FORVM, No. 361/363
März
1984

Orwell nach dem Countdown

Obszöne Buchbesprechung*

Folgendes scheint der Fall zu sein: Die Entwicklung seit ‚1948‘ verläuft programmatisch, wenn auch nicht angenehm.

Leicht — oder, mit Orwell zu reden: „unschwer“ — kann man, wenn man will, in der NATO „Ozeanien“ wiedererkennen, und im Warschauer Pakt „Eurasien“; zwar stimmen die Grenzen nicht so genau, aber das kann ja, so sagt man, noch werden. Auch tut man sich mit China etwas schwer und die schon Geschichte gewordene SEATO paßte für „Ostasien“ ohnehin nie so recht. Störend sind auch die Befreiungsbewegungen, doch mit ein bißchen gutem Willen fügen auch die afrikanischen Kriege und die im Nahen Osten sich ins Orwellsche Szenario. Und die Entpolitisierung der Politik, die Militarisierung der Gesellschaft nach Innen und der Ersatz der Außenpolitik durch strategisches Handeln; die in bester „Neusprache“ Nachrüstung genannte Aufrüstung, die systematisch hergestellte Angst vor dem Großen Krieg, der von den in Verteidigungsministerien umbenannten Kriegsministerien mit Fleiß, Umsicht und Intelligenz vorbereitet wird, obwohl — im Unterschied zu allen Europäischen Kriegen seit dem Westfälischen Frieden — keine im modernen Sinn zweckrationalen Kriegsziele angebbar wären; die kalifornische Wiedergeburt des altpersischen Manichäismus mit seinem primitiven Denken in den Kategorien von Gut und Böse und die ideologische Verwandlung der Weltgeschichte in eine B-Picture Inszenierung mit einem nuklearen shootdown als drohendem happyend: all das ist bester Orwell und geht noch darüber hinaus. Da erscheint die erst vor ein paar Tagen mit der Stationierung der Cruise Missiles vollzogene Ratifizierung des Status von Großbritannien zum „Luftflottenstützpunkt Nr. 1“ als fast schon übertriebene Folgsamkeit gegenüber der Orwellschen Regie.

Und doch sind es wohl weniger die geopolitischen Konstellationen, als diffuse gesellschaftliche Erfahrungen, fragwürdige technische Innovationen, sprachliche Depravationen und depositäre politische Angste aus der Zeit ’48 selbst, die, heute wieder aktualisiert, den Orwellschen Text als zumindest teilweise gelungene Prognose empfinden lassen. Vor allem aber der heraufziehende oder schon vorhandene „Überwachungsstaat“ nach Heroldschem Muster.

Oder verhält es sich umgekehrt? Ist die magische Zahl „1984“ nur ein symbolischer Kristallisationskeim für Ängste vor einer gesellschaftlichen Realität, die eine ganz andere Gestalt und Dynamik hat als die von Orwell geschilderte und deren zwanghafte Interpretation in seinen Kategorien mehr Verwirrung schafft als Aufklärung?

In mehr als 60 Sprachen ist das Buch übersetzt worden, über 10 Millionen Exemplare wurden verkauft, jedem, der lesen kann, ist es ein Begriff. Die großen Journale in dem sich selbst „frei“ nennenden Teil der Welt bringen schon vor Jahreswechsel Orwell auf Cover, das Fernsehen warnt, ohne jeden Sinn für die darin liegende Ironie, vor dem Jahr des „Großen Bruders“. Die Befürchtung,

Großmaturant

daß der österreichische Großmaturant Franz Kreuzer zu dem Thema einen Club 2 moderieren werde, mit 4 Experten und einer Betroffenen, hat sich inzwischen bestätigt, ein Nachtstudio wird gewiß noch folgen und Konrad Lorenz wird Gelegenheit finden, über Parallelen im Tierreich, zuvörderst bei der Graugans, zu belehren.

Und wir, die „Österreichische Gesellschaft für Soziologie“, sind stolz darauf, das Thema so ziemlich als erste aufs Tapet zu bringen und noch vor Silvester möglichst erschöpfend zu behandeln.

