Risse, Risse 5
Juni
2003

Negative Dialektik gegen Bewegungslinke

Die Neue Linke ist gekennzeichnet durch ein Praxisgebot, das längst zum Selbstzweck geworden ist. Der kritische Gedanke wird mit Argwohn und Misstrauen betrachtet; Theorie ist höchstens als Handlungsanleitung interessant. Mit Adorno lässt sich gerade darin ein wichtiger Grund dafür diagnostizieren, weshalb die Bewegungslinke immer mehr in offen reaktionäre Gefilde abdriftet.

Die Liquidation der Theorie durch Dogmatisierung und Denkverbot trug zur schlechten Praxis bei; dass Theorie ihre Selbständigkeit zurückgewinnt, ist das Interesse von Praxis selber.

(ND, S. 146/147)

Die Linke, gerade die sogenannte ausserparlamentarische, definiert sich über das, was sie unter Praxis versteht. Diese besteht in der regelmässigen Teilnahme an den einschlägigen Events. Entpolitisierung heisst so viel wie unentschuldigt fernbleiben. «Ausser man tut es...» hiess einmal eine vor das Hauptabendprogramm geschobene Sendung des schweizer Fernsehens, in der allerlei Hilfsprojekte ihre Aktivitäten vorstellen konnten. «Ausser man tut es...» ist längst zum Motto, ja zum alleinigen Kriterium der Bewegungslinken geworden. Was da getan wird, ist sekundär, weshalb und wozu sogar gänzlich unwichtig. Grundsätzliche kritische Auseinandersetzungen mit Theorien, die Vorantreibung eines eigenen kritischen differenzierten Denkens wirken bloss zersetzend für eine Bewegung, die sich ganz über ihr Bewegtsein definiert. Man weiss ja, was man ist: im besten Fall noch gegen Staat und Kapital, im schlimmeren Subsistenzromantiker, Tobin-Anhänger, Ethno-Ontologe oder Anarcho-Barbar. Darüber hinaus will man auf keinen Fall; da müsste man ja die eben gewonnene Heimat hinterfragen und die liegt in der Aufrechterhaltung des Protestbetriebs als solchem. Totale Borniertheit ist da kein Problem, solange je nach Vorliebe die Fahnen wehen, die Schaufensterscheiben krachen oder die Unterschriften unter der Bürgerinitiative sich vermehren. Gleich wie in der Gesellschaft draussen ist die leere Aufrechterhaltung des Betriebs als solchem zum Selbstzweck erstarrt. Wo unter der totalen Quantifizierung alles Qualitative ausgemerzt wird, kann keine Quantität mehr in Qualität umschlagen.

Misslungene Verwirklichung der Philosophie

Karl Marx warf einmal den Philosophen in einem viel zitierten Satz vor, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern. (MEW, Bd. 3; S. 535) So polemisierte Marx gegen die Selbstzufriedenheit der philosophischen Spekulation, die ob ihrer Verhärtung in der Geschlossenheit ihres Systems und wegen ihres Standpunktes auf dem Boden der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das, was den Kern ihrer Wahrheit ausmacht – der wirkliche Mensch und seine Emanzipation – aus sich ausschliessen musste. Nicht verwirklichen lasse sich die Philosophie, ohne sie aufzuheben, aber auch nicht aufheben lasse sie sich, ohne sie zu verwirklichen. (MEW, Bd. 1; S. 384)

Die Verwirklichung der Philosophie ist aber ausgeblieben. Uneingeholt steht sie vor dem Praxisgebot, das sich die Linke in Marx’ Nachfolge, ohne die Dialektik seines Satzes zu verstehen, auferlegt hat, bis zur betäubenden Dummheit der heutigen Massenprotestbewegungen, die in ihrer gänzlichen Theorielosigkeit unter all ihren Gewaltdiskussionen und Eventbesprechungen endlich sich als offen reaktionär erweisen. Dies ist unter anderem auch die Folge eines Praxisgebots, das sich gegen alles, was nicht unter den einmal angeschlagenen Betrieb fällt, spröde, gleichgültig oder offen feindselig zeigt. Der Kritik der Philosophie, die in ihrer Selbstgefälligkeit und Geschlossenheit nicht nur das ihre Wahrheit bildende Versprechen der möglichen Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit nicht einlösen kann, sondern es in ihrem Gang sogar aus sich ausmerzen muss, hat heute eine nicht minder radikale Kritik einer selbstgefälligen Praxis zu folgen, die den emanzipatorischen Gedanken und die Hoffnung auf die Möglichkeit seiner Verwirklichung so vollkommen aus sich ausgeschieden hat, dass sie in ihrem Kreisen um sich selbst, in totaler Entmündigung ihrer Exekutoren, zum Organ von Repression und Entmenschlichung geworden ist. Einer solchen leeren Praxis gegenüber wird der kritische Gedanke und die mühselige Arbeit des Begriffs zum notwendigen Einspruch: ein unbedingtes Beharren auf der ungewissen Möglichkeit des radikal Anderen, auf dem Anspruch auf Befreiung und Glück für alle. Ein ohnmächtiges Beharren freilich, weil der Gedanke es nie aus sich heraus wird einlösen können – eine Situation, die Adornos Denken eine ungebrochene Aktualität verleiht. «Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt alle Theorie. (...) Was einmal einer besseren Praxis obliegt, und zuteil wird, kann Denken (...) jetzt und hier so wenig absehen, wie Praxis ihrem eigenen Begriff nach je in Erkenntnis aufgeht. Ohne praktischen Sichtvermerk sollte Denken so sehr gegen die Fassade angehen, so weit sich bewegen, wie ihm möglich ist. (...) Das Verzweifelte, dass die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre.» (ND, S. 242/3)

