Offen für die besten Argumente?
Die Ende Jänner abgehaltenen Wahlen im Irak sollen ausschlaggebend sein für die Bildung eines Übergangsparlaments. Dieses Parlament hat die Aufgabe eine Übergangsregierung zu wählen und eine ständige Verfassung für das Land zu entwerfen. Danach soll über den Verfassungsentwurf eine Volksabstimmung abgehalten werden. Anschließend wird auf der Grundlage der neuen ständigen Verfassung bis Ende Dezember 2005 ein neues Parlament und eine neue Regierung gebildet.
Die Gewinnerin der Wahl ist die schiitisch dominierte Vereinigte Irakische Allianz, die 140 Mandate im Parlament errungen hat. Die KurdInnen wurden mit 75 Parlamentssitzen zweitstärkste Partei, gefolgt von der Partei des Ex-Premierministers Ayad Alawi, die 40 Mandate im Parlament erkämpfte.
Wer von diesen drei politischen Kräften mit wem koalieren wird, ist noch nicht klar. Obwohl es derzeit Verhandlungen zwischen den säkularen KurdInnen und den religiösen Schiiten gibt, wollen Letztere aber noch nicht die kurdischen Forderungen im Detail besprechen, nämlich den Föderalismus, den Anschluss der Provinz Kirkuk an die kurdische Region, Erdölanteile und die weitere Existenz der kurdischen Peschmergas, der paramilitärischen Kraft der kurdischen Parteien.
Auch eine Koalition zwischen den Kurden und Ayad Alawi würde im Parlament über keine Mehrheit verfügen. Aber falls sich Schiiten und die Gruppe um Alawi einigen, dürften die Kurden nicht mehr mit der Realisierung ihrer Forderungen rechnen! Und auch wenn die kurdischen Parteien Teil einer Koalition werden sollten, kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden, dass die Versprechen gegenüber den Kurden gebrochen werden.
Zusätzlich gibt es weitere Konfliktthemen, die die Arbeit eines funktionierenden Parlaments erschweren, wie auf der einen Seite der Schutz der Menschen- und Frauenrechte, und auf der anderen Seite die Frage des Islams als eine Quelle oder als einzige Quelle der Gesetzgebung, wie es schiitische Gruppierungen bevorzugen würden. Ob es zur Bildung einer reibungslosen Koalition kommt, die bis Mitte August 2005 — dem Fristende für die Erstellung eines Verfassungsentwurfs — alle diese Probleme bewältigt, ist fraglich.
Abgesehen von der miserablen sozialen und wirtschaftlichen Lage der irakischen Bevölkerung, hat der so genannte „Widerstand“ seine Terrorakte und Anschläge nach den Wahlen intensiviert. Der sich vor allem aus ehemaligen Ba’thisten und sunnitischen Islamisten rekrutierende „Widerstand“ hat in den sunnitischen Regionen mit Boykottaufrufen und Terrordrohungen die meisten Menschen dazu veranlasst, sich von den Wahlurnen fernzuhalten. „In der neuen irakischen Nationalversammlung werden die Sunniten, die einst den ba’athistischen Staatsapparat stützten, kaum vertreten sein. Offenbar wiederholt sich im Irak die zuvor in Algerien gemachte Erfahrung: je mehr sich Untergrundskämpfer isolieren, desto brutaler werden die Anschläge, und sie richten sich zunehmend gegen unbeteiligte Zivilisten.“ (Von der Osten-Sacken, Jungle World 7/05)
Die Frage nach der Legitimität
Auf die Frage, wie können alle BürgerInnen an der Ausübung der Macht mitwirken, hat der Soziologe Dahrendorf geantwortet: Die Demokratie ist die Stimme des Volkes, das Institutionen schafft, welche die Regierung kontrollieren und ihre gewaltfreie Ablösung ermöglichen. In diesem Sinn ist der „demos“, der Souverän, der den demokratischen Institutionen Legitimation verleiht.