Mit einem Wort: Alle Welt redet von Orwell und sieht ihn, zumindest in Teilen, bestätigt. Wenn man vielleicht auch nicht so weit gehen darf zu sagen, wir stünden vor dem Paradox, daß eine angeblich Orwellsche Gesellschaft sich selbst lautstark als Orwellsche anklagt, so sollte doch eine solche politisch diffuse Sammelbewegung aller Menschen die guten Willens sind, eine solche Gemeinschaft der Gleichgesinnten, eine solche fast Orwellsche Übereinstimmung der freien Geister — mißtrauisch machen.

Widerspruch erscheint geboten — nicht nur gegen die Orwellsche Welt, sondern auch gegen deren flotte Diagnose. Und gegen das Orwellsche Buch selber, nicht nur gegen seine Rezeption.

Leicht ist so was nicht. Denn aus der Reihe von Negativutopien, welche die europäische Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ragt „1984“ als die gewiß populärste hervor. Doch diese Prominenz verdankt das Buch wohl weder seinen literarischen Qualitäten, noch seiner divinatorischen Potenz: es ist keine Prognose und wollte auch keine sein.

Well Or Not Well

Aber was ist es dann? Ein Pamphlet? Eine hellsichtige Warnung? Ein Dokument der Paranoia? Eine grausige Vision? Das Resumee einer Erfahrung?

Wohl von allem etwas, gewiß aber dies: Ein schlechter Roman. Orwell war ein großer Moralist, ein mitfühlender Mensch, ein leidender Mensch; er war ein engagierter Journalist und ein linker Aktivist. Er war ein Rebell und Außenseiter. Er hat großartige Reportagen geschrieben, eine köstliche Satire — und einen schlechten Roman. Und ausgerechnet der hat ihn berühmt, vielleicht unsterblich gemacht.

Ich glaube, daß viele Menschen, die den Text wirklich genau gelesen haben, so denken, und daß nur die heiligen Schauer vor der Aura des Grauens, die das Buch umgibt, sie daran hindert, diese Meinung auch auszusprechen. Es ist, als durchbräche man ein Tabu, als begehe man eine Obszönität, wenn man in einer Welt voller Schrecken von einem Buch, das alle ihre Schrecken sammelt, sagt: dieses Buch ist schlecht, ist Mache, Kunstgewerbe, Kitsch. Schwarzer Kitsch. —

Seine Augenblickswirkung verdankte es gewiß der ideologischen Situation im noch frischen Kalten Krieg: es bestand ein enormes Interesse an „Totalitarismustheorien“, die eine Identifizierung von Faschismus und Kommunismus erlauben — und Orwells Text lieferte dafür ein fugenloses literarisches Modell.

Was Orwell in „1984“ anklagt: die propagandistische Herstellung eines identischen Feindbildes beim Wechsel, ja bei der genauen Inversion der militärischen und politischen Allianzen für genau diesen Zweck wurde sein Buch verwendet, und genau dem Umstand, daß es dafür verwendet werden konnte, verdankt es seinen schlagartigen Erfolg. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß die „Animal Farm“, eine im letzten Kriegsjahr geschriebene antistalinistische Satire, von drei englischen und zwanzig amerikanischen Verlagen abgelehnt wurde. Damals war die Sowjetunion noch Verbündeter im Krieg gegen Nazi-Deutschland, und das ideologische Interesse war daher anders gelagert. T.S. Eliot, Verlagsdirektor von Faber & Faber, gab sich nicht überzeugt, daß „das Buch zu den Dingen gehört, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden sollten“. Ein Jahr später, im ersten Sommer des Friedens und an der Schwelle zum Kalten Krieg, wurde „Animal Farm“ über Nacht zum Weltbestseller und von den gleichen Leuten, die gestern noch ablehnend gewesen waren, als beste Satire seit Swift’s „Gulliver“ gefeiert.

