Grundrisse, Nummer 51
September
2014
Lothar Peter:

Marx an die Uni

Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure

Köln: PapyRossa Verlag, 2014, 224 Seiten, Euro 14,90

Mit Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure liegt die erste eigenständige Monographie zu diesem Themenkomplex vor. Der Band umfasst neben dem Fokus auf die Entwicklung der Marburger Schule zahlreiche, meist kurz gefasste biographische Darstellungen ihrer Akteure sowie kommentierte Vorstellungen wichtiger Veröffentlichungen und eignet sich – nicht zuletzt wegen seines besonnenen und gut zugänglichen Schreibstils – hervorragend für einen Einstieg und Überblick zum Thema. Der Autor selbst verdankt der Schule „wesentliche intellektuelle und politische Impulse und Erfahrungen“ (7) und macht damit seine persönliche Verbundenheit von vornherein transparent. Die Monographie führt ohne Romantisierungen und Überhöhungen in jene Zeit zurück, in der die bundesrepublikanische Politikwissenschaft von einer inneren Spaltung gekennzeichnet war, die heute weitestgehend keine Rolle mehr spielt und für jüngere Generationen längst „in Vergessenheit geraten“ (ebd.) ist. Das Buch ist Resultat einer „doppelte[n] Selbstreflexion“ des Autors: zum einen führt er die kritische Auseinandersetzung mit spezifischen Thematiken und Begriffen sowie der eigenen „Position im akademischen Feld“, zum anderen leistet er Erinnerungsarbeit (8). Es handelt sich um einen wichtigen Beitrag zur Politischen Ideen- und Theoriegeschichte der Politikwissenschaft.

Die Marburger Schule nahm ihren Anfang „1951 mit der Berufung von Wolfgang Abendroth als ordentlichem Professor auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik“ und ihre Zeit „[endete] in den Jahren nach 2000“ (12). Ihre Bezeichnung als Schule erachtet der Autor als gerechtfertigt, da sie alle „konstitutiven Merkmale“ der wissenschaftlichen Schuldbildung aufweise (12), die Peter wie folgt darlegt: Ihr Ursprung geht zurück auf eine „Einzelpersönlichkeit[…], die ein neues wissenschaftliches Paradigma“ erschuf (9) und „eine neue Denkweise“ (9f.) verkörperte. Ferner haben sich „weitere Akteure“ mit eben diesen „identifiziert[…]“ und bildeten schließlich eine „epistemische Gemeinschaft“, die von „institutioneller Stabilität“ gekennzeichnet war (10). Ebenso liegt eine „räumliche[…] Bindung“ an die Marburger Universität vor, begleitet von „dauerhaften Aktivitäten“, wie der „Herausgabe von Schriftenreihen“ (ebd.). Auch haben die Beteiligten ihre politische und wissenschaftliche Orientierung nach außen „aktiv“ vertreten (ebd.). Für Peter handelte sich auch weniger um eine „gesellschaftswissenschaftliche Schule“ sondern um eine „sozialwissenschaftliche“ (17). Diese Bezeichnung trage „eine[m] eher pragmatischen Wissenschaftsverständnis Rechnung, das sich der bis heute feststellbaren Grenzen des Leistungsvermögens der auch der Marburger Schule tragenden Disziplinen bewusst ist“ (18). Die Marburger Schule war grundsätzlich „in vielfacher Hinsicht von männlichen Denkformen, Handlungsmustern und Verhaltenscodes dominiert“ (104). Ursula Schmiederer war die einzig etablierte Frau „im politikwissenschaftlichen oder soziologischem Institut“ (104). Eines der wohl charakteristischen Eigenschaften der Schule war die Einbeziehung „auch sehr junge[r] AutorInnen in die Forschungsarbeit und Textpublikation“ (128, Fußnote 247).

