Palme, warum haben Sie verloren?
Olof Palme ist ein Mann von mittlerer Statur, etwas mager, nicht besonders robust gebaut. Er bewegt und gibt sich nervös, entschlossen, energisch, ja aggressiv. Eine runde Stirn unter rötlichblonden Haaren, blaßblaue Augen, aufgerissen, eng beieinanderstehend, von zwei dunklen Ringen umgeben. Seine Hakennase erinnert an den Schnabel eines nächtlichen Raubvogels, an einen Uhu. Der große Mund ist stark geschwungen und hat in seinem Lächeln etwas Honigsüßes; aber unter dem Honig spürt man ironische Bitternis und grundsätzliche Festigkeit. Olof Palme ist ruhelos, ungezwungen, beweglich, sein Körper wechselt ständig die Haltung. Bald streckt er sich waagrecht auf seinem Sessel aus wie auf einem Liegestuhl, bald kuschelt er sich katzenartig hin, die Knie am Kinn, bald setzt er sich quer über den Sessel, die Beine über der Armlehne, bald faltet er die Hände im Schoß und kauert sich zusammen. Seine kleinen nervösen Hände sind eher die eines Intellektuellen als die eines Machtmenschen. Seine Stimme ist merkwürdig, sie hat stark modulierte und bewußte Höhen und Tiefen.
Olof Palme ist bei der Wahl vom 19. September 1976 unterlegen. Die sozialdemokratische Partei, die 44 Jahre hindurch an der Regierung war, hat ihren Platz an eine Koalition abtreten müssen, die bezeichnenderweise unter der Etikette „nichtsozialistisch“ oder „bürgerlich“ siegte.
Palme empfängt mich in seinem Arbeitszimmer im Regierungsgebäude. Die Einrichtung ist karg, es könnte das Studio eines Privathauses sein. Die Schlichtheit wird unterstrichen durch die informelle Art, in der sich Palme (Anzug mit Schachmuster, dunkelblaues Hemd und Kaschmirkrawatte) und sein Sekretär (hellblaue Hosen und erdbeerroter Rollkragenpullover) kleiden.
Palme: Der Kommunismus war in Europa in den letzten dreißig Jahren völlig isoliert. Diese Isolierung bedeutete eine Sicherheitsgarantie für die konservativen Systeme. Der Eurokommunismus könnte nun der Ausweg aus dieser Isolierung sein. Natürlich weiß ich nicht, ob die kommunistischen Parteien ganz ehrlich sind, wenn sie davon sprechen, daß man auf die Diktatur des Proletariats verzichten müsse. Auf jeden Fall sollte der Eurokommunismus als ein positives Faktum angesehen werden, wie auch die Aufgabe von Dogmen durch die kommunistischen Parteien positiv zu werten ist. Was den Historischen Kompromiß angeht, so ist er für mich die Hochzeit zwischen zwei Kirchen — insgesamt etwas, was mich nicht betrifft.
Palme: Der Kongreß hat keine Entscheidungen gebracht. Man war nicht imstande, sich auf eine gemeinsame internationale Linie zu einigen. Aber das Problem ist nur aufgeschoben.
Jetzt erst recht Kernkraft
Palme: Man kann nicht von Mißerfolg sprechen, die Wahlniederlage der Sozialdemokratischen Partei war eine sehr relative, ein Verlust von nur 0,7 Prozent. Jedenfalls war an dieser Niederlage hauptsächlich unser Kernkraftwerkplan schuld. Dieser Plan wurde von der Opposition heftig angegriffen. Die schwedische Bourgeoisie hat darin endlich ihre Chance gesehen, wieder an die Macht zu kommen. Auf seiten der Opposition waren auch die Industriellen, die große Energieverbraucher sind und jedes Interesse daran haben, daß diese Atomzentralen gebaut werden. Aber das Ziel, unsere Partei aus der Regierung zu vertreiben, war ihnen wichtiger. Es versteht sich, daß die Industriellen in dem Augenblick, wo die bürgerliche Koalition an der Macht ist, ihre Meinung ändern und starken Druck ausüben werden, um einen Plan für Kernkraftwerke durchzusetzen, ähnlich dem unseren.
Ich gebe zu, daß es, abgesehen von den Kernkraftwerken, auch andere Faktoren gegeben hat, vor allem psychologischer Natur, die zu unserer Niederlage beigetragen haben, welche unerklärlich bleibt, wenn man nur die schwedische Situation betrachtet. In der Tat hat unsere Regierung gut funktioniert, wir haben eine geringe Arbeitslosigkeit, die Inflation ist gezügelt, die Partei erlebt eine Periode großer Vitalität. Was waren also die Ursachen für die Niederlage? Ich glaube, ich kann drei Erklärungen dazu liefern. Erstens hat in diesem Wahlkampf der SIogan vorgeherrscht: „Wir müssen endlich die Regierung wechseln.“
Zweitens kann ich nicht leugnen, daß es einige kleine, winzige Skandale gegeben hat, die von der Opposition aufgeblasen wurden. Drittens und letztens hat die Erneuerung des Konzeptes des demokratischen Sozialismus bei vielen die Befürchtung ausgelöst, daß wir am Vorabend einer exzessiven Hinwendung zum Sozialismus stehen. Wie dem auch sei, wir verzichten nicht auf den Sozialismus, ganz im Gegenteil. Und weil wir uns bemühen müssen, die Arbeitslosenziffern niedrig zu halten, werden wir an einem kühnen nuklearen Programm festhalten.