Negative Dialektik

Doch wie soll ein Denken aussehen, das weder dem totalisierten Praxisanspruch in der Linken, noch dem sich bruchlos gebenden Funktionieren der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mitsamt ihrem ideologischen Kitt verfallen will, ohne in die Abgehobenheit der alten idealistischen Systeme zurückzufallen? Ein Denken, das beides sein muss, bestimmt und offen, kompromisslos, ohne sich selbst wieder zu verhärten?

Ein Denken, das dem falschen Bestehenden sich gewachsen zeigt und über es hinaus weist, muss eines sein, das sich nie in sich beruhigt, das nie bei sich stehen bleibt, nie mit sich selbst zufrieden ist, ein Denken, das «seine Gegenstände nicht in ihrem Begriff aufgehen lässt» (ND, S. 17). Der einfache, bestimmte Widerspruch gerät genauso unter das Gesetz totaler Identifizierung dessen, was als nicht Verwirklichtes offen sein sollte, wie das affirmative Denken und stellt sich dadurch selbst ruhig, verbannt aus sich die Male dessen, was noch nicht ist und objektiv nach Erlösung verlangt. Wahrheit gibt es nicht als fixierte, sie darf aber nicht der Beliebigkeit weichen. Nur Dialektik kann dem gerecht werden, ein Denken, das Widersprüche auszuhalten unternimmt und nicht in sich die Lösung finden zu können vermeint. «Das Differenzierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewusstsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muss: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch misst. Das hält Dialektik dem Bewusstsein als Widerspruch vor.» (ND, S. 17)

Im Gegensatz zur «positiven» Dialektik Hegels oder in gewissem Sinne auch noch Marx’, in der Negation immer bloss das Mittel zum Zwecke eines sich aus der Negation dieser Negation wieder herstellenden Positiven ist, die also in ihrer Bewegung sich doch immer wieder zu versöhnen trachtet, will Negative Dialektik sich von derlei affirmativem Wesen befreien (Vergl. ND, S. 9). Ihre Negativität ist eine in doppeltem oder gar dreifachem Sinne. Sie ist eine gegenüber dem falschen Bestehenden und dessen Totalitätsanspruch, sie ist aber auch eine gegenüber sich selbst, da sie sich nie mit sich selbst zufrieden geben kann, unversöhnlich gegen die eigene Ohnmacht und jeden Versuch, sich in ihr einzurichten. Und sie ist nicht zuletzt auch eine gegenüber allen Versuchen der positiven Fixierung eines anzustrebenden Ziels, der positiven Fassung der Ausgestaltung einer befreiten Menschheit, denn eine solche Fixierung muss unter dem falschen Bestehenden, in dem es kein Richtiges gibt, notwendig repressiv geraten. Wenn AktivistInnen gegen den G8-Gipfel in Evian allen Ernstes ihre Widerstandscamps als Vorboten einer neuen Gesellschaft bezeichnen, so ist das nur ein besonders absurder Ausdruck davon.

«Nach Auschwitz»

Adornos ganzes Denken ist ganz wesentlich ein Denken nach Auschwitz. Schon die zusammen mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung aus dem Jahr 1944 beginnt mit der Formulierung der Aporie, vor der sich alles emanzipatorische Denken im Angesicht des Grauens findet: «Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.» (DdA, S. 19) Auschwitz hat nicht nur allen Glauben an einen kontinuierlichen menschlichen Fortschritt unwiederbringlich zerstört, sondern lässt ihn angesichts der Toten geradezu als ruchlos erscheinen. Die Shoa lässt kein sinngebendes Denken mehr zu. Wer fordert, die Millionen dürften nicht sinnlos gestorben sein, frevelt schon dadurch an der Sinnlosigkeit ihres Todes, funktionalisiert ihn in neuer Affirmation. Als Maxime des Handelns bleibt nur die Neuformulierung des kategorischen Imperativs: «Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.» (ND, S. 358) Darüber hinaus weist nur noch eine sich gegenüber dem Bestehenden zur Negativität verdichtende Hoffnung auf das Andere. Von dem Bestehenden und erst recht von dessen affirmativen KritikerInnen aus gesehen, wird solcherlei Negativität zum Nihilismus. Gerade dieser wird paradoxerweise zum Träger von Hoffnung gegenüber dem wirklichen Nihilismus der bürgerlichen Ideologen sowie der WeltverbessererInnen, die sich letztlich alle ihrer falschen Heimat gewiss sind. «Nihilisten sind die, welche dem Nihilismus ihre immer ausgelaugteren Positivitäten entgegenhalten, durch diese mit aller bestehenden Gemeinheit und schliesslich dem zerstörenden Prinzip selber sich verschwören. Der Gedanke hat seine Ehre daran, zu verteidigen, was Nihilismus gescholten wird.» (ND, S. 374) Diese Verteidigung gilt insbesondere den Werken fortgeschrittener Kunst, die als abstrakt, weltfremd oder eben nihilistisch gelten.