Nicht die Demokratie, sondern die Wahlen sind die Stimme der Bevölkerung, wenn auch manchmal unvollkommen und nicht einwandfrei, weil der Demos nicht immer, auch nicht geschlossen in Erscheinung tritt. Das Volk drückt seinen Willen vor allem nur in Wahlen aus, deshalb sind nur die Gewählten in erster Linie für die Durchsetzung demokratischer Maßnahmen verantwortlich.
Was die Wahldemokratie betrifft, kommentiert der Demokratietheoretiker Sartori wie folgt: Wahlen setzen keine Programme in Kraft, sondern entscheiden, wer das tun wird. Wahlen entscheiden keine Sachprobleme, sondern sie entscheiden, wer sie entscheidet.
Wenn wir die Aussage von Sartori in Betracht ziehen, dann sind die Wahlen nichts anderes als eine Lizenz oder Genehmigung und das wird von der Einschätzung der liberalen Auffassung der Demokratie durch Jürgen Habermas bestätigt: „Wahlergebnisse sind eine Lizenz für die Übernahme der Regierungsmacht, während die Regierung vor Öffentlichkeit und Parlament den Gebrauch dieser Macht rechtfertigen muss. “ (Habermas, S. 289)
Für das irakische Volk sind die Erklärungen von Sartori zutreffend. Die verschiedenen Parteiprogramme sind von den Parteien gefertigt und festgelegt worden. Auch die Entscheidung über Sachprobleme ist Sache der Parteien und ihrer Abgeordneten in der irakischen Nationalversammlung und in der Regierung. Alles was im Regierungs- und Parlamentsbereich diskutiert und darüber entschieden wird, gehört den Parteien, weil sich die verschiedenen religiösen und ethnischen Parteien im heutigen Irak für die Avantgarde ihrer Gruppierungen halten.
Noch dazu hatten die WählerInnen nicht einmal die Möglichkeit zu wissen, wer die Programme dann in Kraft setzt und wer über Sachprobleme entscheidet, weil in den meisten Fällen (außer bei der Wahl von DirektkandidatInnen) handelte sich um geschlossene Parteilisten!
Die meisten sunnitischen Gruppierungen haben sich an den Wahlen nicht beteiligt, da sie diese für illegal und nicht legitim halten. Der einzige Faktor, der den stattgefundenen Wahlen ihre Legitimität verleiht, ist gemessen nach ihrer Stärke in der Nationalversammlung die Kurdische Einheitsliste. Daher wird jeder Versuch zur Ablehnung der kurdischen Forderungen den Mangel an Legitimität zur Folge haben.
Die bloße Einführung bestimmter demokratischer Standards, wie die Ende Jänner abgehaltenen Wahlen, genügen nicht um den heutigen Irak in Richtung Demokratie zu führen, wenn die Gewählten nicht dazu fähig sind, das Land unter Kontrolle zu halten und noch dazu wenn ihre Legitimität angefochten wird.
In seinem Artikel „Legitimität und Wahlen“ hält der Soziologe Ralf Dahrendorf eine formale Mehrheit bei einer legalen Wahl für bedeutungslos, falls die Position der sunnitischen Moslems und der Kurden nicht ausdrücklich anerkannt wird. Die Wahlen allein garantieren keine Legitimität. Zwar sind Wahlen eine notwendige Bedingung für die Legitimität, sie genügen aber nicht, diese zu gewährleisten. Also ist Legitimität mehr als Legalität. Sie beruht auf dem, was die betreffenden Menschen für real halten. Eine Grundbedingung wäre das Ende des gewalttätigen Widerstands oder die Verhinderung einer drohenden Abspaltung. Denn ohne Legitimität kann es keine Stabilität in einem politischen System geben. In der Verfassung muss allen Bevölkerungsgruppen (wie TurkmenInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen, ...) ein Platz in den politischen Institutionen des Landes garantiert werden.