Laut Peter sei bislang noch nicht geklärt, ob die Bezeichnung Marburger Schule derjenigen einer Abendroth Schule vorzuziehen sei (12). Letztere würde zumindest die Verwechslung mit der gleichnamigen Schule der Philosophie verhindern (13). Beide Bezeichnungen sind geläufig, Peter gibt aber der Marburger Schule den „Vorzug“ (ebd.), da Abendroth nicht die alleinig prägende Person war, sondern auch der Soziologe Werner Hofmann – wenngleich „nur wenige Jahre“ lehrend – von Bedeutung war (ebd.). Ferner ist auch Heinz Maus zu erwähnen, der 1960 in Marburg eine Professur übernahm (ebd.). Nicht von ungefähr wurde daher auch von einem „Marburger Dreigestirn“ gesprochen (ebd.). Es sei auch deshalb gerechtfertigt, von einer Schule zu sprechen, da weder die Emeritierung noch der Tod von Abendroth, Maus und Hofmann das Ende der durch sie vorangetriebenen „wissenschaftlich-politische[n] Orientierung“ (13f.) bedeutete. Diese währte noch mehr als drei weitere Dekaden fort (14). So vorhergehenden Bestimmungen etwas einschränkend ist Peter der Auffassung, dass insgesamt weniger eine „originäre paradigmatische Neuschöpfung“ sondern vielmehr eine „Rekonstruktion, Aktualisierung und Anwendung reiner bereits vorhandenen Geschichts- und Gesellschaftstheorie“ – und zwar der „marxistische[n] Theorie“ – stattfand (14). Ganz praktisch habe die „gesellschaftskritische Botschaft des linken Professoren [Abendroth] […] zu einer weltanschaulichen Polarisierung innerhalb der Marburger Studentenschaft“ beigetragen (16).

Peter unterscheidet in seiner Darstellung der Marburger Schule „vor allem drei Phasen“ (19): 1. Die Phase der „Entstehung und Konsolidierung“, die sich von den frühen 1950er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre erstreckt. 2. die „vom Marburger Dreigestirn dominierte Phase zwischen 1966 bis 1972“. Und 3. die „Fortsetzung der marxistischen Orientierung durch die Nach-Abendroth-Generation“ ab Mitte der 1970er Jahre bis hinein in die 2000er Jahre (ebd.). Für das Verständnis aller Phasen sei eine „gesellschaftlich-politische Kontextualisierung“ erforderlich, zumal die Akteure mit ihrer Arbeit die „Verhältnisse ihrer Zeit“ auch „verändern wollten“ (ebd.). Diese Einordnung leistet Peter in kurz gehaltenen, nur grob umreißenden Textpassagen zu Beginn jedes Kapitels. Peter hält es für ein Defizit, dass ein Großteil der bislang erschienenen Darstellungen zur Marburger Schule „mit dem Ausscheiden Abendroths aus dem Universitätsleben [enden]“ (20), daher legt er einen besonderen Fokus auf die von ihm skizzierte dritte Phase. Ein weiterer entscheidender Unterschied zur übrigen Literatur ist sein Bezug auch auf die Soziologie (ebd.).

Es sei „schwer“ gewesen, „sich dem Bann seiner persönlichen Präsenz zu entziehen“ (24) urteilt Peter über die Person und den Lehrenden Abendroth. „Ein wesentlicher Anteil am Leben Abendroths als Wissenschaftler und politischer Persönlichkeit kam seiner Frau Lisa zu“ (25). Sie stellte „ihre eigenen Bedürfnisse nach wissenschaftlich-politischer Tätigkeit hinter der ihres Mannes zurück[…]“ und ohne ihre „aufopfernde“ Unterstützung hätte Abendroth „nicht die Leistungen […] erbringen können, die ihn auszeichneten“ (ebd.). Dies bedeutete für Lisa Abendroth eine „existentielles Dilemma“, dessen Auflösung ihr nicht gelang. Sie wäre gern als Historikerin tätig gewesen, hatte sie doch noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bei dem Historiker Wilhelm Mommsen promoviert (25f.). Auf Grund dieser Konstellation verschwand sie nicht „hinter dem dichten Vorhang traditioneller Rollenzuweisungen“, wie es beispielsweise den Ehefrauen von Hofmann und Maus erging (25). Lisa Abendroth beteiligte sich redaktionell und konzeptionell an zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen ihres Ehemanns (26).