four letter word

Für die Dauerwirkung des Romans aber scheinen mir vor allem zwei Elemente verantwortlich zu sein: Erstens der geniale verlegerische Trick, den von Orwell ursprünglich vorgesehenen Titel: „The last Man in Europe“ fallen zu lassen und durch die Jahreszahl „1984“ zu ersetzen, was nicht nur, wie bei den „Heiligen der letzten Tage“, einen sich über Jahrzehnte hinziehenden countdown ermöglichte, sondern als bedeutungsloses four letter word — entstanden durch schlichten Ziffernsturz von 1948, dem Entstehungsjahr des Buches — selbst ein Stück einprägsamer „Neusprache“ darstellte, eine Chiffre, deren gespenstische Aura auf die Phantasie als morbides Faszinosum, aufs Denken aber als Paralytikum wirkte.

Und zweitens die Tatsache, daß das Buch einer literarischen Gattung angehört, die man heute als „Faction“ bezeichnen würde.

Das lückenlose Bild des Grauens, das Orwell montiert, ist zusammengefügt — ja, man muß sagen: begriffslos zusammengefügt — aus Elementen von zu seiner Zeit gegenwärtigem, jüngst vergangenem und teilweise uraltem Schrecken, aus Elementen jedoch, die durchaus verschiedenen Zeiten, Gesellschaftsformen und ideologischen Systemen angehören, und die daher gerade nicht, wie Orwell suggeriert, zu einer Totalität konvergieren. Die morbide Faszination, die von dem Text ausgeht, verdankt sich nicht einer rationalen Einsicht in geschichtliche Tendenzen, sondern der anamnetischen Mobilisierung heterogener Erfahrungselemente und ihrer Konfusion zu einer scheinbar widerspruchsfreien Totalität. Ideologisch ist er außerdem dadurch, daß er Freiheit in der alten Unfreiheit als gegeben unterstellt, der er umgekehrt die Erfahrung des Schreckens gerade entnimmt.

Schattenproleten

Lassen Sie mich zur Begründung dieser Thesen Beispiele nennen: Offensichtlich ist, daß es sich um eine Satire auf das stalinistische Rußland handelt — die Produktionsmittel sind verstaatlicht, es herrscht krasser materieller Mangel; der Große Bruder trägt ebenso deutlich die Züge Stalins, wie sein — vielleicht imaginärer — Gegenspieler Goldstein diejenigen Trotzkys (Bronstein). (Im Deutschen kann der Name der Einheitspartei „Engsoz“, eine englische Abkürzung, sogar als Anspielung auf den „Sozialismus in einem Land“ gelesen werden.) Andererseits aber wird den Kriegen an den Rändern der Blöcke nicht nur eine sozialpsychologische, sondern auch eine ökonomische Funktion zugewiesen, was nur in einer kapitalistischen Wirtschaft einen Sinn macht: über ein nicht ausgewiesenes Zitat von Keynes wird ihnen die Funktion der Kapitalvernichtung zugesprochen. Insofern handelt es sich bei Ozeanien um eine faschistische Diktatur: Eine besondere Variante des „Zwiedenkens“, wenn man will, aber bei Orwell selbst.

Es scheint mir bemerkenswert, daß bei einem Autor, der mit der Labour Party sympathisierte, nicht nur die gesamtgesellschaftliche Organisation der Produktion ziemlich im Dunklen bleibt, sondern daß die empirische Sphäre der materiellen Güterproduktion, das, was man „Arbeitswelt“ nennt, vollkommen ausgeblendet ist. Die „Proles“ bleiben schattenhaft, und sie sind im übrigen nicht ökonomisch als Ausgebeutete, sondern politisch als Unterdrückte definiert. Offen bleibt, zu welchem Zweck — es sei denn, man akzeptiert die Theorie von der Tautologie der Macht, die nur sich selber will. Aber genau diese Theorie ist eben nicht akzeptabel. Denn sie beschreibt zwar recht gut die persönlichen Motivationen der am politischen Machtkampf Beteiligten, ist aber unbrauchbar für das Verständnis gesamtgesellschaftlicher Organisationsprinzipien.

