Notate zu Begriff und Praxis der Revolution
Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten;Habt doch nun endlich mit euch selbst erbarmen!Zieht nun in neue Kriege nicht; ihr armen;als ob die alten nicht gelanget hätten: Ich bitt euch;habet mit euch selbst erbarmen!Ihr Männer; greift zur Kelle;nicht zum Messer! Ihr säßet unter Dächern schliesslich jetzt;hättet ihr auf das Messer nicht gesetzt;und unter Dächern säße es sich doch besser ich bitt euch;greift zur Kelle;nicht zum Messer!Ihr Kinder; daß sie euch mit Krieg verschonen;müsst ihr um Einsicht eure Eltern bitten: Sagt laut;ihr wollt nicht in Ruinen wohnen und nicht das Leiden;was sie selber litten: Ihr Kinder;daß sie euch mit Krieg verschonen!Ihr Mütter; da es euch anheimgegeben;den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden;ich bitt euch; lasset eure Kinder leben!daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden;ihr Mütter; lasset eure Kinder leben!Bert Brecht
Im Jahre 1964 kam es mir in den Sinn, eine Theorie der Revolution zu schreiben. Seither hat mich dieser „Auftrag“ nicht wieder gänzlich verlassen. Im Ernst glaubte ich im Jahre 1968 nicht daran, daß die Weltrevolution schon jetzt möglich sei. Ich vertrat die Ansicht, daß die gesamte Welt eine negative Einheit (globale Entfremdung) sein müsse, totalitär und nur quantitativ (eine Welt ohne Humanismus, ohne Individualität, Ethik, ohne Gerechtigkeit und Erbarmen, eine Welt von wenigen dirigiert und von den vielen ohne Gesicht, Strichcodeidentitäten vielleicht, subordiniert) noch vorhanden, bevor der Augenblick des „Umschlagens“ möglich sei — in das wahre Ganze aus dem ganzen Unwahren heraus.
Es scheint richtig, daß alle Revolutionen bisher vom Regime her bestimmt waren, das ihnen vorausgegangen war. So ist etwa die absolute Revolution durchaus ein Findelkind des absolutistischen Systems und die große Oktoberrevolution eine Reaktion auf den politischen Rückstand des Zarismus. Allein, das bloß reaktive Moment der politisch-sozialen Revolutionen erklärt nicht ihren Sinn und ihr Wesen.
Aber, so fragte ich mich schon damals und frage es mich heute erneut: was sollten die Etappen der revolutionären Momente in der Weltgeschichte bisher? „Geschichte existiert nicht immer; Weltgeschichte ist das Resultat.“ Wohl auch der konstitutiven Tat der Revolution wegen, oder? Die Idee der Weltgeschichte und der Begriff der Revolution scheinen unmittelbar ineinander verkehrt zu sein, das heißt die eine ist ohne die andere undenkbar.
Damals sowenig wie heute war es mir klar, was die Differenz von Revolution in einem Lande oder Weltrevolution, permanente Revolution oder Rückfall in die Steinzeit im Grunde bedeuten sollte.
Der konstitutive Begriff der Revolution für das moderne Verständnis von Welt überhaupt ist nur im Verständnis und Selbstverständnis von Geschichte als Heilsgeschichte möglich. Also geht dem modernen Revolutionsbegriff der noch mittelalterliche Weltsinn voraus, jedenfalls in seinem Übergang zur Neuzeit, der mit Joachim von Fiore eine neue Ordnung des Weltganzen konzipiert: es sei ein Zusammenhang (Synthesis) von Geschichte, Telos der Weltgeschichte und Hoffnung auf ein Ende der Entfremdung möglich — freilich im Bild des Sohnes (Christus) noch, das als christliches Universum die dialektische Einheit von Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte ermögliche.
Tausend Jahre Weltgeist Superstar
1969 schlug ich dem Cheflektor eines damals sehr progressiven Verlages in Berlin meine Theorie der Revolution vor. Er zeigte sich mehr als geneigt, ein solches Buch zu veröffentlichen. Erschienen ist damals an fast nämlicher Stelle „Fetisch Revolution“ von H. G. Helms — eine profunde Kritik der 68er-Bewegung. Sie hat sich als eine Revolte gegen den autoritären Staat, seine Strukturen und gegen die Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration herausgestellt. Freilich hat sich dieser Empörung einiges zu verdanken; indes: was ist geblieben von den Black Panthers, von den Black Muslims und Guerrilleros in der Ikone Guevaras? Was ist geblieben! Was ist geblieben vom antiimperialistischen Geist der Jugend, die gegen den Vietnamkrieg aufgestanden ist? Fast nichts! Meine Generation hatte noch ein geschlossenes Weltbild. Bei den Feministinnen, bei den Ökologen und bei den Phantasten der neuen-alten Religionen wird sich ein solches nicht finden lassen; im Gegenteil: sie alle werden behaupten, daß ein geschlossenes Weltbild nicht sinnvoll sei. So ist einerseits das alte Herrschaftsprinzip des divide et impera voll aufgegangen, andrerseits hat sich zwar die objektive Möglichkeit der Weltrevolution vergrößert — bei fast gleichzeitigem Verlöschen des revolutionären Subjekts in der Perspektive der Geschichte.
Was ist aus den subversiven Bewegungen, die so disparat waren wie SDS, Black Panthers, Weather Men, Tupamaros usw. geworden? Damals nicht dabeigewesen waren die Proletarier, sie waren vom Faschismus längst ins ganze Unwahre des autoritären Staates integriert worden. Dachte die Avantgarde damals ernsthaft, die Arbeiterklasse aus den Fängen kapitalistischer Verführung befreien zu können? Wer hätte ohne die Proletarier aller Länder wohl das revolutionäre Subjekt der Weltgeschichte sein können?
Aus den Friedensbewegungen wie aus der hedonistischen Linken ist auch nichts geworden als ein anderer Typus von Konsum oder sozialem Verhalten. Wenn also der rechte Augenblick der Revolution, die Chance der grundlegenden Weltveränderung nicht genutzt wird, wenn sie nicht mit den subjektiven Momenten disparater Empörungen zusammenfällt in einem kollektiven Willensakt, kehrt er erst wieder, sagen wir, wie das Bild des Kometen Big Hope. Also ist die Periodizität und die Vereinigung subversiver Kräfte ein wesentliches Merkmal des Begriffs der Weltrevolution. Ist ein solcher Augenblick vorüber, müssen „Ewigkeiten“ vergehen, bis wieder die große Chance auf eine revolutionäre Weltveränderung in die Perspektive der vom Menschen machbaren Geschichte eintritt. Der Augenblick der Revolution hat immer etwas saturnalisches, schicksalhaftes und von kosmischer Gewalt an sich. Vielleicht ist die spekulative Beschäftigung mit extraterrestrischen Wesen und ihrer Errettung der Welt nichts als eine verzerrte Hoffnung aus der versäumten Revolution.
Es kann zum Beispiel ein Komet aus der Sicht der Menschenaugen, der Teleskope und schließlich aus dem Gesichtsfeld der Astronomen verschwunden sein, so existiert er dennoch weiter. Seine Wiederkehr kann vorausberechnet werden, jedoch solche Prognosen betreffs Weltrevolution sind weniger einfach.
Alles, das heißt das ganze Unwahre oder die Hölle, in der wir leben, sei noch einmal radikal hinterfragt:
Ist der Terror, den die bürgerlichen Revolutionen in die Welt gesetzt haben, je wieder aufhebbar ohne die Fortsetzung dieser Revolution durch die proletarische? Gibt es nach dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft eine andere Ordnung? Muß der Revolutionsbegriff gänzlich neu gedacht werden — nach dem Scheitern aller Revolutionen bisher? Ist die Tragödie des Scheiterns der Tragik menschlicher Existenz immanent? Kann es eine revolutionäre Bewegung geben, die die Bewegungsformen von
- Welt und Geschichte
- Kosmos
- individuellem/kollektivem Verhältnis der Menschheit zu sich und zum Göttlichen
sinnvoll verbindet derart, daß das Heilsversprechen, Glück hier und jetzt sei für alle möglich, eingelöst werde?
