FORVM, No. 190
Oktober
1969

Perverse Schüler

Brief. Prosa. Gedicht.

Liebe Lehrer und überhaupt Erwachsene (alle Erwachsenen sind leider Lehrer): Sind begabte Schüler brave Schüler, hochbegabte besonders brav? Muß unser Schul- und überhaupt Gesellschaftssystem alles zertrampeln, was nicht beizeiten verspricht, ein ordentlicher Konsumidiot zu werden? Nachfolgender Brief, Prosatext, Gedichtversuch eines Gymnasiasten, der alle Arten von Lern-‚ Betragens- und politischen Schwierigkeiten hat, womöglich bis zum Hinauswurf, scheint mir ein Beweisdokument zu sein für alle, die Ohren haben, zu hören. — G. N.

An Genossen G. N.!

ich bekenne mich hiermit des verbrechens des zeitraubes schuldig.

ich schrieb einen artikel und fürchtete, noch während ich schrieb, er wäre zu pathetisch. ich las das neue forum und fürchtete, er wäre zu wenig sachlich. ich dachte an vieles und fürchtete, es wäre zuwenig konkret.

ich setzte mich an die schreibmaschine und schrieb vier seiten wörter. nur wörter. ohne auf den text zu achten. eigentlich schrieb ich vier seiten buchstaben. dann las ich den artikel noch einmal, fand, daß er wirklich zu pathetisch, zuwenig sachlich, zu allgemein sei und schickte ihn nach wien, A-1070, museumstraße 5.

das war vor drei wochen.

zweifel begannen mich zu plagen. das fehlbleiben einer antwort schien sie zu bestätigen. tage vergingen, Frantz Fanon wurde geistig verarbeitet, keine antwort kam — ich zweifelte stärker denn je. war der artikel überhaupt angekommen? war er schlecht? WIE SCHLECHT WAR ER?

ich schreibe nabezu unaufhörlich, doch die meisten aufsätze wandern in den papierkorb. auch schreibe ich für zwei schülerzeitungen, doch es fehlt die gewißheit, produktive arbeit zu leisten.

es ist wirklich ein verhängnis, nicht publizieren zu können.

selbstbezichtigung
wir sind pervers
wir sind elitär
wir sind ohne basis
wir haben das volk nicht erreicht
wir sind die langhaarigen unruhestifter
wir sind die, die lieber lernen sollten
die lieber arbeiten sollten
und verdrängen

wir sind pervers, weil wir uns nicht anpassen. wir sind nicht bereit zu glauben, die schrecken des krieges, die armut eines großen teiles der menschheit, die unterdrückung, sei sie jetzt offen und brutal wie in den maitagen 1968 in paris oder versteckt und verschleiert, irgend jemand hat einmal gesagt „hofrätisch“, wie dies in österreich oft der fall ist, seien unvermeidlich, quasi naturgesetze.

ständig steigender wohlstand, der immer mehr alle schichten der bevölkerung erfaßt, macht den menschen immer systemabhängiger, die vermassung und gleichschaltung der gedanken, die nicht mehr bemerkte unfreiheit nimmt zu.

der mensch reagiert darauf mit verdrängung und aggression, welche von der gesellschaft aufgenommen und von den massenmedien verstärkt wird.

das töten wird zum alltäglichen ereignis, zum natürlichen. der mensch gewöhnt sich an den mord, er lebt mit dem mord. vandalismus erregt ihn, genocid läßt ihn kalt. er konsumiert, vor dem fernsehschirm sitzend, die bombardierung dichtbevölkerter dörfer; die folterung von gefangenen, den wetterbericht, sportnachrichten, verhungerte kinder, werbung, persil, övp und omo.

um so näher die geschehnisse zusammenrücken, der mensch wieder in einem riesigen dorf lebt, in dem jeder das gesicht des anderen kennt, jeder weiß, was vorfällt, er die welt tagtäglich aus dem lautsprecher hört, auf dem fernsehschirm sieht, desto mehr verliert er den bezug zu dem schrecklichen vorgang des tötens, er ist unfähig zu realisieren, daß der erschossene wirklich erschossen wurde, daß die frau und das kind in einem biafranischen straßengraben nicht statisten in einem film, sondern verhungernde menschen sind.

in einer welt, die mit dem mord lebt, ist es auch möglich, daß man durch stetige perfektionierung der vernichtungsmittel den krieg unmöglich machen will. die verteidigungsminister rüsten zur verteidigung.

dem frieden steht nur mehr der mensch im wege.

wir sind pervers, weil wir nicht bereit sind, abwehrmechanismen zu erlernen, die es uns erlauben, in dieser gesellschaft problemlos und erfolgreich zu existieren.

dennoch verbringen wir unsere jugend damit, uns darauf vorzubereiten, „in der arbeit außer sich und außer der arbeit bei sich zu sein“.

wir erkennen den widersinn, der darin liegt, zu leben, um zu arbeiten; wir wollen arbeiten, um zu leben. wir wollen das ziel unserer arbeit sehen, wir weigern uns, unsere eigene vernichtung zu produzieren.

wir sind pervers, weil wir nicht zu glauben bereit sind, der menschheit gehe es gut, weil wir wissen, daß nicht nur europäer und amerikaner menschen sind.

wir können das geschwätz von gleichheit und freiheit, welches mit slums und rassentrennung einhergeht, nicht mehr hören, auch nicht die sprüche von den kulturellen impulsen des krieges, und ruhe und ordnung ist uns zu ruhig und zu ordentlich wenn es die ruhe der angst und die ordnung der gewalt ist.

wir sind pervers, weil wir den imperativ, alle verhältnisse umzuwerfen, in denen der mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes wesen ist, aufgenommen haben, und weil wir uns weigern, in einer kranken gesellschaft normal und damit gegen unsere interessen zu funktionieren.

unsere unlust ist zum teil noch sehr unartikuliert, unser aufruhr zum teil rein emotionell, nicht alle sind wir fähig, das system zu durchschauen, maßnahmen zu analysieren.

wir sind pervers, weil wir, wenn wir reden, nur reden, weil wir immer noch reden, weil wir immer noch argumentieren, weil wir immer noch glauben, weil wir noch immer nicht handeln.

wir sind pervers.

doch die freie welt weiß methoden, uns zu heilen. gummiknüppel als argument, schrotgewehre und magenschüsse als diskussionsbeiträge sollen uns überzeugen. angst vor sozialer isolierung soll uns in ein ghetto zwingen, eine erziehung, die auf einschüchterung ausgerichtet ist, soll uns den nachschub entziehen.

wir haben die möglichkeit, vieles zu sagen und nichts zu erreichen.

stadt.
 
grau alt — mundtot und mit allen attributen des alters versehen — unduldsam und stur — aus allen deinen straßen, dunklen ecken scheint immer neue verleumdung zu wachsen, eine zukunft ohne farbe zeichnend, verwaschen wie die wände deiner lokale, gelangweilt wie die besucher deiner theater und museen.
 
stadt — du bist meine heimat, veraltetes wort, voll staub und noch feucht von blut, keine heimat, die, wie die fama erzählt, den menschen noch aus der ferne ruft — keine schnulzenheimat, deine straßen erwecken nicht traurige erinnerungen, deine flüsse sind kalt und verdreckt — sind wie du.
 
grau tot, wird man einst bemerken, daß die stadt gestorben ist — leer die plätze, verlassen die häuser — schweigend und viel schöner als heute.
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