Solange die Rechte der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in der Verfassung nicht garantiert sind und in der Tat nicht realisiert werden, kann nicht von einer Demokratisierung des Irak gesprochen werden. Die irakische Gesellschaft ist eine multi-ethnische und multi-kulturelle Gesellschaft und diese Tatsache muss anerkannt werden.
Zwar gibt es verschiedene Wege um Demokratisierung, Konfliktlösung und Friedenssicherung in geteilten Gesellschaften wie dem Irak zu erreichen — wie Föderalismus, Konkordanz, kommunale Repräsentation, kulturelle Autonomie. Das alles wäre für die diskriminierten Minderheiten im Irak wünschenswert, aber für die — ehemaligen oder aktuellen — arabischen Machthaber in Bagdad, egal ob säkular oder religiös, wird dies als Eindringen in ihrer Machtsphäre betrachtet.
Vor der Verabschiedung der irakischen Ubergangsverfassung bis zum heutigen Tag sind irakische PolitikerInnen, Rechtsgelehrte und Rechtsexperten immer wieder damit beschäftigt, Verfassungsentwürfe zu basteln! Artikel und Paragraphen von verschiedenen Verfassungen der westlichen Demokratien werden herangezogen und verglichen um Musterbeispiele zu finden. Niemand aber will zugeben, dass Demokratie sich nicht nur auf Verfassungsbestimmungen stützt, sondern dass sie mehr ist als das, nämlich eine Sache der Bewusstseinsentwicklung und der Evolution.
Vorschläge und Lösungsversuche! Was noch?
In seinem Buch „Ethno-Nationalismus im Weltsystem“ hat Christian Scherrer 18 Prinzipien zwecks Konfliktlösung in multinationalen Staaten dargestellt. Es sollen hier nicht alle 18 Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden, sondern nur jene, die eine Koexistenz der verschiedenen Nationalitäten und religiösen Gruppen im heutigen Irak ermöglichen würden:
- „gewaldose Austragung von Konflikten; Verstärkung aller Mittel der friedlichen Streitbeilegung, ...“ (Scherrer, S. 131)
Konflikte ohne Gewalt zu lösen, setzt eine Kultur voraus, die bei den meisten IrakerInnen bis zum heutigen Tag nicht vorhanden ist. Die Gewaltanwendung im Irak ist ein Produkt der mesopotamischen (und orientalischen) Despotie. Der Irak wurde in seiner Geschichte seit Nabucco und der babylonischen Gefangenschaft mit dem Begriff „Autorität“ gleichgesetzt. Wo Autorität herrscht, ist die Gewaltanwendung nicht zu vermeiden. Das Wort „Autorität“ war und ist immer noch ein Synonym für das Land Irak. Die Autorität ist in uns Irakern verwurzelt: besonders die autoritäre Erziehung in der Familie, deshalb müssen wir zuerst als Neulinge anfangen: Nämlich mit der Demokratie jenseits des Staates, mit der Demokratie in der Familie! - „Förderung einer demokratischen Kultur mit breiter Partizipation, demokratische Verhaltenweisen auch der politischen Eliten und Beamten; Zivilisierung durch Einüben gegenseitigen Respekts und kultureller Toleranz, Entwicklung einer konstruktiven Konfliktkultur.“ (Scherrer, S. 131)
Was die Förderung einer demokratischen Kultur mit breiter Partizipation betrifft, muss man fragen, wer das fördern soll, wenn den Eliten und den Beamten selbst demokratische Verhaltensweisen fehlen.
Bei dem Punkt „Zivilisierung durch Einüben gegenseitigen Respekts und kultureller Toleranz“ landen wir dann bei der „Politik der Anerkennung“.