Ist die Verwirklichung der Freiheit für alle im Reich des Ewigen Friedens im Angesicht der alten Ikone: Das Wahre, Schöne und Gute, nur phantasmatisch?
Kann es, nach dem Scheitern der Proletarischen Revolution und des Sozialistischen Staates, nach dem Scheitern der ruralen Revolution eines Pol Pot usw., nach dem Scheitern der chinesischen Revolution, kann es — ohne Weltrevolution überhaupt eine sinnvolle Revolution geben oder brauchen wir einen anderen Typus, den etwa Ghandis, von Revolution? Oder sind alle Revolutionen bisher nur Etappen auf dem Wege zur großen sozialistischen Weltrevolution? Gewiß scheint eines: auf dem Wege zur Globalität gibt es nur zwei Resultate: das ganze Unwahre als Totalitarismus und Faschismus oder die Welt als sozialistische. Der dritte Weg ist unmöglich: Aber wäre denn eine sozialistische Welt eine Welt ohne Kriege, eine gerechte gute und schöne Welt? Was müssen die neuen Leitbilder und Ideale der Revolution sein und was bestimmt die Revolution letztlich als „legitim“ und was macht sie, im Unterschied zu „Gefangenenhausaufständen“ an- und für sich unterscheidbar — von beliebig hegemonialen Machtkämpfen, lobbyistischen Besitzansprüchen und anderen politischen gruppendynamischen Prozessen?
Jedermann weiß oder er weiß es recht eigentlich nicht, daß der Revolutionsbegriff seit Kopernicus und Hegel für die Moderne konstitutiv ist, — er ist geradezu zum Kanon des okzidentalen Weltverständnisses geworden, vielleicht sogar des orientalen. Ohne Theorie und Praxis der Weltrevolution kein Fortschritt und nur ein trauriges Ende der Moderne, nur Rückfall in die Steinzeit — bei durchaus rasanter Weiterentwicklung der materiellen Produktion: rasender Stillstand; Taumel und Totenstarre.
Das Wort Revolution kommt aus der Astronomie und bezeichnet in dem großen Werk des Kopernicus, De Revolutionibus Orbium Coelestium, die revolvierenden Bewegungen der Himmelskörper. Mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ fiel der Begriff der Revolution aus dem Himmel in die Sphäre der Weltgeschichte, zwar noch als idealtypisches Bewegungsbild für die Freiheit des Weltgeistes und aller an ihm Teilhabenden.
Der Charakter des revolutionären Geistes besteht für Hegel in der Aufhebung des Toten in dieser Welt — zugunsten von Liebe, Gleichheit und Erkenntnis. Wie in der Französischen Revolution trennt und verbindet die Menschen das höchste Wesen, der absolute Geist — Weltgeist Superstar.
Mit Marx und Engels fiel der Revolutionsbegriff weiter — oder er ist wieder aufgestiegen — in die prometheische Sphäre: Nach der Überwindung des Vater- oder Königsmordes erzeugt sich der Mensch lustvoll und verantwortlich für seinesgleichen wie die Mitwelt selbst — durch sein dionysisches Arbeits- und Kunstwerk.
Der Mensch allein sei seines Glückes Schmied. Die prometheische Ordnung ist eine endgültige Absage an den Eingriff göttlicher Vorsehung, der Götter überhaupt und auch des Fatums. An die Stelle des Glaubensapparats Kirche trat der Staatsapparat, an die Stelle der Religion die allseligmachende Ideologie des historisch dialektischen Materialismus und an die Stelle der Unterdrückten und Ausgebeuteten das souveräne Volk oder die revolutionären Massen — Agenturen, die es bis heute zu keiner Synthesis gebracht haben, nicht einmal zur Versöhnung von Hammer und Sichel. Die industrielle und die agrarische Produktion wie ihre Agenten klaffen mehr denn je auseinander. Und an die Stelle des schrecklichen Fatums sollte die Wissenschaft in ihrem reinen Glanze treten. Fetisch materialistische Erkenntnistheorie und materialistische Prognostik.
Als schließlich 1917 die Revolution — nicht in Deutschland oder England, sondern im ganz und gar rückständigen Rußland — ausgebrochen war, glaubte die Welt, dies sei der Beginn der Weltrevolution. Kapitalistische Propaganda? Schließlich entartete die revolutionäre Bewegung in Rußland zum Sozialismus in einem Lande (Stalin, SU) und, statt der Weiterentwicklung aller möglichen revolutionären Bewegungen in den industriell am meisten entfalteten Industrienationen kamen die großen Gegenrevolutionen, in Deutschland und Italien zumal der Faschismus; in den Vereinigten Staaten Nordamerikas entwickelte sich im Namen der verlogenen Moral der protestantischen Ethik die Alleinherrschaft des Kapitals im hegemonialen Zugriff auf die ganze Welt, heute Globalisierung genannt.
Aber Deutschland, du bist der Weltgeschichte noch immer dein Bestes schuldig geblieben, was du je hervorgebracht hast! Entweder hat Goethe recht, der sagt, die Weltgeschichte sei nichts als ein fataler Sturz des Menschen vom Himmel durch die Welt zur Hölle oder Marx, der ausruft: Freiheit oder Weltgericht! Wie auch immer! Das Programm der Neuen Zeit, Novus ordo Saeculorum — von Joachim bis zu Marx, Lenin/Trotzki und Mao ist noch immer nicht eingelöst worden. Die kapitalistische Globalisierung ist eine historische Deviation, oder: die Summe aller historischen Fehlleistungen bisher. War das Mittelalter noch ein humanistisches Weltganzes wie die Renaissance auch, hat die bürgerliche Moderne sich aus der Dichotomie von Terrorismus/Humanismus noch nicht eindeutig herausentwickelt und erklärt. Alles deutet aber darauf hin, daß der Humanismus auf dem Wege zur neuen Globalisierung auf der Strecke bleibt.
Jede historische Bewegung, sei sie revolutionär genannt oder beliebig linear, läßt sich letztlich nur von ihrem Ende her, der kein Tod sein kann, definieren. Im übrigen trägt der Revolutionsbegriff die Antinomie in sich, bewegungsspezifisch doppelt gerichtet zu sein: Zum einen wendet er sich an Vergangengesetztes, wohin zurückzukehren sei, etwa die Rückkehr in die alte clandestine Gemeinschaft (vgl. K. Marx, Ethnologische Schriften), zum anderen wird ein Zukünftiges antizipiert, ein Reich, ein Weltreich ohne Ausbeutung, ohne Geld, ohne Klassenherrschaft, ohne Staat und ohne Kapital. Der Revolutionsbegriff spiegelt die gesamte Widersprüchlichkeit der Bürgerlichen Gesellschaft und der Geschichte wider, sozialistisch-materialistisch, theologisch-teleologisch gedacht oder pragmatisch materialistisch eindimensional als Globalisierung. Die wissenschaftlich technologische Revolution ohne soziale, politische und kulturelle ist im Grunde nichts als ein unendlicher Regreß.