Für Abendroth war noch immer die Arbeiterbewegung „der zentrale politische Akteur“, dem er zutraute, eine „sozialstaatliche[…] und wirtschaftsdemokratische[…] Entwicklung“ der Bundesrepublik zu entzünden und letztlich eine von Abendroth als notwendig beschworene „sozialistische[…] Transformation“ einzuleiten (28). Obwohl er nach Einschätzung von Peter „über alle Voraussetzungen“ für die Ausarbeitung einer „umfassenden Theorie des Politischen oder der Politikwissenschaft“ in Form eines „profunden Wissens, einer außergewöhnlichen analytischen Fähigkeit und argumentativer Stringenz“ verfügte, habe er dies nicht verwirklicht (30). Abendroth gab „der praktisch-argumentativen Relevanz seiner Arbeit“ gegenüber der „Grundlagenforschung“ den Vorzug (ebd.). Die von ihm gemeinsam mit Kurt Lenk lediglich herausgegebene Einführung in die politische Wissenschaft wurde zu einem „Standardwerk“, die daran beteiligten AutorInnen stammen „aus dem Kreis der Mitarbeiter, Doktorandinnen und Doktoranden“ (ebd.).

Abendroth verfolgte ein „öffentliches Engagement als marxistischer Intellektueller“ (31). Ab 1968 wurde er „zu einem der intellektuellen Protagonisten der Renaissance des Marxismus und der Studentenbewegung“ (32). Bekanntermaßen habilitierte sich Jürgen Habermas bei Abendroth mit seiner Arbeit über den Strukturwandel der Öffentlichkeit, da ihm dies bei Adorno – wohl in Folge der ablehnenden Haltung von Horkheimer – verwehrt blieb (ebd.). Bis in die Mitte der 1960er Jahre habe sich „der Marxismus noch nicht als das autoritative und identitätsstiftende Paradigma im Marburger Institut für wissenschaftliche Politik“ etabliert (32). Ferner könne von einer „einheitliche[n] linke[n] Ausrichtung […] auf professoraler Ebene“ bis zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen werden, waren doch mit Erich Matthias und Ernst Otto Czempiel „Nichtmarxisten“ (33) als Professor tätig. Ebenso erwiesen sich die Mitarbeiter und Doktoranden als heterogen und vertraten in dieser Zeit ein breites politisches Spektrum: linksliberal, sozialdemokratisch, linkssozialistisch (33f.).

Viele „Schüler der ersten Generation“, die bei Abendroth ihre Doktorarbeiten verfassten „und/oder Assistenten wurden“, schlugen selbst akademische Karrieren ein (34). Seit 1964 erfolgte die Herausgabe der Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft, womit das vielleicht wichtigste Anzeichen der Herausbildung einer Schule sichtbar wurde (36). Außerdem bildete sich „im Schatten des regulären Institutsbetriebes“ langsam „eine informelle Gruppe von Soziologen und Politologen“, die sich einer „explizit marxistische[n] Richtung“ verschrieben (36f). Zu dieser gehörten unter anderem Karl Hermann Tjaden, Dieter Boris und der Verfasser des Buches selbst. Die bis heute bekanntesten Teilnehmer waren Frank Deppe und Georg Fülberth. Gemeinsames Kennzeichnen war auch, dass sie alle im Sozialistischen Deutschen Studentenbund eingebunden waren (37).

Ein „kräftiger Innovationsschub“ für den „Prozess der Herausbildung“ der Marburger Schule erfolgte 1966 „durch die Berufung von Werner Hofmann auf einen zweiten Lehrstuhl für Soziologie“ neben Heinz Maus (41). Es kam zu einer „spürbaren Verringerung der Ungleichgewichte zwischen den beiden Fächern [Politikwissenschaft und Soziologie]“ (ebd.). Maus war es in Einschätzung Peters bis dahin nicht gelungen, sich und das Fach „zu profilieren“ (ebd.). Peter schildert Hofmann als einen „rhetorisch versierten“ und „nahezu druckreif vortragenden“ (42) Wissenschaftler mit „autoritärem … Gestus“ (43), der sich „für kluge Ideen, interessante Informationen und begründete Einwände“ erwärmen konnte (ebd.). Maus fehlt es im Vergleich mit den anderen beiden zwar an Charisma, nichtsdestotrotz war er aber ebenso prägend wie diese (55).