Dieser Begriffslosigkeit korrespondiert die überhistorische Klassentheorie — die eigentlich nur eine nichtssagende Phänomenologie der Ständeherrschaft ist — und die künstliche Gleichzeitigkeit der Schreckenselemente, die in Wahrheit sehr verschiedenen geschichtlichen Örtern angehören: Öffentliche Hinrichtungen zum Beispiel, die bei Orwell als Volks- und Kinderbelustigungen eine so große Rolle spielen, hat weder der Nationalsozialismus noch der Stalinismus als Erziehungsmittel der Massen angewendet; sie sind vielmehr wesentliche Elemente des vorbürgerlichen Strafsystems, bis herauf ins Ancien Regime des von Orwell verklärten 18. Jahrhunderts: Gegen die kunstvolle Hinrichtung Damiens, der Ludwig XV. einen Kratzer zugefügt hatte, kann man bei Orwell geradezu von einer Humanisierung des Strafrechts reden.

Gute alte Zeit

Auch bleibt der geschilderte utopische Terror weit hinter dem schon realisierten Grauen der Nazis zurück. Winston Smith hat immerhin noch ein erzählbares individuelles Schicksal, die zu Millionen Vergasten hatten keines mehr, sie waren nur mehr anonymer Rohstoff der Mordindustrie. Bei allen gesucht-fürchterlichen Details im Inhalt hat die Auseinandersetzung zwischen Smith und O’Brian fast die Struktur eines Duells zwischen britischen Gentlemen. Und die Rattenfolter in dem berühmten Gruselkabinett „Zimmer 101“, die den individuellen Kampf um Autonomie mit deren Zerstörung beschließt, ist scheußlich, aber spezifisch modern ist sie nicht. Denn wie sagt O’Brian „in seiner gewohnten lehrhaften Art“?: „Im kaiserlichen China war es eine übliche Strafe.“ Eben. In der guten alten Zeit.

Vergleicht man diese Passagen mit den entsprechenden in A. Koestlers „Sonnenfinsternis“, so fällt der Unterschied sofort ins Auge: Koestler erfüllt die alte Hegelsche Forderung nach der Bestimmtheit der bestimmten Negation, wo Orwell fast genüßlich in einem allgemeinen, überhistorischen Grauen schwelgt; und der erschütterte Leser mit ihm: es gruselt einen, es schockt einen, es ekelt einen; aber die Gedanken stehen still.

„Das Unglück“, hat Brecht gesagt, „ist nicht anonym, sondern es hat einen Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer.“ Die Auseinandersetzung zwischen Gletkin und Rubaschow bei Koestler ist kein zeitloses Ringen zwischen dem Henker und seinem Opfer wie bei Orwell, sondern sie macht den spezifisch stalinistischen Terror lebendig, sie läßt seine Mechanismen — ich würde fast sagen: seinen furchtbaren Sinn — begreifen, die Logik der Schauprozesse und die Motivationen der Kontrahenten, der Wischinsky, Radek, Bucharin. Koestler klärt auf, Orwell vernebelt.

Eines der zentralen Themen Orwells ist die Geschichtslosigkeit des modernen Bewußtseins. Aber wo es darauf ankäme, diese Geschichtslosigkeit in ihrer eigenen geschichtlichen Formbestimmung zu treffen, dort ist Orwell selbst geschichtslos. Das „Gedankenverbrechen“ zum Beispiel — ist das in dieser Allgemeinheit ein spezifisches Moment einer nachbürgerlichen Gesellschaft? Erkennt man darin nicht die alte christliche „Sünde“ wieder, das „Sündigen im Geiste“, fällt einem hier nicht der Beichtvater ein, noch vor dem Televisor?

nackte Klavierlehrer

Die Sexualunterdrückung — ist nicht auch sie uraltes paulinisches Kulturgut? Gewiß beruht jedes autoritäre Regime auf Angst und damit auf sexueller Repression. Aber wieder käme es darauf an, deren spezifische Formbestimmung in modernen Diktaturen zu treffen — kaum hat sie dort die frontal-puritanische Gestalt wie bei Orwell, sondern sie beruht eher auf einer strengen Normierung des Sexuellen auf genitale Heterosexualität bei gleichzeitiger Kriminalisierung von homoerotischen- und Partialtrieben und verträgt sich daher mit einer gleichsam turnerischen Libertinage zwischen den Geschlechtern sehr gut. Die unterdrückten homoerotischen Triebkomponenten werden dann als Kitt für paramilitärische Männerbünde verfügbar.