Idee und Begriff der Revolution
Die existenzielle Wurzel der Revolution liegt in der unbestreitbaren Tatsache begründet, daß alle Lebewesen grundsäzlich leiden, der Mensch vielleicht am meisten (manche sagen, die Engel und die Götter litten noch viel mehr). Nach kommunistisch-materialistischem Selbstverständnis leiden die Menschen am meisten unter den Klassenverhältnissen, sowohl der kapitalistische Ausbeuter wie auch der ausgebeutete Arbeiter. Die Differenz von Lohnarbeit und Kapital sei quasi konstitutiv für alles Leiden in dieser Welt — aufhebbar nur durch die sozialistische Revolution, die ein- für allemal die Entfremdungsverhältnisse zu beseitigen habe: Den Staat, die kapitalistisch-bürgerliche Rechtsordnung, die Kirchen und die Klassenherrschaft, Ausbeutung und Unfreiheit usw. Wer hat sich je gefragt, wie unendlich langweilig ein sozialistisches Paradies sein müsse: nichts als kollektiv produzierende und konsumierende Arbeiter! Fast so schlimm wie Pol Pots tausendjähriges Totenreich von Bauern. Selbst die durchaus differenzierten „Paradiesvorstellungen“ eines Charles Fourier wirken letzlich fade: nichts als eine bürokratisch durchorganisierte Arbeits- und Liebeswelt! An einem gewissen Punkt schlägt die Lust wieder in Leid um. Die Jugend vergeht und mit ihr Schönheit und Liebeskraft. Der Tod bleibt als Stachel so beständig wie der Verfall der Natur. Selbst dann, wenn sich alle Zwistigkeiten unter den Menschen aufheben ließen, überdauerten den Ewigen Frieden die Angst vor Veränderung, Verlustängste. Aber die Geschichte als permanente Revolution ist ein realistisches Modell — freilich — quem ad finem? Jedenfalls ist der historisch-dialektische Materialismus eine große menschliche Anstrengung, das Leid aus der Welt zu schaffen — oder geht es nur um Macht, um die Diktatur des Proletariats als Vehikel anderer Machtinteressen?
Man könnte natürlich auch mutmaßen, daß Karl Marx eine Wiedergeburt des Mannes Moses gewesen sei, der, wie jener, die monokausale und monotheistische Dogmatik des absolutistischen Realitätsprinzips — Sonnengott = Sonnenkönig mit Hilfe der Leviten als sein neues Programm über das arme jüdische Volk gestülpt habe, um einen neuen Äon einzuläuten. Die Proletarier würden dann eben die Rolle des jüdischen Volkes in der Weltgeschichte einzunehmen haben. Aber das ist theologische Spekulation und gehört nicht hierher.
Nun ist das Leiden eine Wurzel der Religionen gleichermaßen, wobei die eine sagt, Leiden sei sinnvoll, denn diese Welt sei nichtig, die andere indessen, Leiden sei „aufhebbar“. Jedenfalls ist der Glaube eine ebenso starke Triebfeder revolutionärer Bewegungen wie der soziale, ökonomische oder politische Aspekt. In mancher Hinsicht ist der sozialistische Revolutionsbegriff jedenfalls säkulär, das heißt eine in die materielle Welt gefallene religiöse Idee. Jedenfalls ist es mit dem vom Kopfstand in den Beinstand gebrachten Denken oder der Kritik am Idealismus durch Marx/Engels und Co. noch nicht abgetan — was die neue Weltordnung im Hinblick auf die Permanenz des Leidens angeht.
Eine andere, nicht weniger bedeutsame Wurzel des Revolutionsbegriffs ist der Begriff des Krieges, sagt doch Michel Foucault, es führe eine dialektische Spur „vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte.“ Und ohne Zweifel sind Revolutionen und sogar Rebellionen mäeutische Instrumente und Verfahren auf dem Wege zu einer gemeinsamen Menschheitsgeschichte.
Die Idee der Revolution; insbesondere die Idee der sozialistischen Weltrevolution gibt der Sinn- und Richtungslosigkeit aller Kriege Sinn und Richtung — auf ein Ende des Krieges qua ewiger Friede — oder Ende der Welt als Katastrophe hin gerichtet.
Die zivile Ordnung ist im Grunde eine Schlachtordnung. „Wer hat den Krieg im Filigran des Friedens wahrgenommen“, fragt Foucault. Die Antwort wird leider immer wieder lauten müssen: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik — mit anderen Mitteln. Welche Politik braucht die Menschheit und von welchem Subjekt geführt, um „Nie wieder Krieg!“ zum kategorischen Imperativ zu machen?
Heute beherrschen Religionskriege, hegemoniale Machtkämpfe um Weltmarkt-Anteile, ideologische Konflikte, geopolitische Positionskämpfe und natürlich Kämpfe um Rohstoffe im wesentlichen die Weltpolitik. Von Klassenkämpfen und Revolten auf dem Weg zur Weltrevolution kann man ernsthaft jetzt nur subversiv-theoretisch reden.
Der Kampf der kurdischen PKK ist ein ethnischer Überlebenskampf gegen die türkische Diktatur, der genau so gut unter einem anderen Vorzeichen geführt werden könnte. Die Rebellionen in Asien und Mittelamerika, in Südamerika und in anderen Weltteilen haben mit der Idee der kommunistischen Weltrevolution überhaupt nichts mehr gemein. Phantasmatische Reminiszenzen der Roten Khmer oder des Leuchtenden Pfades gleichen eher Rückzugsgefechten als avantgardistischen Rebellionen. Wie heißt es so tragisch im Heldengesang der Verdammten dieser Erde: Auf zum letzten Gefecht! Das könnten die Bauern und Arbeiter auf der ganzen Welt singen, als Abgesang! — bevor sie durch Roboter ersetzt oder durch Sanierungsmaßnahmen marginalisiert worden sind.
Gibt es in der Geschichte nichts als einen permanenten Wechsel von Krieg und Frieden, wird im Schoße des Friedens schon wieder der nächste Krieg geboren? Ist die Idee der Weltrevolution nichts als die Große Mutter aller Kriege, die Permanenz aller Widersprüche, die nur verdrängt, verschoben oder sumblimiert werden?
Der Augenblick der Revolution
Das Ziel der Rebellion ist die Befreiung. Das Ziel der Revolution ist die Gründung der Freiheit.
Idealtypisch liegt der Augenblick der Revolution zwischen Rebellion, das heißt der Befreiung aus alter unerträglicher Herrschaft, da das intendierte Ganze zum Unwahren geworden, und dem wiederholten Versuch, dies Ganze der Freiheit erneut zu begründen. Das Ganze der Freiheit ist bekanntlich nur ideell unteilbar.
Der Augenblick ist nur als Synthesis zu begreifen: Hic Rhodos, hic salta! Der Augenblick der Revolution läßt sich gewissermaßen mit der Differenz des physiologischen Sehens und synoptischen, ja synkretistischen Schauens vergleichen. Im Sehen schlägt periodisch der Augendeckel — wie eine Guillotine — nieder. Die an sich gleitende Welt der Bilder als ein möglicher Film wird zerhackt in Momente, in Einzelaufnahmen, die menschliche Vorstellungs-, Einbildungs- und Nachbildungskraft indes schafft ein Ganzes, eben die laufenden Bilder, den Film oder eine kontingente Erzählung, ein Werk der Poesis, ein Kunstwerk! Der Augenblick der Revolution ist ein Schioboleth:
Wenn Revolten in Unheil, Zersplitterung, Verbrechen und unendlichen Regreß umschlagen, weil ihnen nicht auf dem Fuß die Revolution folgt, haben sie an sich keinen anderen Sinn als die Befreiung von unerträglichen Zwängen. So sagt man also von den 68ern mit Recht: Beautiful losers, denn ihrer Rebellion folgte keine Revolution, wenngleich das Allgemeine dieser Bewegung die Theorie der Subversion war und auch bleibt. Das sind wir alle, von Che bis zu Dutschke, unsere Generation, die man aber auch verheizt hat: Verlierer und Verlorene. Es ist fast eine Schande, überhaupt noch am Leben zu sein, wäre da nicht der Gedanke Arthur Köstlers und Trotzkis von der Permanenz der Revolution und vom Staffettenlauf der Subversion. Rebellionen können scheitern wie Revolutionen auch! Was aber immer bleibt, sind die Zeichen und Symbole im Leib des Unbewußten und im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Die Gefahr ist allerdings auch nicht zu bagatellisieren, daß genspezifische Manipulationen jede Spur von Revolte tilgen und damit auch historisches Bewußtsein schlechthin. Wir sind fast schon so weit. Was Camus noch mit Recht behaupten durfte, die conditio humana sine qua non sei die Kunst und die Revolte, scheint im schwarzen Loch zu verschwinden.