Peter stellt ausführlich die jeweilige Marx-Rezeption und das Marxismusverständnis der drei prägenden Professoren vor (56-75). Abendroth bspw. verwehrte sich einer Einteilung von Marx in einen jungen und alten sowie einer sich gegenseitig ausschließenden Gegenüberstellungen von Philosophie und Ökonomie bei Marx (57). Abendroth benutzte die Marxsche Theorie um die seinerzeit „gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf ihre politische Veränderbarkeit hin zu untersuchen“ (58). Er habe dabei „der marxistischen Theorie keine qualitativ neuen Momente hinzugefügt“ (59). Hofmann, Maus und Abendroth war gemeinsam, dass die Marxsche Theorie als die noch immer „gültige Schlüsseltheorie für die Analyse des modernen Spätkapitalismus“ betrachteten (75). Differenzen ergaben sich in der „Deutung und Bewertung“ der Entwicklung der damaligen „sozialistischen Staaten“, insbesondere ihrer „politischen Deformationen“ (ebd.). Hielten Abendroth und Hofmann diese für durchaus „korrigierbar“, war Maus auf Grund seiner Prägung durch die Frankfurter Schule deutlich skeptischer, gar ablehnend (ebd.).

Es folgt auf rund 20 Seiten ein Vergleich der Frankfurter mit der Marburger Schule auch hinsichtlich ihres Verhaltens zueinander (76-97). Es gab lediglich „sporadische Kontakte“ (76), denn „zu unterschiedlich waren intellektuelle Kultur und Wissenschaftsverständnis“ (ebd.). Auch fällt im Vergleich „mit den Leistungen der Frankfurter Schule … der Ertrag theorie- und methodenbezogener sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung der Marburger Schule zweifellos bescheidener aus“ (93). Defizitär sind beide vor allem in Bezug auf die Frage der Geschlechterverhältnisse, auch „das Mensch-Natur-Verhältnis“ ist bei beiden „unterbelichtet“ (ebd.).

Ab Mitte der 1960er Jahre ist eine Zunahme der Anzahl linker und insbesondere marxistischer Mitarbeiter und Doktoranden im Bereich der Soziologie und Politikwissenschaft zu beobachten (101). Zwischen diesen beiden Bereichen gab es ohnehin eine „fließende“ Grenze und vielfache „Wechsel zwischen Tätigkeiten an einem der beiden Seminare“ (98). Relevante Personen, die vielfach selbst akademisch tätig wurden, sind u.a. Karl Hermann Tjaden, Margarete Tjaden-Steinhauer, Rüdiger Griepenhauer, Ursula Schmiederer Hans-Ulriche Deppe, Herbert Claas (101f.). Es bildeten sich deutliche Konturen einer „epistemischen Gemeinschaft“ heraus, gekennzeichnet von einer „Aneignung sozialistischer bzw. marxistischer Theorie“ und eines „die Grenzen des akademischen Feldes überschreitenden politischen Engagements“ (102). Mit dem Ende des SDS in den späten 1960er Jahren und dessen Auflösung 1970 erfolgte der Übergang vieler Mitglieder „zu dem DKP-nahen MSB Spartakus“, auch viele Mitarbeiter des Mittelbaus näherten sich – unterstützt von Hofmann und Abendroth – der Partei an (102f.). Aber nicht alle gingen diesen Weg, vielmehr mehrten sich die Diskussionen und Auseinandersetzungen auch in der Einschätzung der DDR (103f.). Für mehrere Jahre hatte die Marburger Schule ein Quasi-Monopol „auf die Fortbildung hunderter hessischer Lehrer im soziologischen Institut“ (104). Es fanden umfangreiche Kooperationen mit der DKP und dem zur Partei gehörenden Institut für Marxistische Studien und Forschungen (ISMF) statt (105f.). Berufsfelder für die SchülerInnen wurden u.a. auch die Gewerkschaften und Aktivitäten im „linken Flügel der SPD“ (106). Auch der Autor selbst war Mitglied der DKP und arbeitete insbesondere in seiner Zeit als Professor der Soziologie an der Bremer Universität eng mit dem ISMF zusammen (110f.).