Moderne Repression beruht also eher auf einer qualitativen Verschlechterung der Sexualität, nicht, wie bei Orwell, auf ihrer quantitativen Verknappung. Oft genug tritt sie im Namen sexueller Befreiung auf — ihre proklamierte Utopie ist dann, Wie E. Bloch gesagt hat, die von „nackten Klavierlehrern in Arkadien“.

Und wer schließlich im dritten Orwellschen Sinnspruch: „Unwissenheit ist Stärke“ nicht das alte christliche: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ wiedererkennt, dem ist nicht mehr zu helfen. Der Satz trifft die katholische Gegenaufklärung, nicht, wie beabsichtigt, die Sowjetunion, die bei aller ideologischen Indoktrination, die sie damit auch forciert hat, in kürzester Zeit und unter schwierigsten Umständen einen enormen Aufbau ihrer Bildungseinrichtungen geleistet hat.

Altsprache

Was die „Neusprache“ überhaupt anlangt, mit ihrem Inversions- und Euphemisierungsstrategien, deren Analyse gewiß zu den stärksten Elementen des Romans zählt, so wäre im Deutschen vor allem auf die fortdauernde Wirkung der „LTI“ (Lingua Tertii Imperii, Victor Klemperer) hinzuweisen, auf die gedankenlose Verwendung von „Einsetzen“, „bis zur Vergasung“, „durch den Rost fallen“, nicht nur bei denen, die als stramme Antikommunisten auf Orwell sich berufen. Die Sprachverhunzung von heute aber kommt vor allem aus der Ökonomie, aus der Verlogenheit der Werbung und aus der Rechenhaftigkeit des Marktes, der auch die Politik seinen Gesetzen unterwirft, und nicht umgekehrt. Der kryptische Hinweis aufs Wittgensteinsche Denkverbot, der bei Orwell sich findet, ist da wenig hilfreich, denn es handelt sich nicht um das Praktischwerden einer Wissenschaftstheorie sondern um die linguistischen Folgen einer ökonomischen Verfassung. Das „gutdenkvolle“ Zeitungs- und Politikerdeutsch, das uns heutzutage in den Ohren dröhnt, hat mit Neopositivismus ebensoviel zu tun, wie eine Kanzelpredigt mit einem Laborbericht. —

Die hermetische Geschlossenheit des Orwellschen Universums verdankt sich also der Verwendung sehr verschiedener, ja einander ausschließender Bauelemente. Das gesamte Arsenal politischen Schreckens, das die Geschichte zur Verfügung hat, wird aufgeboten, um das Leben zu umstellen und einzumauern. Und wo doch noch eine Ritze bliebe für das Glück, dort stopft der Autor sie zu mit einem willkürlich, aber sorgsam gewählten — Zufall. Man erinnere sich zum Beispiel an die Szene, wo Winston Smith in seiner Einsamkeit und Not zu einer Prostituierten geht, deren Körper ihm in der trüben Dämmerung ein wenig gestohlene Lust, Phantasie und Wärme zu versprechen scheint. Im grellen Licht der Küchenlampe zeigt sich ihm eine häßliche, monströs geschminkte, zahnlose alte Frau. Er nimmt sie voller Ekel. — Die widerliche Szene sagt zwar einiges über die Frauenfeindlichkeit des Autors aus, aber nichts über politische Repression — deren Logik hätte auch eine attraktive Mittdreißigerin zugelassen. Aber unser Held ist eben nicht nur politisch, er ist auch vom Pech verfolgt.

Die heilig heilend helfende Hand

Sie sehen: Hier geht ganz einfach alles schief, weil es schiefgehen soll, wo selbst der politische Arm des Großen Bruders nicht mehr hinlangt, dort hilft die Hand des Autors weiter. Deshalb habe ich gesagt: Das ist Mache.