Die allgemeinste und abstrakteste Voraussetzung für die Bestimmung des Augenblicks der Revolution ist der verletzte Leib oder die Wunde: Der Mensch wird geboren als ein verletztes Wesen und zugleich begabt mit Sehnsucht nach Vollendung, nach einer für alle gültigen Heilung. Dies hat Brancusi so wunderbar in seinem Ei dargestellt — diese vollendete Form mit einer Narbe. Befreiung des leiblich und leibhaft Ganzen von den Wunden und Narben des Leidens ist auch ein wesentliches Motiv der Revolution. Die kapitalistische Produktionsweise hat den Leib in ein Ensemble von Körpern pervertiert, nicht zuletzt durch die Taylorisierung der Arbeitskraft. Auch dort, wo die tayloristische Arbeitsweise zugunsten einer autonomen Assemblyline (Volvo) abgeschafft worden ist, bleibt weltweit die Subsumtion des leiblich-wirklichen Menschen unter die Megamaschine der technokratisch-bürokratisch-politischen Gewalt bestehen, gleichgültig, ob nun die Guillotine nicht mehr exekutiert. Der elektrische Stuhl, die tödliche Giftspritze, die Bürokratisierung der Welt, der verwaltete Mensch, die Autobahn, der Atomstaat und die digitalisierte Mediatisierung sind schlimmer als alles zuvor. Und die Arbeit aller, der Herrscher wie der Beherrschten, hat von dionysischer Schöpfung nichts mehr an sich. Das Zukunftsbild der kapitalistischen Globalisierung ist ein katastrophal wachsender Terror und das Bild des Endes mit Schrecken — durch keinen Augenblick revolutionärer Machtergreifung getrübt.
Der Augenblick der Revolution zerfällt methodisch-methodologisch natürlich in verschiedene Momente: in die der Massenpsychologie, der politischökonomischen Voraussetzungen, der politologischen und geopolitischen Substrate, und sogar in solche spekulativer Theologie oder selbst Astrologie. Könnte der Augenblick der Revolution von einem Stab der Weltbesten im Bereich von Prognostik, Zukunftsforschung, Simulation und Pentagonstrategie bestimmt und auch in seinem weiteren Verlauf gefaßt werden? Wenn ja, dann läßt sich mit denselben Mitteln die Revolution auch verhindern oder in ihr Gegenteil verkehren. Der Augenblick der Revolution ist auch ein wesentliches Moment des Umgangs mit dem Zufall und der Wahrscheinlichkeit. Lassen sich Zufall und Schicksal je ganz aufheben?
Scheitert eine Regierungsform, ist an sich der Augenblick der Revolution da. Nicht erst seit der außerparlamentarischen Revolutionsbewegung dürfte allgemein bekannt sein, daß der Parlamentarismus und die demokratische Grundordnung der Gesellschaft per se kein Garant für eine revolutionäre Veränderung sein können. Der Augenblick des Umschlagens mag gekommen sein, und dennoch entsteht anderes als erwartet. Vielleicht ist der Mensch doch nicht Herr der Geschichte oder noch nicht. Jedenfalls ist der Augenblick der Revolution vorherbestimmt — nicht nur vom abzulösenden Regime und seiner Struktur, nein, alle historischen Momente wie Wünsche, Hoffnungen, Leidenschaften, Erwartungen usw. treten in diesem Augenblick aus der kollektiven Welt ins helle Tageslicht des Bewußtseins: Der Augenblick der Revolution ist schrecklich, aber er läutert, wie die antike Tragödie.
Marx faßt den Augenblick der Revolution bekanntlich so: Wenn die Differenz von Produktivkraftentfaltung und Produktionsverhältnissen zu groß geworden sei, käme es zu einer revolutionären Explosion. Mir ist dieses Modell zu mechanistisch, und die Weltgeschichte hat es im übrigen widerlegt. Carl Schmidt mit seiner Theorie des Partisanen bringt das Moment des tellurischen Charakters des Partisanen bei. Diese Theorie charakterisierte die Revolutionen bisher vielleicht genauer: Der kolonialisierende oder imperiale Eindringling treffe auf den organisierten Widerstand der Ansässigen, bodenständige Bauern zumeist, die sich gegen den Aggressor zur Wehr setzten.
Das starke Potential des nationalen und des heimatlichen Widerstandes, die wesentliche defensive tellurische Kraft der Patrioten verteidigt sich gegen einen fremden Eroberer. Aber sie muß sich mit der Aggressivität der internationalen kommunistischen Weltrevolution verbinden, um einen neuen Nomos der Erde zu verwirklichen. Ein solches globales Denken unter kommunistischem Vorzeichen ist heute nirgends in Sicht. Die Globalisierung findet ausschließlich unter kapitalistischen Vorzeichen statt. Der Nomos der Welt wird von der amerikanischen Hegemonie bestimmt, die mit der Vorherrschaft des Kapitalismus in eins gesetzt worden ist.
Sind denn nur die Figuren im großen barocken Welttheater vertauscht und die Kostüme gewechselt worden? Ist die Islamische Revolution ein Regreß oder ein Progreß? Trifft das Wiedererstarken des Imperialismus nach der fast vollzogenen Dekolonialisierung der Welt auf keine Revolutionen auslösende Kraft mehr? Auf jeden Fall ist die Mediatisierung des öffentlichen Raums eine neue Form des Imperialismus, eben nicht nur kulturell, sondern primär materiell. Sie geht der wirtschaftlichen Globalisierung nur voraus.
Die neue Weltordnung
Alles für uns und nichts für die anderen!
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die Welt neu geordnet werden. Winston Churchill hatte da eine ausgezeichnete Idee: „(...) die Welt sollte von den saturierten Nationen regiert werden, die nicht mehr begehren, als sie bereits besitzen. Läge die Regierung der Welt in den Händen hungriger Nationen, gäbe es fortwährend Gefahr (...)“. Wir können uns verhalten wie reiche Männer, die auf ihrem eigenen Boden in Frieden leben.
Die Saat scheint aufzugehen: Die reichen Männer der reichen Gesellschaften regieren — gemeinsam mit den reichen Männern der hungrigen Nationen. Die anderen werden gnadenlos unterdrückt. Und sie dienen schweigend und leiden.
Der große Mao hatte noch eine andere Idee von der neuen Weltordnung:
Wäre mir der Himmel ein Standort, ich zöge mein Schwert und schlüge dich in drei Stücke: eins als Geschenk für Europa; eins für Amerika; eins aber behaltend für China; und es würde Frieden beherrschen die Welt.
