Heft 3-4/2002
Juni
2002

Nationalismus in Lateinamerika

Ein generelles Panorama

Die Übertreibung des Nations-Konzepts kann zu einer der tödlichsten und schlimmsten gesellschaftlichen Krankheiten führen. Es beginnt bei der Hervorhebung der Nation bis hin zu einem göttlichen Staatus, und endet in der definitefen Zerstärung, bei der Verengung ihrer Horizonte und im unvermeidlichen Zusammenprall mit tief menschlichen Interessen.

Recanses Siches

Während der letzten 20 Jahre hat das Phänomen des Nationalismus reges Interesse geweckt. Zahlreich sind die vorgestellten Theorien, die jeweils ihr Augenmerk auf kulturelle, emotionale, politische, usw. Faktoren legen. Jedoch Einigkeit in bezug auf ihre Eingrenzung und spezifische Definition gibt es kaum. Autoren wie Eric Hobsbawn, Ernest Gellner und Benedict Andereson [1] zeigen die unterschiedlichen und heterogenen nationalistischen Erfahrungen und Verhaltensformen auf. Letztendlich lautet die Antwort, die sie auf die Frage des Wesens von Nationalismus geben, dass es sich dabei um ein irreführendes Phänomen handle, welches objektive und subjektive Elemente besitzt, und das je nach historischer Situation in einer bestimmten Form auftritt. Diese Mehrdeutigkeit trifft auch für den Fall Amerikas zu: in allen verschiedenen Prozessen, in denen Nationalismus eine Rolle spielte, zeigte dieser unterschiedliche Facetten.

Während der Kolonialzeit wurde die Nation in Amerika als “Madre Patria” (“Mutter Vaterland”) – gemeint war damit die Spanische Krone – verstanden. Es handelte sich dabei um einen Nationalismus monarchistischer Prägung, der dem Konzept des Vaterlandes näherstand, da der moderne Nationalismus erst als solcher nach der Französischen Revolution entstand: Die Staatsnation war geboren.

Die erste Manifestation von Nationalismus in jener neuen Form war der amerikanische Unabhängigkeitsprozess, im Zuge dessen sich die amerikanische Elite in einem Prozess der Individualisierung von Spanien lossagte. In diesem Kontext paarte sich der Nationalismus mit dem politischen Liberalismus republikanischer Prägung und funktionierte somit als nützliches Paradigma beim Sturz der Monarchie.

An diesem Punkt beginnt die Konstruktion von Nationalstaaten in Amerika. Der Entstehungsprozess war schwierig, da Lateinamerika ein heterogener Kontinent ist, mit sehr unterschiedlich ausgeprägten kulturellen Ausdrücken, die die Schaffung einer weitgefassten Nation im Sinne Simón Bolívars und anderen UnabhängigkeitskämpferInnen nie zuließen.

Nach dieser “emanzipatorischen” Zeit spielte der Nationalismus sowohl für Rechte als auch für Linke eine bedeutsame Rolle. Die politischen Gruppen waren an der Erhaltung von Faktoren interessiert, die mit linguistischen, ethnischen, territorialen, kulturellen Eigenschaften zusammenhängen, allesamt Faktoren, die mehr Beziehung zum Westen als zu autochtonen Erscheinungen haben.

Was auf einem mestizischen [2] Kontinent von allen möglichen Standpunkten aus eine verwirrte Identität, wenn es eine solche überhaupt gibt, zur Folge hatte.

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Nationalismus von der internationalen Gemeinschaft als etwas Positives angesehen, da dieser das Ende der kolonialen Ära bedeutete. Die schlimmste Ausprägung dieses Konzepts, der Nationalsozialismus, zeigte jedoch endgültig, auf welche Art nationalistische Ideen fähig sind, sich zu entwickeln und zu degenerieren.

