre höchste Zeit, den unterdrückten Völkern der Welt die Solidarität der freien Deutschen zu bekunden. So dies nicht geschieht, sind diese Deutschen nicht so frei, wie sie sich ausgeben, oder nicht auf der Höhe jener Moral, mit der sie die Selbstbestimmung für die Mitteldeutschen fordern. Ergo ist ihre Moral eine geteilte Moral und also keine Moral.

Wer aber soll solche Feststellungen treffen und sie seinem Volk ins Gesicht sagen? Der CDU-Mann oder der SPD-Politiker, der daraufhin seine nächste Wahlniederlage heraufziehen sieht? Wer soll und muß diese unangenehmen Wahrheiten aussprechen, wer, wenn nicht der freischwebende, vielgeschmähte Intelligenzler, der Mann einer Linken, die keine Rücksichten zu nehmen hat mit Ausnahme der einen: auf die fortwährend gemeuchelte und dennoch ewig lebende Wahrheit (soweit sie uns sichtbar wird).

Also doch Elitengetue? Also doch Intellektuelle, die meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben, die Dinge besser zu wissen?

Als ob es keinen gravierenden Unterschied gäbe zwischen Elitenspielerei und verantwortlicher Haltung. Das eben ist der schwere Vorwurf an die Repräsentanten der bundesdeutschen literarischen und geistigen Linken (soweit noch vorhanden) — daß sie in der Mehrzahl nichts weiter hervorgebracht haben als honorierte Beschaulichkeit und noch besser honorierte Nörgelei. Insofern nämlich sind sie von den Verhältnissen korrumpiert, in einen demoralisierenden Wohlstand integriert, der ihre Widerstandsfähigkeit mehr lähmt, als es Hitlers Gewaltpraxis vermocht hatte.

Bei Fichte findet sich der Satz, wonach niemand seine Wohnung verzieren dürfe, solange noch ein Mensch hungre. Muß unsre Linke einmal vor dem Weltgericht antreten, hat sie kaum etwas anderes vorzuweisen als verzierte Wohnungen — und dies ist ihr vorzuwerfen. Freilich hätte auch unsre Rechte, hätten unsre Mitte und unsre Bürger nichts weiter für sich vorzubringen als einen Wohlstand, der zugleich gegen sie zeugt, weil er verweigerte Solidarität gegenüber den hungernden und verhungernden Millionen beweist — aber von einer Rechten und von einem Bürgertum ist nichts anderes zu erwarten.

So sind denn gerade hier die alten Wahrheiten wieder vorzubringen: Macht und Besitz korrumpieren nicht mehr als Armut und Not, der Arme aber ist von der Verantwortung eher freizusprechen als der Besitzende; der Arme verfügt nicht über die Mittel zur geistigen Bildung, er ist aus Not und Unbildung unfrei, wenn er sich erhebt und seinen Herrn umbringt, so ist das wohl Mord, aber zugleich ein viel geringeres Verbrechen als jener Mord, den der Herr, der Besitzer und Gebildete, anstiftet oder vollbringt, weil er seine kolonialen oder sonstigen Vorrechte behalten will, weil er weiter begütert, begünstigt sein und an der (weißen) Gottheit partizipieren will.

Begrüßen wir also die aufkommende demokratische Massengesellschaft, aber wachen wir eifersüchtig darüber, daß sie sich nicht etwa auf Kosten anderer Schichten oder Völker etabliere! Es war und ist die Aufgabe der Linken, das jeweilig Vorhandene am Absoluten zu messen, das Mögliche auch da durchzusetzen, wo die herrschende Macht aus eigenem, wohlverstandenem Interesse nur Unmögliches sieht. Die neue Linke, die sich langsam findet, hat von der alten Linken den internationalen Gesichtspunkt übernommen. Man mag ihr mit lässig-unterkühlter oder auch heißer Feindschaft begegnen, ihre Wahrheiten sind eindeutig: der Kommunismus ist schrecklich, aber nicht schrecklicher als jede andere Gewalt, wenn sie im Zenith steht; also nicht schrecklicher als das Christentum oder der Islam, als sie in ihrem Mittelalter lebten und zur Alleinherrschaft strebten.

Also ist der Kommunismus mit allen verfügbaren Kräften zu kultivieren, also ist der totalitäre Herrschaftsanspruch des Kommunismus ebenso abzubauen wie derjenige gewisser nichtkommunistischer Mächte und Kräfte.

Das ist nicht einfach, und das stößt auf erbitterte Feindschaft bei Kommunisten und Nichtkommunisten, kurz, bei allen Mächtigen und Gewalthabern. Eben! Die Linke ist immer im Kampf, immer befeindet. Ihre Wahrheit wird immer mit Mord vergolten und ein Jahrhundert später zum Allgemeingut. Karl Marx lebte sein Leben in erbitterter Einsamkeit und Feindschaft. Heute beruft sich selbst das deutsche Industrie-Institut in der Diskussion mit Moskauer Professoren auf Marx’sche Erkenntnisse, und amerikanische Senatoren legen Wert auf die Feststellung, das heutige Amerika sei ein Wohlfahrtsstaat und nicht etwa jener von Marx diagnostizierte, zu seiner Zeit vorhanden gewesene Raubkapitalismus.

Während Europa in müder Unruhe auf den Kommunismus blickt und sich einrichtet, als Gerechter unterzugehen, hat die neue Linke nichts Geringeres zu tun, als nachzuweisen, daß ein untergehendes Europa nur an seiner Ungerechtigkeit unterginge, und sie muß unnachsichtig Pläne entwerfen, die den Kommunismus für das Individuum erträglich machen und das Individuum der Gemeinschaft freundlich statt feindlich werden lassen.

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