(Die Vorstellung eines neuen Nomos nach Mao, Gedicht Kunlun, Übersetzung Rolf Schneider)
Im Unterschied zur europäischen Weltrevolutionsidee, die auf das Ganze gerichtet war, beschränkt sich Maos Konzept auf eine Dreiteilung der Welt. Trotz Sinisierung des Marxismus besteht hier chinesisches Denken primär fort, eine andere Geschichtsauffassung, als sie der Westen hervorgebracht hat. In China heute bahnt sich eine Koexistenz in einem Lande von Sozialismus und Kapitalismus an: Der Sozialismus ist zwar Staatsreligion Nummer 1 geblieben, bei gleichzeitiger sanktionierter Lust an Bereicherung Privilegierter und ihrer Teilhabe am Weltreichtum im Club der Plutokraten.
Im Westen hat sich mit dem Ende der Wohlstandsallianz und mit dem Beginn des neuen imperialen Zeitalters der innere Klassenkrieg verschärft — objektiv, bei geschwundenem Klassenbewußtsein. Niemand vermag vorauszusagen, ob ein geschrumpftes Klassenbewußtsein nur ein vorübergehender Defekt sei, oder ein nicht wieder umkehrbarer Krankheitsverlauf. Sollte stimmen, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, hätten paradoxer Weise die Kapitalisten gewonnen; sollte indes es sich erweisen, daß das Bewußtsein das Sein bestimme, hätte der kommunistische Weltrevolutionsgedanke noch eine Chance.
Mit der Globalisierung der Wirtschaft hält die Dritte Welt in den reichen Nationen selbst Einzug; es wächst die Tendenz zu einer zweigeteilten Gesellschaft, in der weite Bereiche unwichtig werden, weil sie zur Bereicherung der Privilegierten unwichtig werden. Mehr denn je muß die Masse ideologisch und physisch kontrolliert werden und aller Organisations- und Kommunikationsmöglichkeiten, der Vorbedingungen für konstruktives Denken und Handeln, beraubt werden.
Europa befindet sich bewußtseinsspezifisch und entwicklungspolitisch heute an der vergleichbaren Stelle wie Amerika nach dem Bürgerkrieg und Rußland nach 1917. Europa befindet sich, im Verhältnis zu den USA, ja selbst zu Japan und China, politisch-historisch im Rückstand. Die alte Nationalstaaterei löst sich nur bittweise wenn überhaupt auf, ein „harmonisches“ Verhältnis von Zentralisierung und Region ist nicht in Sicht; die ökonomisch-politische Bedrohung auf dem Weltmarkt sowie geopolitisch ist steigend. Noch könnte Europa durch eine sozialistische Revolution seine Weltposition retten, denn nur eine solche könnte Europa vom Balkan bis zum Ural und vom Ural bis an die Küsten Englands und Irlands zusammenschweißen und als ein fortschrittliches Territorium legitimieren. Ansonsten entsteht nichts als ein bürokratisch verwaltetes zentral-dezentrales Territorium als Submarkt des Weltmarktes unter US-amerikanischer Hegemonie, bittweise versehen mit Teilhabe simulierter Macht der einen oder anderen, der Briten und Franzosen oder der Deutschen allein. Aber auch „gemischte Partien“ sind vorstellbar. Jedoch der Spielmeister bliebe immer ein anderer, niemals ein souveränes Volk, nicht einmal die eigene Regierung. Der einzige Souverän ist die kapitalistische Internationale oder die kosmische Supernationale, Hauptort Raumstation „Hans im Glück“. Wenn in naher Zukunft der Globalisierungsprozeß abgeschlossen sein sollte, werden nur noch zwei Agenten auf der Weltbühne agieren: die einsame und völlig entfremdete Masse und der Chor kapitalistischer Manager unter der Fuchtel wechselnder Dirigenten, die alle Abziehbilder von Tyrannen und Diktatoren sein werden: ein Panoptikum der Gewalt, abgetrennt von der Macht des Volkes, lauter kleine Hitlers und Mussolinis, und Stalins und Metaxis und und und.
Freilich ist auch ein langes Interregnum denkbar, wie Rußland es heute erlebt: die totale Mafiotisierung oder die Herrschaft des reinen Verbrechens, wie sie ja in Italien unter Andreotti fast schon Wirklichkeit war, allerdings noch unter dem Mäntelchen des Parlamentarismus und der zentralen Staatsreligion. Vergessen wir eines nicht: in Italien haben nur zwei Kräfte diesem Interregnum entgegengewirkt, und zwar die Masse der gläubigen Kommunisten und die Masse der gläubigen Katholiken, dort eben das Volk; aber keine Verfassung und auch kein republikanischer Geist.
Eine unheilige Allianz an der Macht ist heute in Rußland tätig: Die Herrschaft einer neuen, nicht-kriminellen, aber reaktionären Elite von Laien und orthodoxen Priestern aus der wiederauferstandenen orthodoxen Kirche und aus Resten der alten Staatsmacht, plus Relikten alter Nomenklatura und neuer dirigistischer Manipulation, minus Altkommunisten aber plus Ersatzheer eines dahinvegetierenden russischen Volkes ohne Glauben, ohne Zukunft, verelendet und abgestumpft. Daraus könnte der neue Supra-National-Staat entstehen. Und natürlich mit den unterprivilegierten Volksmassen der alten Roten Armee - als riesiges Ersatzheer für die Bedürfnisbefriedigung der neuen Kapitalisten und ihrer Klientel: Arbeitskräfte für die Fabriken, Kriege, Konsumsteuerung, Prostitution im einfachen Wortsinn; usw.
In den USA hat die Clinton-Administration die gesamte Erledigung aller Fragen der sozialstaatlichen Praxis, vom welfare-check bis zur Frage der Erziehung, der Schwangerschaftsunterbrechung, usw. an die Martin Lockhead Co. übergeben, der Welten größte Waffenschmiede. Dort werden mit ihren nicht mehr für die Kriegsproduktion ausgelasteten Rechnern die neuen Verteilungsungerechtigkeiten betrieben und an der Armut auch noch verdient.
Dies könnte in Europa im übrigen demnächst auch der Fall sein, sollten Kohl und die groß-kleinbürgerliche christlich-soziale Union an der Macht bleiben. Ausschließlich eine Übergangsregierung aus Grün, Rosa und Halbrot ließe anderes wenigstens erhoffen, wenn schon keine Revolution.
Ein reaktionärer Staat wie das neue Rußland wäre gewiß in der EU und in der NATO willkommen, vorausgesetzt, die Amerikaner erkämpften ihren ausschließlichen Hegemonieanspruch in Europa. Ja dann hätten sie auch nichts dagegen, daß Europa auch einig mit Rußland sei.
Welche Rolle überhaupt die Staaten nach Auflösung der Nationalstaaten und ihrer Einrichtungen (z.B. Volksheer) im kapitalistischen Globus spielen werden, ist nicht so leicht vorherzusagen. Leider fehlt bis heute eine Theorie des Staates nach Hegel. Marx ist uns eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schuldig geblieben. Sie existiert bekanntlich nur als Skizze und ist weit ab von einem theoretischen Entwurf für einen neuen Staat unter diesen neuen Prämissen. Und Lenins Staat und Revolution ist in seiner Grundthese vom Absterben des Staates zumindest partiell wiederlegt worden. Eine zukünftige kapitalistische Weltregierung ohne Staat werde möglich, dann indes doch nicht als Resultat der sozialistischen Revolution.
Die alten Nationalstaaten sind zwar in ihrem Verhältnis zum Kapital heute im Absterben begriffen, indes entstehen neue mit den neuen Submärkten des Weltmarktes. Es wird wahrscheinlich in naher Zukunft nur noch fünf große geo- und machtpolitische Territorien mit Zentren und Peripherien geben, der Rest wird als quantite negligeable eliminiert. Auch ein Welt-Herrschaftszentrum im Weltall ist denkbar und eine Weltregierung dort — die über eine sozial verkommende und ökologisch nur noch auf Sparflamme dahindümpelnde Rest-Welt verfügt. Dies wäre allerdings das wirkliche Ende mit Schrecken.