Kunst und Nihilismus

Der grösste Nachteil der Kunst ist gleichzeitig ihr grosser Vorzug: ihr wesentlicher Scheincharakter. Indem Kunstwerke Schein sind, eine andere, eigene Realität behaupten, heben sie sich von der empirischen Welt ab, treten a priori in ein polemisches Verhältnis zu derselben: «Indem sie von der empirischen Welt, ihrem Anderen, sich trennen, bekunden sie, dass diese selbst anders werden soll, bewusstlose Schemata von deren Veränderung.» (ÄT, S. 264) Der Schein der Kunstwerke wird so zum Träger ihrer Wahrheit. Gleichzeitig aber ist ihr Scheincharakter immer auch ihr grosser Makel, ihre Teilhabe an der Lüge, es sei etwas, das nicht ist. Kunstwerke versprechen etwas, das sie aus sich heraus nie einlösen können. Dadurch tendieren sie zum falschen Trost, zur letztlich missglückenden, weil dem Bestehenden gegenüber affirmativen Sublimation. Erst Werke, die sich davon ein Bewusstsein erworben haben, vermögen über sich hinauszuweisen, die in ihnen gespeicherten Bedürfnisse, ihren Wahrheitsgehalt als dem Bestehenden und sich selbst gegenüber negativen, unerfüllten, aber nach Erfüllung Drängenden, auszudrücken. Solche Werke bewegen sich aber stets ganz am Rande des Verstummens, weil sie sich selbst nie genügen können und weil es im Falschen keine auch noch so feine Sprache des Richtigen geben kann. Adorno nennt das Beispiel Samuel Becketts: «Beckett hat auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr Bilderverbot, so reagiert, wie es allein ansteht. (...) Als einzige Hoffnung dämmert, dass nichts mehr ist. Auch die verwirft er. Aus dem Spalt der Inkonsequenz, der damit sich bildet, tritt die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor, die seine Dichtung festhält. Im Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrien, dass es anders sein soll.» (ND, S. 373/374) Nur am Rande des Verstummens kann die Kunst die Bedürftigkeit nach radikaler Veränderung, nach Glück und Erlösung, die positiv zu nennen sie sich hütet, als eine Wahrheit mobilisieren.

So bilden die grossen Werke der Kunst einen negativen und äusserst fragilen Zufluchtsort für die Hoffnung auf das Andere, die im totalisierten Betrieb der verwalteten Welt keinen Ort haben kann. Das Ende der Kunst im totalen Verstummen wird dadurch aber nicht nur ständig in Kauf genommen, sondern als Moment ihrer Wahrheit impliziert. Denn die grosse, sich negativ und asketisch behauptende Kunst will nicht das letzte Wort haben. Ihrer Wahrheit gemäss warten Kunstwerke auf ihre Aufhebung. Sie gebären sich im Zeichen ihres Endes, dessen Implikation wesentlich ihren transzendierenden Gehalt bildet. Negativ birgt sich ihnen die revolutionäre messianische Hoffnung, deren Verwirklichung so ungewiss wie objektiv notwendig bleibt.

«Narretei ist Wahrheit in der Gestalt, mit der die Menschen geschlagen werden, sobald sie inmitten des Unwahren nicht von ihr ablassen. Noch auf ihren höchsten Erhebungen ist Kunst Schein; den Schein aber, ihr Unwiderstehliches, empfängt sie vom Scheinlosen. Indem sie des Urteils sich entschlägt, sagt sie, zumal die nihilistisch gescholtene, es sei nicht alles nur nichts. Sonst wäre, was immer ist, bleich, farblos, gleichgültig. Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, indem nicht Transzendenz widerschiene. Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Auges, das nicht will, dass die Farben der Welt zunichte werden. Im Schein verspricht sich das Scheinlose.» (ND, S. 396/397)

Literatur:

  • Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944); in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3; Frankfurt a.M. 1997 (Suhrkamp).
  • Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966); in: GS, Bd. 6.
  • Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (1969); in: GS, Bd. 7.
  • Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845/1888); in: Marx/Engels, Werke, Bd. 3; Berlin 1969 (Dietz).
  • Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44); in: MEW; Bd. 1.
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