Man hat Orwells „1984“ immer schon mit anderen Negativutopien verglichen — mit Huxleys „Brave New World“ und Samjatins „Wir“, mit Texten von Kafka, Werfel, Jens.
Alle diese Vergleiche haben bestimmte Konturen deutlich werden lassen, obwohl, oder gerade weil diese Werke in einigen Dimensionen einander parallelisieren, in anderen widersprechen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Autor aufmerksam machen, dessen objektive Beziehung zu Orwell meines Wissens bisher noch nicht diskutiert wurde, wohl deshalb nicht, weil er politisch, moralisch und literarisch genau konträr zu Orwell steht: Nämlich auf jenen Schriftsteller des späten Dandysmus, den K.H. Bohrer den Rhetoriker des Schreckens genannt hat, auf Ernst Jünger.

heimliche Affinität

Denn Jünger ist mit seinem Essay: „Der Arbeiter“ von 1932 der literarische Erfinder und Propagandeur jener „totalen Mobilmachung“ (der Begriff stammt von ihm), deren Folgen Orwell bis ins Detail beschreibt; einzig die Schäbigkeit der Orwellschen Welt hatte Jünger nicht präfiguriert. Sie ist jedoch, contre coeur, das unausweichliche Resultat seines politischen Programms. „Der Arbeiter“ ist eine Programmschrift des „Totalitarismus“; als solcher mangelt es ihr, bei allem militant antibürgerlichen Affekt, an politischer Konkretion. In gewissem Betracht ein faschistischer Text par excellence, ist er doch kein nazistischer. Es ist interessant, daß die Nazis mit ihm nichts anfangen konnten, im Gegenteil: der „Völkische Beobachter“ schrieb in einer Besprechung, Jünger nähere sich jetzt der „Zone der Kopfschüsse“. Umgekehrt wurde der Essay von Karl Radek, einem der führenden Männer der KP, geradezu hymnisch gefeiert — und dies, obwohl Jünger damals, 1932, zweifellos der extremen Rechten zuzuordnen war und als prominenter „Frontkämpfer“ von dieser auch hofiert wurde.

Beides, die Affirmation von Seiten der Linken wie die Ablehnung von Seiten der Rechten, mögen Fehlurteile gewesen sein; doch sind es bezeichnende Fehlurteile, die auf eine tiefe politische Ambiguität des Textes selber verweisen.

Die Jüngersche Gesellschaft ist vollkommen militarisiert, die bürgerlichen Freiheiten sind getilgt, an Stelle des Vertrages herrscht der Befehl, alle sozialen Aktivitäten sind der Erfüllung des „Arbeitsplanes“ unterworfen. Ob das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft ist, ist nicht ganz klar, aber wahrscheinlich. Die „Gestalt“ des „Arbeiters“ ist nicht repräsentiert durch die Arbeiterschaft als Klasse, ebensowenig wie — ich habe darauf schon hingewiesen — die „Proles“ bei Orwell ein Proletariat konstituieren.

Gewiß: Den Unterschied ums Ganze macht, daß Jünger die Unterdrückung bejaht, wo Orwell sie beweint. Doch unaufhebbar erscheint sie beiden: In der Diagnose geschichtlicher Tendenzen stimmt der enttäuschte Spanienkämpfer mit dem elitären Herrenreiter überein.

Überhaupt hat Orwells sentimentales Melodram als Zeitdiagnose mehr Ähnlichkeit mit Jüngers bösartig-intelligentem Essay, als einem empörten Bewußtsein lieb sein mag. Sie reicht von der Übereinstimmung im Urteil über die machbare Dumpfheit der Masse, über die Funktionalisierung des Krieges an den Rändern zur Erhaltung des sozialen Friedhofs im Inneren (Krieg nicht, wie bei Clausewitz, als Fortsetzung der Außenpolitik mit anderen Mitteln, sondern der Innenpolitik mit den selben), über die Logik einer Produktion, die im eigentlichen Sinn keine Nutznießer mehr kennt und die Theorie von der Tautologie der Macht als Ziel, nicht als Mittel, bis in die Phänomenologie der antimodischen Äußerlichkeiten: Die „enganliegende Kopfbedeckung“, die Jünger immer wieder als äußerliches Merkmal für das Verschwinden des Individuums und sein Verschmelzen mit der von ihm verachteten Masse beschreibt, würde als accessoire sehr gut zum Orwellschen Trainingsanzug passen.