Die Anerkennung des „Anderen“ und „durch Andere“ gilt als eine wichtige Bedingung der Herausbildung individueller und kultureller Identität und des Anspruchs auf eine „Politik der Differenz“. Die Möglichkeit eine eigene, sich von anderen unterscheidende, kulturelle Identität beizubehalten oder herauszubilden, ist an sich ein guter Schritt für die Ermöglichung eines friedlichen Zusammenlebens der Nationalitäten. Im Irak muss aber ein gemeinsamer Nenner vorhanden sein, um das zu verwirklichen. Zwar spielte der Islam eine Zeit lang als gemeinsamer Nenner eine Rolle, das ist aber vorbei. Es handelt sich heute einerseits um Nationalitäten- und Interessenkonflikte und andererseits herrscht ein Kampf um die Macht zwischen säkularen und religiösen Gruppierungen.
Ist eine deliberative Demokratie im Irak möglich?
Es kann vielleicht eigenartig klingen, wenn wir hier das Wort „deliberativ“ erwähnen. Deliberation (lat. Deliberatio für Erwägung, Überlegung, Beratung) ist kein fremdes Wort für die islamischen Völker. „Al-Schura“ oder Beratung war und ist heute noch (besonders im Stammesstruktur) eine Institution für Konfliktlösung und Problembewältigung.
Auf Initiative der Kurden gibt es seit der Einrichtung der Schutzzone einen „Arabischkurdischen Dialog“ (al-hiwar al-arabi al-kurdi) und neuerlich ein Zentrum für turkmenische Kultur, wo Versammlungen zur Annäherung und zum Austausch von Informationen und Meinungen zwischen Kurden und anderen politischen Gruppierungen und Bevölkerungsteilen veranstaltet werden.
Auch in den öffentlichen Medien herrscht heute eine intensive Kommunikation über aktuelle politische Fragen und die Zukunft des Irak.
Dadurch besteht die Möglichkeit für die Partizipation von BürgerInnen in der Zukunft.
„Die Demokratie benötigt Deliberation, d.h. eine Kultur des Argumentierens, und sie braucht eine Gesellschaft von Staatsbürgern, die wenigstens dem Prinzip nach (und von Zeit zu Zeit) für die besten Argumente offen sind.“ (Walzer, S. 62) und in einer pluralistischen Gesellschaft kann die Legitimität nur durch Austausch von Argumenten und Konsens erreicht werden.
Ob wir wollen oder nicht, der heutige Irak ist in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite die Säkularen und jene, die die Entstehung einer Zivilgesellschaft befürworten. Auf der anderen Seite die religiösen Gruppen und Stammesgesellschaft. Der Ausgang dieser Krise kann nur durch eine deliberative Politik folgen. Nur durch Argumentation der beteiligten BürgerInnen kann man die konfessionellen Kräfte und die „Stammeshäuptlinge“ von der politischen Bühne vertreiben. Ansonsten ist ein Bürgerkrieg nicht zu vermeiden.
Literatur:
- Ralf Dahrendorf: Die Krisen der Demokratie. München 2002, S. 9
- Ralf Dahrendorf: Legitimität und Wahlen; (http://www.projectsyndicate.org/home/home.php4)
- Jürgen Habermas: Die Einbeziehung der Anderen. Frankfurt am Main 1999, S. 289
- Walter Reese-Schäfer: Jürgen Habermas. Frankfurt/Main 2001
- Giovanni Sartori: Demokratietheorie. Darmstadt 1997, S. 119
- Christian P Scherrer: Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Band 1: Prävention, Konfliktbearbeitung, und die Rolle der internationalen Gemeinschaft. Münster 1996, S. 126-132
- Thomas Von der Osten-Sacken: Wenn Wahlen etwas ändern. Jungle World Nr. 7 vom 16. Februar 2005
- Hans Vorländer: Demokratie — Geschichte — Formen — Theorien. München 2003
- Michael Walzer: Vernunft, Politik und Leidenschaft — Defizite liberaler Theorie. Frankfurt am Main 1999, S. 62