Wie sehen auf dem Wege zum ganzen Unwahren, auf dem Wege zur kapitalistischen Globalisierung die Verkehrsverhältnisse der Weltpolitik, der Staaten und Staatengemeinschaften im Blick auf die Kapital- und Ökointeressen, auf nationale Souveränitätsansprüche und Hegemoniebestrebungen aus? Wir wissen es nicht genau, da uns die Daten nicht zur Verfügung stehen, aber wir können einige spekulative Thesen aufstellen:
Die Mittel kapitalistischer Globalisierung sind noch nicht relevant und effizient genug. Die totale Mediatisierung der Information ohne reziproke Kommunikation erzeugt mehr Isolation als qualitativen Austausch. Information ohne Kommunikation = Isolation, auch für die Medienbeherrscher selbst. Die Transportverhältnisse werden immer katastrophaler, von Mitwelt läßt sich recht eigentlich schon nicht mehr sprechen. Geblieben ist von allem nur noch Schlachtordnung und Strategie unter changierenden Hegemonieansprüchen. Und Macht- und Gewaltlobbies. Die Produktion von Gütern wird immer umweltunverträglicher, und von einer Natur als sinnvoller Mitwelt läßt sich nur noch im emphatischen Sinn (die Grünen) sprechen. Kultur gibt es keine mehr, geschweige eine Weltkultur. Sie ist nichts als ein Teil der globalen Vergnügungsindustrien und der Bewußtseins-Fabriken unter der Fuchtel der selbsterklärten Experten — ein Panoptikum und ein Big-Mac-Land, eine Kette von Werbespots und ein fortlaufender, ununterbrochener Pornofilm oder die ewige Wiederholung einiger bekannter Grundmuster aus der großen Zeit der Stile. Im besten Fall ist der Kunstbetrieb eine changierende und äußerst prostitutive Submarkt-Situation der Manieren und Manierismen, exekutiert von Profitinteressen, Lobbymakers und den Rollenspielern, den Künstlern selbst, die wie Marktstrategen und Samurais oder Renaissance-Colleoni agieren.
Die Kultur ist nichts als ein Simulacrum unter der Ägide nekrophiler Macht- und Kapitalinteressen.
Das alte Machtverhältnis Lohnarbeit und Kapital existiert, fest im Griff der Kapitalisten, dem Sozialstaat und seinen Einrichtungen mehr und mehr entgleitend, als differenzlose Masse von Anbietern und Nachfragern jenseits von Klassenlage, Herkunft, Bewußtsein und Stand sowie Standort: Eine Masse von zum Beispiel hoch ausgebildeten Fachleuten für EDV, Kommunikation oder Research/Design aus Indien etwa steht überall im Westen konkurrenzlos billig zur Verfügung. Räumliche und kulturelle Distanzen spielen keine Rolle, — dank der globalen Mediatisierung nach digitalem Muster. Zugleich: Kastenbindungen lösen sich zugunsten von Klassenkämpfen auf, zum Beispiel zwischen den Unberührbaren und den Brahmanen. Anything goes! Im schwarzen Sack des Posthistoir.
Mit der neuen, digitalisierten Kommunikation, die recht eigentlich nichts als ein mixtum compositum aus Transport und Verkehr plus High Tech ist, werden räumlich-zeitliche Differenzen so irrelevant wie die „Natursprachen“ der neuen whitecolour-workers oder ihre kulturelle Herkunft. Freilich sind da die Reaktionen auf diese Globalisierung schon überall mächtig in Sicht, insbesondere der neue Islamische Fundamentalismus. Das ist nicht nur ein heart of darkness unter neu patriarchalen theokratischen Ägiden, das ist wirkliche und sehr gefährliche Reaktion auf die umfassend pervertierten Verhältnisse im Westen und seine Hegemonieansprüche.
Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinausläuft, daß man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bißchen genauer hinsehen. Was das Ganze erträglich macht, ist nur die Idee. Eine Idee dahinter: kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee — etwas, woran man sich halten und vor dem man sich verneigen und dem man Opfer bringen kann.
(Joseph Conrad, Herz der Finsternis)
Der Westen hat — nach dem Tod Gottes im 19. Jahrhundert — entweder den Glauben an sich selbst verloren oder ihn, wie in den USA, zur höchsten Kommandosache erklärt, zur Staatsreligion. Nur aus diesem und keinem anderen Grund werden große pseudoreligiöse Bewegungen wie die Scientologen in Europa und den USA so unterschiedlich beurteilt: Die vielen unterschiedlichen Religionen, die es in den USA von Anfang an gegeben hat, sind dort längst zur Staatsreligion zusammengeschweißt, das heißt, sie wirken als durchaus willkommenes Steuerinstrument wie die Armut auch oder der Sport. In Europa ist das noch anders, auch in der Welt des Islam - noch! Immerhin: man kann von der Religion denken, wie man will; sie ist an sich keine Angelegenheit der Vernunft, sondern eben des Glaubens und damit der humanistischen Idee der Freiheit verbunden. Wird sie nur noch eine Angelegenheit der Administration und der Staatsmache, also angewandte Ideologie, verliert sie ihre besten Klangfarben: Sie wird zu einer Simulation und zu einem Moment der Massenmanipulation.
Wirkliche Ideen, Ideenvielfalt und ihre Verwirklichungsmöglichkeit, Ideale frei von ideologischen Bindungen sind in einem Land und in den Völkern ein sehr gutes Anzeichen von wirklicher Kultur, von Humanismus und Selbstbewußtsein.
Die wahre Religion, nicht nur die Kunstreligion, kann und darf nicht nur ein Instrument politischer Herrschaft sein! Ist sie indes nichts als ihre säkularisierte Gestalt qua Diamat, wird einer solchen neuen Formation kein langes Leben beschieden sein.
Die Sowjetunion und ihre Satelliten sind nicht zuletzt auch daran zugrunde gegangen, daß sie der Religion nicht wirklich einen Platz in ihrer politisch-kulturellen Mitte einräumen konnten: ihre Gewalt war eben selbst religiöser Natur; sie selbst war und ist — als roher Kommunismus — eine säkuläre religiöse Erscheinung und als solche ein für allemal im Verschwinden begriffen. Soll der marxistische Kommunismus in Zukunft als eine der wesentlichen Grundlagen der möglichen Weltrevolution noch Chancen haben, dann bestimmt nicht als scientistischer Atheismus oder als Religionsersatz. Heute ist der wissenschaftliche Kommunismus nur noch Opium für das Volk oder Entsorgungsschlacke auf dem Misthaufen der Geschichte.
Revolution und Geschichte
Die geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins inkludieren eine gewaltige Sprengkraft, auch eine als Kritik der Eindimensionalität des historisch-dialektischen Materialismus, der Orthodoxie und der Gewalt stalinistischer Diktatur. Bekanntlich war Benjamin auch in Moskau; sein Tagebuch aus der Zeit kurz vor den Schauprozessen ist noch immer ein erschütterndes Dokument des Verrats an der Revolution und aller humanistischen Ideale der revolutionären Avantgarde.
Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man „historischen Materialismus“ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.