Von diesem Jünger hat Walter Benjamin in einer Rezension geschrieben: „Sein Horizont ist blutig, aber eng.“ Das Urteil trifft, a contrario, auch Orwell.

Tugend im Glashaus

Nun werden Sie vielleicht sagen: Selbst wenn das alles stimmen sollte, was Sie uns da erzählen, so können Sie uns Orwell trotzdem nicht vermiesen, denn die für uns wichtigste seiner Lehren haben Sie unterschlagen: Die Prognose eines kommenden, technisch möglich und politisch real werdenden, Überwachungsstaates.

Das ist richtig. Und zweifellos hat Orwell schon sehr früh vor dieser Gefahr gewarnt und viel dazu beigetragen, uns ihr gegenüber zu sensibilisieren. Gleichwohl meine ich, daß diese Sensibilisierung gerade unter dem Einfluß von Orwell eigenartig geschichtslos verläuft.

Denn war nicht vor 12, 15 Jahren noch die möglichst vollständige Transparenz der Gesellschaft für sich selber, die uns heute so viel Angst macht, eine Parole der Linken? Kommt es hier nicht abermals entscheidend auf die gesellschaftliche Formbestimmung an, auf die Frage, unter welchen Umständen wer wen, was und warum beobachtet, kontrolliert, speichert und kommuniziert? Vergessen wir nicht in unserer angstfixierten Betrachtung der technischen Kontrollmöglichkeiten des Staates allzu leicht die uralten sozialen Kontrollmechanismen in der heute oft sehr unreflektiert gefeierten „Lebenswelt“? Vergessen wir nicht allzu leicht das, was Richard Sennett die „Tyrannei der Intimität“ nannte?

Gab es nicht, vor noch gar nicht so langer Zeit, linke Utopien, die von einem computerisierten Kommunikationsnetzwerk die technische Ermöglichung einer permanenten Demokratie erhofften? Hat nicht Rudi Dutschke in einem Spiegel-Interview 1967 gesagt: „Wenn es den Computer nicht gäbe, die Linke müßte ihn erfinden“? Und war es nicht die politische Reaktion, die Alte Rechte, die lange vor der Neuen, bzw. Neuesten Linken gegen diese technologischen Entwicklungen theoretisch und literarisch Stellung genommen hat, abermals Ernst Jünger zum Beispiel mit seiner Erzählung „Die gläsernen Bienen“ von 1957? Und war es nicht Walter Benjamin, der im Gegensatz dazu in seinem Essay: „Der Syrrealismus“ geschrieben hat: „Im Glashaus zu leben, ist eine revolutionäre Tugend par excellence. Auch das ist ein Rausch, ist ein moralischer Exhibitionismus, den wir sehr nötig haben. Die Diskretion in Sachen eigener Existenz ist aus einer aristokratischen Tugend mehr und mehr zu einer Angelegenheit arrivierter Kleinbürger geworden.“

Warum ist diese Utopie seit den 70er-Jahren so vollständig verschwunden? War das wirklich ein Lernprozeß, oder ist sie vielleicht durch schlimme Erfahrungen nur zugedeckt, verschüttet worden, was uns hindert, nicht nur den Schrecken, sondern auch die utopischen Potentiale der Gegenwart wahrzunehmen?

Ich stelle diese Fragen nicht mit jenem Optimismus, der sich ihre Lösung zutraut. Doch in der Annahme, daß die Wirklichkeit nicht geschlossen ist und solide wie bei Orwell, sondern daß sie porös ist und brüchig.

*) Von unserem Beirat R.B. am 8. Dezember 1983 an der Universität Klagenfurt gehaltener Eröffnungsvortrag des österreichischen Soziologentages: „1984: Fantasie—Utopie—Realität“.

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