1971 wurde Abendroth emeritiert, Frank Deppe, Peter Römer und Georg Fülberth wurden zu Professoren am im gleichen Jahr „neue eingerichteten […] Fachbereich 03 – Gesellschaftwissenschaften“, zu dem neben der Politikwissenschaft und Soziologie auch Erziehungswissenschaften und Philosophie gehörten (106f.). Von 1981 bis 1978 hatte Hans Heinz Holz die Professur für Philosophie inne, erwies sich aber hinsichtlich seines „praktisch-politisch Engagements“ und „seinem zur Abstraktion neigenden wissenschaftlichen Habitus“ aus Sicht der Marburger Schule als eine „Enttäuschung“ (107). Vor allem Frank Deppe war eng mit Wolfgang Abendroth und der Universität Marburg verbunden. Seine gesamte akademische Karriere fand dort statt, war er dorthin nach Erwerb seines „soziologischen Vordiploms“ aus Frankfurt gewechselt (112). Ebenso wie Abendroth vertritt er ein Selbstverständnis als „politischer Intellektueller“ und war und ist jenseits des Akademischen politisch aktiv (113). Dies setzt sich bis heute fort und auch publizistisch ist er bis in die heutige Zeit hinein produktiv. „Renommee“ erlangte Deppe vor allem als „marxistischer Gewerkschaftstheoretiker“ (116). Zentral war nach dem Abgang von Abendroth auch Georg Fülberth, dessen Fokus zu jener Zeit auf der Geschichte der Sozialdemokratie und der kommunistischen Parteien Deutschlands lag (119). Fülberth war der einzige „Hauptrepräsentant“ der Marburger Schule, der tatsächlich den Beitritt zur DKP vollzog (120). So wurde er für diese Partei auch „Stadtrat im Marburger Kommunalparlament“, ferner ist er bis heute journalistisch tätig (ebd.).

Peters Monographie ist gespickt mit kleineren biographischen Darstellungen, die auch von der Tragik und den gesellschaftlichen Umständen zeugen, in denen es offen marxistisch orientierten AkademikerInnen vielfach nicht einfach gemacht wurde. Ein Beispiel ist Jürgen Harrer, dem eine Professur verwehrt blieb, daraufhin Lektor beim – im Übrigen verdeckt von der DDR mitfinanzierten – Pahl-Rugenstein-Verlag wurde und schließlich 1990 den Papyrossa Verlag gründete. In beiden Verlagen erschienen bzw. erscheinen u.a. Arbeiten von Deppe und Fülberth (121). Exemplarisch stellt Peter die wissenschaftliche Arbeit der Marburger Schule auch an Reinhard Kühnl und seinen Forschungen zum Faschismus (125-129) und Dieter Boris und seinen Arbeiten über Lateinamerika dar (129-133). Vor allem ersterer verfasste dabei mehrere publizistische Bestseller (125).

Der Fachbereich pluralisierte sich, was durchaus zu Spannungen führte (133f.). Außerdem nahm der politische Druck auf die Marburger Schule zu. Die Entwicklung umfasste auch Forderungen, die vermeintliche kommunistische Kaderschmiede zu schließen (138-141), mehrfach äußerten auch andere Politikwissenschaftler wie Iring Fetscher (139f) öffentlich Kritik an den Marburgern. Peter selbst bescheinigt der Marburger Schule im Rückblick durchaus eine „thematische und methodische Selektivität“, ferne eine „gewisse Abschottung gegen bürgerliche Wissenschaft“ sowie „durchaus anfechtbare Einseitigkeiten in der Beurteilung bestimmter sozialer politischer Tatbestände“. Dies hätte allerdings besser wissenschaftlich und nicht politisch einer eingehenden Kritik unterzogen werden sollen (141). Anhand der „Kontroverse um ein Buch über Gewerkschaftsgeschichte“ (142), publiziert von Fülberth, Deppe u.a., zeichnet Peter nach, unter welchem gesellschaftspolitischen Druck die Marburger zeitweise standen, der sich gerade nicht im Austausch wissenschaftlicher Argumente niederschlug, sondern vornehmlich entlang politisch-ideologischer Positionierungen verlief.