(Walter Benjamin, 1. These)
Entschlüsselt man, was der Autor hier als Sach- bzw. Wahrheitsgehalt der Geschichte, das heißt, der neu durch den Materialismus gemachten und gemessenen, in Rußland nach 1917 metaphorisch-kritisch zusammengeballt hat, entschließt diese These:
Neu, quasi als vermerkbarer Bruch in der Geschichte, ist das durchgängig mechanistische Prinzip ihrer Deutung, ihre Beherrschbarkeit durch Zwerge und ihre Gestalt als Panoptikum (Spiegel, Widerspiegelungstheorie). Man muß sich nun die Differenz der Hegel- schen und Marxschen Dialektik ansehen, um zu begreifen, was die mechanistische Deutung des Weltganzen ist. Freilich hat der mechanistische Realitäts- und Geschichtsbegriff viele Wurzeln, und daß der Mensch sein eigener Zwerg sei, wissen wir nicht erst seit Hitler und Stalin. Wichtig an Benjamins erster These ist auch noch die Differenz von Theologie als ancilla und kommunistischer Ideologie als Staatsreligion, im besonderen betreffs Rußland.
Versuchen wir heute — in diesem wirkungslosen Posthistoir oder in einer Postmoderne — wieder Fuß zu fassen, müssen wir jedenfalls ein Verhältnis zur Vergangenheit finden, was ausschließlich, meine ich, durch revolutionäres Denken und Handeln möglich wird, durch ein Agieren also, das nicht nur vergangensetzt, sondern zugleich auch die Zukunft entwerfen muß und dabei dies ganze Unwahre der Gegenwart kritisch hinterfragt und distanziert: Stellt man sich auf den Standpunkt, daß unserer Erbschaft der Zeit kein Testament überantwortet sei, wird man im relativen Nichts herumtaumeln. Wer indessen die Revolutionen als großen Auftrag und als Erbe anzusehen bereit ist, kann sich nicht damit begnügen wollen, an ihnen bloß herumzukritteln. Kritik der Revolutionen ist mehr als notwendig, aber das Festhalten am permanenten Geist ihrer Geschichtlichkeit gleichermaßen. Das Wesen der Kritik ist Teilhabe, Anteilnahme und der brennende Wunsch nach Veränderung. Träge und selbstgefällige, selbstgenügsame Singles und andere Entfremdete werden daran keinen Gefallen finden.
Die Prämisse bestimmter Einsichten ist immer auch eine pure Angelegenheit des Glaubens und vorab nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zu meinen, daß der Kommunismus besser sei als der Kapitalismus, ist nicht nur eine Sache der Klassenlagen. Man muß schon die ganze Freiheit wollen und sie, unteilbar, mit allen ausnahmslos genießen wollen, um Kommunist zu sein. Post festum träten dann noch wissenschaftliche Beweise hinzu, um zu bedeuten, was die bessere Verfassung einer Gesellschaftsordnung sei, aber der Grund ist immer religiöser Natur. Weder die Kunst noch die Wissenschaft können Berge versetzen, allein der Glaube kann es; und der Geist der Revolution ist vorab ein sehr gläubiger. Eine Zeit wie die heutige, jedenfalls im Westen, wird keine revolutionäre Kraft zeigen, denn sie hat sich mit allem abgefunden, was grundsätzlich schlecht ist. Vielleicht müssen wir alle viel ärmer werden, materiell und im Geiste, um wieder revolutionär zu wünschen. So sind wir mit unserm Unglück nichts als zufrieden. Wir wohlstandsverwahrlosten Demokratie-Sklaven fürchten uns vor der geringsten Veränderung. Das ist der Hauptgrund dafür, daß wir in diesen schrecklichen Hiatus hineingeraten sind: objektiv spricht alles für die Notwendigkeit der Revolution heute, aber niemand will sie, vor allem das Volk nicht. Riefe man ihm wieder zu, ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten, es würde nur trübe lächeln. Die Leute identifizieren sich geradezu mit ihren Ketten, zumal sie den Anschein haben, aus Gold zu sein, aber sie sind im besten Fall aus Stahl.
Vom revolutionären Zeit- und Weltgeist
In seinem Wesen ist der Mensch bestimmt durch seine
- Vorgeburtlichkeit
- Geburtlichkeit und schließlich
- Sterblichkeit.
Diese drei großen Tore seiner Erfahrenheit und Erfahrbarkeit bilden gemeinsam mit dem Wissen um die Grunderfahrung des Leides sein Streben nach immer neuer Veränderung aus: Er versucht in periodischen Abständen, individuell oder kollektiv, neue und grundlegende Ordnungen zu etablieren, um sein Streben nach Glück auf Dauer zu stellen und die Erfahrenheit des Leids in der Welt aufzuheben. Die alt- und neutestamentarischen Religionen haben das Leiden für ewig erklärt und damit die Menschen unterjocht. Wen wundert es, daß die meisten Revolutionen und Konterrevolutionen aus diesem Schoße kommen. Freilich sind sie und ihre Exegeten immer wieder daran, Versprochenes und Geoffenbartes einzulösen, beziehungsweise hart einzufordern, was dann zumeist zu schrecklichen Religionskriegen führt, wie um Jerusalem etwa oder um Rom, Byzanz oder Moskau. Monotheistischpatriarchale Lehren brauchen ein Zentrum und diesem setzt sich ein anderes entgegen: Der Krieg zwischen beiden ist auf Dauer unvermeidlich. Hier sind auch alle späteren Formen durchgepaust wie etwa der Kampf heute zwischen Weltzentren und Peripherien. Nur in einer vollkommen dezentralen Welt, stammesgemeinschaftlich strukturiert und staatenlos, könnte Weltkrieg vermieden werden. Es gehört auch zur Erfahrenheit der Moderne, daß politisch organisierte Massen, auch dort, wo sie monotheistisch zentralisierte Gebilde ideologisch säkularisiert betreiben, in zunehmendem Maß auf immer größere und schrecklichere Weltkriege mit offenem Visier zugehen. Lenin hat zurecht vorausgesehen, daß das 20. Jahrhundert eines der Kriege sei, vom 21. Jahrhundert wird man sagen, es werde das Jahrhundert der Endkriege der drei großen monotheistischen Religionen gewesen sein, die in diesem Krieg alle untergehen werden. Und auf den Trümmern dieser Kriege wird sich der kapitalistische Materialismus seinen Weg zur endgültigen Globalisierung und Kosmisierung bahnen, wenn nicht, ja wenn nicht ... Wie schrecklich! Keine negative Utopie reicht aus, das furchtbare und unmenschliche Bild einer solchen Zukunft auszumalen, weder Orwell noch Aitmatow.
Zur Eigentümlichkeit der menschlichen Existenz gehört die Tatsache, daß sie am Vergangenen eifersüchtig klebt, und zwar in der jeweils hegemonial dominanten Interpretationsweise der nur den Herrschenden eigenen Tradition, während sie auf das Zukünftige wenig neidlos hinblickt. Damit möchte auch begründet sein, daß die Väter- und Müttergeneration von heute, trotz anderslautenden Beteuerungen, ihren Kindern ökologische und psychologische Wüsten hinterläßt. Es schwinge, sagt Walter Benjamin in seiner zweiten geschichtsphilosophischen These, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Wie kann eine Generation, die so grundsätzlich auf Erlösung verzichtet, ihren Kindern anderes denn Verwüstungen hinterlassen.
Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich so: Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selbst ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? Haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialismus weiß darum.
(Walter Benjamin, 2. geschichtsphilosophische These)
Ob seiner trinitarischen Pfortenexistenz, ob seiner Leidenserfahrenheit, ob seines Glückstrebens, ob seiner Heilserwartung ist das menschliche Denken als tatensetzendes immer darauf ausgerichtet, einen neuen Anfang zu machen — novus ordo saeculorum. Das ist der Geist der Revolution! Indessen inkludiert der an sich nach vorne gerichtete Revolutionsblick immer zugleich auch die Konterrevolution, denn der Revolutionsbegriff ist doppelt gerichtet: auf Vergangenes wie auf Zukünftiges gleichermaßen. Das macht ihn ja so schrecklich und für die wenigsten verständlich. Vielleicht müßten wir einen Revolutionsbegriff entwickeln, der nur Zukünftiges meint, aber ich weiß nicht, ob sich Zukünftiges je von Vergangenem wird abtrennen lassen. Es gehört auch zur Tendenz kapitalistischer Globalisierung, alles Vergangene als ein für allemal Vergangenes abzustellen und darin liegt auch ein großes Verhängnis!