Gerechte Steuern gegen die Reichen
Palme: Ich weiß es nicht. Die Opposition hat versprochen, den Wohlfahrtsstaat noch wirksamer auszubauen. Aber zur gleichen Zeit hat sie versprochen, die Steuern zu senken. Zwischen diesen beiden Dingen besteht ein Widerspruch. In der Bourgeoisie haben sich zwei Tendenzen abgezeichnet. Die einen sagen: endlich können wir eine bürgerliche Politik machen; die anderen sagen: nein, wir müssen eine Politik machen, die den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entspricht. Nun, mit dem Wahlsieg ist für die Opposition die Stunde der Wahrheit gekommen.
Palme: Das ist nicht wahr! Es gibt einige tausend Schweden, die ihren Wohnsitz in Spanien aufgeschlagen haben, nur um keine Steuern zu zahlen. Aber sobald sie alt werden, kehren sie zurück, um die ärztliche Versorgung und die Pensionen in Anspruch zu nehmen, die vom Geld jener herrühren, die in Schweden bleiben und ihre Steuern bezahlen. Die zu hohen Steuern sind ein Mythos der Konservativen.
Palme: Es gibt zwei Kategorien von Jugendlichen. Erstens die Jugendlichen, die schon arbeiten. Unter diesen ist unsere Jugendorganisation sehr stark, und ich nehme an, daß wir ihre Stimmen gekriegt haben. Die zweite Kategorie sind jene Jugendlichen, die noch studieren. Es handelt sich um etwa 130.000 Jugendliche im Alter von 18 Jahren aufwärts, und unter diesen ist die bürgerliche Rechte ziemlich stark. Man darf anderseits nicht außer acht lassen, daß die Jugendlichen von der konservativen Atmosphäre der Schulen beeinflußt sind. Die Professoren z.B. stehen meist rechts.
Palme: Wir sind Reformisten, wir sprechen nicht vom Klassenkampf. Wir sind uns bewußt, daß es Ungerechtigkeit und Unterschiede zwischen den Klassen gibt. Aber wir verwenden diesen Begriff nicht.
Palme: Ja, es gibt privilegierte Gruppen. Es gibt eine Bourgeoisie, der es recht gut geht, auch wenn sie sich ständig über die Steuern beklagt. Wenn ich ihre Klagelieder höre, wundere ich mich immer, wie sich die Leute ihre großen Jachten, die prachtvollen Villen und sonstigen Annehmlichkeiten leisten können, wenn wir ihnen zu hohe Steuern abknöpfen.
Palme: Ich glaube, das ist ein Problem, das eines Tages unbedingt gelöst werden sollte. Die Arbeiter haben gesagt: Wir akzeptieren, daß wir mit unserer Arbeit auf dem Weg über den Mehrwert das Kapital produzieren, jedoch unter zwei Bedingungen: Wir müssen über dieses von uns produzierte Kapital verfügen können. Und wir müssen Einfluß haben auf die Verwaltung dieses Kapitals, einen Einfluß, der dem Mehrwert entspricht, den wir geliefert haben. Dies ist das Problem, und wir müssen die technischen Mittel finden, um es zu lösen. Ich glaube, wir werden etwa fünf Jahre brauchen, um eine befriedigende Lösung zu finden.
Ich kenne Bergman ...
Palme: Ich kenne Bergman. Er ist ein großer Künstler und ein loyaler Staatsbürger. Aber er hat viel Geld verdient, und wenn man viel Geld verdient, läßt es sich nicht vermeiden, daß man es schließlich mit dem Finanzamt zu tun kriegt. Ich weiß nicht, ob sich die Steuerprüfer korrekt gegenüber Bergman verhalten haben. Aber es ist sicher, daß ihr Zusammentreffen mit Bergman für diesen ein kultureller Schock war. Bergman hat sie nicht verstanden, und sie haben Bergman nicht verstanden. Aus diesem Tatbestand hat Bergman ungerecht verallgemeinert.
Palme: Wir sind gegen den Kolonialismus und gegen den Imperialismus: Das ist alles.
Kissinger war hier
Palme: Kissinger war hier, und ich habe ihm gesagt, daß ich seine Rede von Lusaka billige. Wenn ich noch an der Regierung wäre, würde ich mich in Afrika sehr engagieren. Sehen Sie: Amerika ist das einzige Land, das einen gewissen Druck ausüben und erreichen kann, was es will. Ich weiß nichts über die Zukunft unserer Politik gegenüber den USA.
Palme: Ich weiß nicht. Ich fürchte ja. Die Entwicklung in Lateinamerika macht mir Angst.
Palme: Die Beziehungen zur Sowietunion sind korrekt. Was die Exilschriftsteller angeht, so habe ich mich immer zu ihren Gunsten ausgesprochen.
Palme: Es gibt sicherlich befriedigende Lösungen, aber nur theoretisch. Ich will damit sagen, daß es schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint, sie zu verwirklichen.
„Wir kommen bald wieder!“
Palme: Wir haben ein sehr präzises Oppositionsprogramm. Wir wollen eine Opposition unter der Annahme machen, daß wir bald an die Regierung zurückkehren werden. Das heißt, wir wollen die Grundsätze einer sozialdemokratischen Politik für die achtziger Jahre formulieren. Deshalb werden wir eine verantwortungsbewußte Opposition machen und keine um der Opposition willen. Wir wollen vor allem die neue Identität hervorheben, die wir als freiheitliche Volksbewegung erreicht haben.
© Alberto Moravia und Corriere della sera