Ebenfalls sehr aufschlussreich ist die von Peter geschilderte Spannung zwischen den Marburgern und der Zeitschrift Das Argument (153-161). Im Kern ging es um die Frage der Identität des Marxismus und wurde durch Wolfgang Fritz Haug in seinen Veröffentlichungen zum Pluralen Marxismus vorangetrieben. Dies war Ausdruck des „Kampfes um Hegemonie auf dem intellektuellen Feld des Marxismus“ (161). Die wissenschaftliche Produktivität der Marburger Schule war auch in den 1980er Jahren hoch (162). Reinhard Kühnl beispielsweise leistete einen Beitrag zum Historikerstreit der 1980er Jahre, der jedoch weitestgehend unkommentiert blieb (168-171). Bereits 1977 waren die Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft durch den Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft als interne Publikationsplattform abgelöst worden (171). An dem Mitte der 1980er Jahre durch Frank Deppe ins Leben gerufenen Marxistischen Arbeitskreis nahmen u.a. auch die späteren Professoren Klaus Dörre und Hans-Jürgen Bieling teil, ebenso Hans-Jürgen Urban und Witich Roßmann, die heute in den Gewerkschaften tätig sind. (172). Zumindest im Bereich der Politikwissenschaft fand in jener Zeit kein „fruchtbarer Austausch zwischen den Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsauffassungen“ statt (174), während es in der Soziologie hingegen durchaus entsprechende Kontakte gab, die auch freundschaftliche geprägt waren (174f.). Bis auf Fülberth reflektierten die Vertreter der Marburger Schule die Umbrüche von 1989/1990 nicht, zumindest nicht öffentlich wahrnehmbar (175). Auch in den 1990er Jahren und darüber hinaus folgten zahlreiche Publikationen. Fülberth widmete sich dem ganz eigenen Projekt der von ihm so benannten Kapitalistik, Deppe trat vor allem mit seinem mehrbändigen Werk zum Politischen Denken im 20. und 21. Jahrhundert hervor. Dieses kommentiert Peter insbesondere unter methodischen Gesichtspunkten kritisch (197-202). Im Gegensatz noch zu Abendroth, Maus und Hofmann gab es im Grunde keine Versuche der ihnen nachfolgenden Generation, auch auf dem Gebiet der „bürgerlichen scientific community“ (204) Präsenz zu zeigen. Eine nennenswerte Ausnahme bildet ein von Peter geschildertes Streitgespräch zwischen Deppe und Ulrich Beck (180-186).

Die Darstellung von Peter endet etwas unvermittelt und geht leider nicht auf der Emeritierung der Generation um Deppe und Fülberth ein. Von daher wird auch nicht mehr ein Blick darauf geworfen, was nach ihnen kam und wie es heute um die Politikwissenschaft an der Marburger Universität steht, wie und wo das Nachleben der Marburger Schule stattfindet. Lediglich auf die seit 2009 bestehende Juniorprofessur von John Kannankulam wird hingewiesen, dass diesem die Juniorprofessur von Hans Jürgen Bieling vorausging, bleibt unerwähnt. Der daraus ableitbare Umstand, dass die Professuren von Deppe und Fülberth offensichtlich nicht adäquat neubesetzt und fortgeführt worden sind, wird nicht ausgeführt.

Sicherlich hätte es den Rahmen der Arbeit gesprengt, dass Wirken der zahlreichen Schüler an anderen Universitätsstandorten nach zu verfolgen und danach zu schauen, ob es hier vielleicht zu ähnlichen Schulbildungen kam, wie es mit Blick auf die zweite Generation der Frankfurter Schule in einigen Fälle geschah. Dies bleibt also künftiger Forschungsarbeit überlassen. Ebenso ausstehend ist die systematische Aufarbeitung von (ehemaligen) Standorten kritisch-marxistischer Politikwissenschaft wie Hannover, Bremen, Bielefeld oder auch Berlin. Als aktuelle Zentren kritischer, akademisch verankerter Wissenschaft in diesem Sinne erweisen sich im deutschsprachigen Raum vor allem Jena (Harmut Rosa, Klaus Dörre), Kassel (Sonja Buckel, Christoph Scherrer) und Wien (Birgit Sauer, Ulrich Brand). Auch die Universität Frankfurt ist dahingehend noch immer relevant, wenn auch längst nicht mehr in den Ausmaßen der 1970er Jahre und 1980er Jahre. Auch der Vergleich dieser mit der Frankfurter Schule oder eben der Marburger wäre reizvoll. Spannend zu erfahren wäre, wie es die anderen noch lebenden Vertreter der Marburger Schule mit der hier besprochenen, an vielen Stellen persönlich gehaltenden, nichtsdestotrotz gerade auch deshalb empfehlenswerten und in ihrer Gesamtheit gelungenen Darstellung, halten.

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