Die wichtigsten nationalistischen Ausprägungen Lateinamerikas entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Hervortreten der populistischen Nationalismen, charakterisiert durch ihre defensive antiimperialistische Stoßrichtung, welcher sich neokonservative und neopopulistische Regerungen bedienten. Erstere bedienten die Themen Wirtschaft und Modernisierung der Gesellschaft und suchten ihre politischen Akteure in der landbesitzenden und unternehmerischen Bourgeoisie. Zweitere benützten den Diskurs der Umverteilung der Güter und suchten damit die Unterstützung der Massen, ihr politischer Akteur war jedoch die Mittelschicht. [3]

Diese innerhalb der politischen Rechten entwickelten Modelle eint die Eigenschaft in ein korporativistisches und klientelistisches Staatsmodell zu münden, dessen ideologische Fundamente die traditionellen Werte von Vaterland, Familie, Religion und Privateigentum sind. Oft konnten sie auf die Unterstützung paramilitärischer Gruppen, wie die Antikommunistische Allianz in Argentinien, die brasilianischen Todesschwadrone und Patria y Libertad (“Vaterland und Freiheit”) in Chile zählen. [4]

Die Fotografien in dieser Ausgabe stammen von dem Künstler Francisco „Panchi“ Claure Ibarra, der in Bolivien geboren ist und derzeit in Wien lebt. Er hat liebenswerterweise Context XXI diese Auswahl seiner Fotografien speziell für den Lateinamerika-Schwerpunkt zur Verfügung gestellt.
Bild: Francisco „Panchi“ Claure Ibarra

Zur gleichen Zeit entstand der Nationalsozialismus und die Faschismen, die sich zwar in erster Linie auf ihre europäischen Vorbilder beriefen, jedoch die Eigenschaften der Länder, in denen sie sich niederließen, annahmen und zu solch heterodoxen Auswüchsen führten wie beispielsweise die Unterstützung der Linken in Chile.

Der Kalte Krieg ist eines der ersten Ereignisse, das die nationalistischen Konzeptionen in den zweiten Rang versetzte, denn die politischen Bündisse nahmen Bezug auf Ideologien mit Universalcharakter. Lateinamerika stand in großem Maße dem Sozialismus nahe, was die kubanische Revolution nur noch verstärkte und eine Weltsicht aus marxistisch-leninistischer Perspektive eröffnete. In dieser Situation war es der Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus, welcher über die Anknüpfungspunkte der politischen Strömungen entschied und als radikalste Ausprägung die Entstehung der Guerillas zur Folge hatte. Die Hauptideologen der Guerilla-Bewegung waren Ernesto Guevara und Regis Debray. Die marxistische Geschichtsschreibung hat eine Unmenge an Mythen rund um sie hervorgebracht – v.a. was die Figur des Ché Guevara betrifft – die die real erzielten Ergebnisse übertrieben darstellen.

Die Guerilla-Bewegungen sind radikale Gruppen, die sich von Teilen der Linken abspalteten, MarxistInnen-LeninistInnen oder sogar MaoistInnen, ihren Aktionsplan v.a. in ländlichen Gebieten ausbreiteten und versuchten, eine kontinentale Revolution durchzuführen, v.a. in den Jahren zwischen 1960 und 1968. Es gab auch urbane Ausformungen, wie im Falle Argentiniens, Brasiliens und Chiles, die unter der Führung von StudentInnen und Intelektuellen auf beachtliche Unterstützung der ArbeiterInnen zählten. Die größte Projektionsfläche bot die FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional).

Die nationalen Befreiungsbewegungen waren unfähig, Massenbewegungen zu mobilisieren und außerstande, eine tiefgreifende revolutionäre Überzeugung zu verbreiten. Abgesehen davon, dass sie nationalistische Bewegungen sind, stellen sie politisch-ideologische Konzepte dar, welche als politischen Hauptakteur – je nach politischer Orientierung, sei diese marxistisch, leninistisch oder maoistisch – das Proletariat, die Bäuerinnen und Bauern und die indigene Bevölkerung betrachten. Diese gelten für sie als die wahren IdentitätsstifterInnen der Nation. Ihr unmittelbares revolutionäres Ziel ist die Gründung einer neuen Nation und die Besiegung des Kapitalismus, jedoch – suchte ihr Projekt nicht vielmehr einen autoritären leninistischen Staat?