Taugt der Revolutionsbegriff überhaupt als Erklärungsmodell der Geschichte?
Alle Revolutionen in der Menschheitsgeschichte sind als Zentralsonnen zu begreifen, von denen der energetische Impuls ausgeht, der nicht nur den sozialen Körper der neuen Geschichte, das Volk, zu gebären und zu formieren hat. Das Volk ist der neue Souverän, das neue Subjekt der Geschichte, ohne Geburtswehen der Revolutionen undenkbar. Freilich hat die Gegenreaktion auf die Revolutionen aus dem Volk wieder das traurige Antlitz der einsamen Masse hervorgebracht, das ein Hohn und eine Fratze ist, ein Hohn auf die mögliche neue Menschheit und die Fratze des Humanen. So wird es zur Aufgabe der nächsten Revolution, aus den Menschenmassen wieder Menschen zu machen, was ohne die Aufhebung des Kapitals und die Transformation des Krieges in den Weltfrieden undenkbar ist. Die Mittel einer solchen Revolution stammen zum Großteil gewiß aus der Produktionskiste des Kapitalismus, aber bestimmte Dinge werden aus anderen Epochen vorab besser zur Erreichung geeigneter Ziele nutzbar sein, wie etwa die Erzeugung von Lebensmitteln durch Bauern und nicht durch Maschinen. Das harmonische Verhältnis von Hand-, Kopf-und Fußarbeit wird, wie der Übergang zur Teilung der Arbeit, neu zu definieren sein. Dabei werden sowohl Weltzeit wie auch Welt-Raum anders als heute ins politisch-ökonomisch-kulturelle Kalkül zu ziehen sein.
Ein Ziel der Weltrevolution muß die Rückführung der Zeit auf ein menschliches Maß sein, desgleichen die Enträumlichung der Zeit. Solange diese Welt nichts als ein toter Gegenstand unter der taktischen Fuchtel der Diktatoren und ihres totalitären Anspruchs ist, wird sie nekrophil bleiben. Solange der Weltmarkt nichts als der Austausch lebendiger Arbeit gegen totes Kapital und tote Dinge ist, beherrscht von der sogenannten Bedürfnisbefriedigung nach mechanistischen Prinzipien, bleibt er die Prostitution aller Agenten.
Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. — Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im 20. Jahrhundert noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt, nicht zu halten ist.
Walter Benjamins achte These ruhte noch ungedruckt mit dem gesamten Manuskript Über den Begriff der Geschichte in seiner Aktentasche, die er auf der Flucht vor nazistischer Verfolgung von Paris zur spanischen Grenze bei sich getragen hatte. Er selbst weilte dann sehr bald schon nicht mehr unter den Lebenden, aber seine Manuskripte wurden auf wundersame Weise gerettet.
Der Ausnahmezustand ist die Revolution, die Sache selbst, von der her die Menschheitsgeschichte neu zu denken sei:
Der Ursprung ist das Ziel
Von allen Revolutionen bisher, im besondern von der großen russischen Oktoberrevolution wird man sagen müssen, sie hätten die ihnen und ihrem Geist entsprechende Institution nicht gefunden. Ist deshalb der Begriff der Revolution oder der der Weltrevolution ad acta zu legen?
Der Mensch, dieses dialektische Phänomen, ist gezwungen, ständig in Bewegung zu sein (...). Der Mensch kann also nie einen endgültigen Ruheplatz finden und seine Wohnstatt bei Gott aufschlagen. Wie schändlich sind also alle festen Maßstäbe. Wer kann je einen Maßstab festsetzen? Der Mensch ist eine Wahl, ein Kampf, ein ständiges Werden. Er ist eine unendliche Migration, eine Migration innerhalb seiner selbst, von Staub und Asche zu Gott. Er ist ein Wanderer innerhalb seiner eigenen Seele.
(Ali Shariati)
Die Geschichte ist weder leer noch je vorüber, solange der Mensch handelt und sein Handeln selbst verantwortet. Gerade das Wissen, daß er leidet wie alle Kreatur und daß er ständig voranschreiten muß, aufrechten Ganges und mit der Sonne zugewandtem Gesicht, verpflichtet ihn zu allen Errungenschaften seiner gesamten Tradition, verpflichtet ihn aber auch, gewaltsam jetzt zu sagen, und sich, sollte man ihn marginalisieren wollen, gewaltsam in dieses blinde Kontinuum Geschichte hineinzusprengen: Dies ist das Recht des abgelegten und verwaisten Kindes, dies ist die Legalität der Revolution.
Dieser Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat. In Zeiten des Interregnums gelte, was ein flämischer Mönch im 12. Jahrhundert gedacht hat:
Es ist (...) eine Quelle großer Tugend für den erfahrenen Geist, Stück für Stück zu lernen, sich hinsichtlich der sichtbaren und vergänglichen Dinge zu ändern, so daß er später in der Lage und fähig sein kann, sie völlig hinter sich zu lassen. Derjenige, der sein Heimatland süß findet, ist noch ein schwacher Anfänger: derjenige, für den jedes Stück Erdkrume wie sein eigenes heimisches ist, ist bereits stark; vollkommen aber ist derjenige, für den die ganze Welt Fremde ist. Die zarte Seele hat ihre Liebe fest in einer bestimmten Stelle der Welt verankert; die starke Persönlichkeit hat ihre Liebe auf alle Regionen ausgedehnt; der vollkommene Mensch hat die seine ausgelöscht.
Der Geist der Revolution ist nicht verlorengegangen, ihre Spur verläuft in der kollektiven Phantasie der Menschheit. Davon weiß vorab der Dichter zu singen. Die Poesis und nicht die Ökonomie ist der Uterus prometheischer Veränderung. Die kommunistische Kritik der kapitalistischen Verhältnisse muß bestehen bleiben, aber sie soll sich mit dem poetischen Weltentwurf verbinden, der per se poesis und nicht oikonomia ist.
Die wirtschaftliche Globalisierung und der scheinbare Sieg des Kapitalismus möchten die Sache des Kommunismus, die Sache selbst und ihre Geschichte, ad acta legen, indessen bleibt der Gedanke der Subversion und der Revolution solange aktuell, solange die Menschheit in gedemütigten, geknechteten und unfreien Verhältnissen lebt, solange der Mensch ein verlassenes und verächtliches Wesen ist. Alle Verhältnisse sind umzuwerfen, die die dionysisch schöpferische Arbeit des Menschen in lohnabhängige und kapitalbestimmte Sklaventätigkeit verkehren — dies ist der kategorische Imperativ des Kommunismus, der erst durch seine Verwirklichung aufzuheben ist.
Nec/nec
nicht hammer und nicht amboßauch kein herr und nie knechtein krieger jedoch und ein pazifistgehendaufrecht in die schlachtder lebenden opfer wie die racheder toten fürchtendimmer voranüber die schatten hinausauf dich zuzur rückkehr vom andern bestimmtderart dämon den liebendenwie botschafter allerverkündenddie lustvolle zeugung der welt;vertrauter des seins wie des nichtseinspilger der kabbalaunterwegs im labyrinth derkombinationvermeldend den bewundertenwas von den begehrendenund den begehrendenwas von den bewunderten kommtder einen geschenke und tributeder anderen ermessenund vergebung der tribute;über diesen bericht vom verlaufsteht keine andere nachricht