Ab den 1970er Jahren entstehen unter den Diktaturen des Kontinents Widerstandsbewegungen, wie z.B. die Patriotische Front Manuel Rodriguez in Chile. Der Bezug auf das Vaterland besaß mehr strategische denn ideologische Elemente. Hobsbawm meint, dass “alle Bewegungen, die regionale, lokale oder gar sektoriale Interessen gegen die Zentralmacht und die staatliche Bürokratie vertreten, sich wenn möglich in die nationale Schale werfen werden, vorzugsweise in der jeweiligen ethnolinguistischen Ausprägung.” [5]

Das Phänomen der Globalisierung ist ohne Zweifel der letzte Dolchstoß für die nationalen Bewegungen als historische Vektoren, da nun eine internationale Wirschaft zu Lasten der nationalen und die Überwachung mittels internationaler Strukturen auf Kosten des Nationalstaates gefordert wird, welcher an Eigenständigkeit verliert und an Unbedeutsamkeit neben den großen multinationalen Firmen gewinnt.

Vor diesem globalen Panorama stellt die indigene Bevölkerung den betroffensten Sektor dar, welcher einen anderen Rhythmus an Fortschritt und technologischer Entwicklung bevorzugt, versucht, eigene traditionelle Lebensformen — wie mestizisch diese auch sein mögen — zu wahren und auf ihr Recht auf Differenz besteht.

Die indigene Bevölkerung ist eine vom Verschwinden bedrohte Gruppe, z.B. die Mapuches in Chile oder die Indígenas in Chiapas. Im Angesicht der Globalisierung enstehen die Lokalismen. Trotzdem ist es wichtig zu betonen, dass es dieselben AmerikanerInnen waren, die diesen Prozess radikalisierten, denn die Indígenas, die ständig von der Linken beansprucht werden, sind die mythischen Indígenas, sie werden als heroische prehispanische KämpferInnen dargestellt, während die heutigen Indígenas Teil der marginalsten Sektoren des Kontinents und von extremer Armut betroffen sind.

Unsere mestizische Herkunft verhindert eine eindeutige ethnische Identität. In Ländern mit vorherrschend westlicher Pigmentierung — also mehr Weißen — wird das “Indigene” stark abgelehnt, was sogar auf internationaler Ebene spürbar ist: in Form von Ekel und Überlegenheitswahn, beispielsweise der ChilenInnen gegenüber den PerunanerInnen und gleichzeitig existiert ein Minderwertigkeitskomplex gegenüber den ArgentinierInnen.

Der Nationalismus in seiner aggressivsten Ausformung – Faschismus und Nationalsozialismus – scheint in Lateinamerika keine latente Gefahr mehr darzustellen. Der tagtägliche Nationalismus jedoch, voller Chauvinismus, dessen charakteristisches und banalstes Element der Fußball darstellt, ist stark verbreitet. Amerika ist fern jeglicher Einheit oder Integration. Solange irrationale Elemente und Überlegenheitsdenken überwiegen, wird es keinen gemeinsamen Kampf gegen unsere bittere Wirklichkeit geben.

Der Nationalismus hat in Amerika verschiede Formen angenommen. Gestern in Form eines Integrationsprozesses und der Identifikation zwischen Gleichen, den AmerikanerInnen; später brachte er die Spaltung zwischen Gleichen, die Klassen, und heute stellt er den letzten Kriegsschrei jener dar, die in einer globalisierten Welt zu überleben versuchen: die Indígenas. Als historische Lehre und von einer libertären Perspektive ausgehend kann festgestellt werden, dass der Nationalismus in jeder seiner Ausformungen der linken und der rechten, abzulehnen ist, da in seinem Namen Blut vergossen und Grenzen geschlossen wurden, anstatt fortzuschreiten in Richtung einer wirklichen Emanzipation aller Menschen.

[1Zum Thema Nationalismus siehe: Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983 (dt., Berlin 1991); Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780: programme, myth, reality, Cambridge 1990 (dt., Frankfurt/M. 1991); Miroslav Hrosh, Social preconditions of national revival in Europe: a comparative analysis of the social composition of patriotic groups among the smaller European Nations, Cambridge 1985; Gil Delanoi, La teoria de la nación y sus ambivalencias – in: Teorías del nacionalismo. Ed. Gil Delanoi, Pierre André Taguieff, Barcelona 1993.

[2Mestiz@: Bezeichnung für Nachkommen der (gewaltsamen) „Mischung“ von Indigenas und Spaniern, allgemein für „durchmischte“ Bevölkerungen.

[3Manuel Lucena Zamoral, et.at, Historia de Iberoamérica, Editorial Cátedra, Madrid, 1988.

[4ebenda: 658.

[5Hobsbawm Eric, Nations and Natiionalism since 1780, Cambrige 1990.

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