FORVM, No. 210/I/II
Mai
1971

Schwindelschule

Dr. U. B. ist derzeit Schriftsteller in Wien, Verfasser einer nicht gesendeten Fernsehdokumentation (Wortlaut im NF Anf. Juni 1970, „Über den Schulbesuch entscheidet der Storch“) sowie eines demnächst erscheinenden Buches, zusammen mit Wilhelm Mindler, „Der gewollte Mißerfolg. Eine statistische Erzählung, gleichsam das Röntgenbild unseres Mittelschulsystems, an Hand einer Untersuchung von 7 Wiener Schulen und ihren 2.043 Schülern“. Europa-Verlag, Wien-Frankfurt. Der nachfolgende Text ist ein Kapitel des Buches.

Die Schüler verachten den Unterricht im heutigen Gymnasium. Sie versuchen mit allen Mitteln, ihm auszuweichen. Sie flüchten sich in Faulheit und Trägheit, nehmen immer mehr Nachhilfestunden und spazieren mit dieser Krücke durch ihr ödes Schülerleben. Sie lernen zu schwindeln. In den beiden untersten Klassen schummeln noch nicht allzuviele Schüler (1. Klasse: 6 Prozent, 2. Klasse: 12 Prozent). Mehr sind es noch nicht, die „unerlaubte Hilfsmittel“ verwenden. Aber dann geht es los. Ab der dritten Klasse sind sie nicht mehr zu halten. Wie wenn sie über die Ferien von einem Virus befallen worden wären (Pubertät): es schwindeln 62 Prozent aller 13jährigen Schüler.

In dieser Größenordnung geht es ungefähr weiter. Zwar sinken die Prozentzahlen nach dem pubertären Gipfelaufschwung in der dritten Klasse wieder ein wenig. Aber unter die Hälfte geht die Zahl der Schwindelschüler in keiner Klasse mehr zurück. In den letzten von uns erfaßten Klassen schummeln 77 Prozent aller Siebzehnjährigen. Mehr als Dreiviertel aller Siebtklaßler geben sich diesem hochgeschätzen Schülersport hin. Dem sonst nicht angreifbaren Professor wischen sie durch Nichtlernen und Dochdurchkommen eines aus.

Ab der 3. Klasse schwindeln im Durchschnitt rund 60 Prozent aller Schüler. Die Professoren haben also mit dem Massenaufgebot von fast zwei Dritteln aller Schüler zu rechnen, die sich ihre Note auf mehr oder weniger illegale Weise verschaffen.

Trotz der illegalen Notenbeschaffung ist das Schwindeln nur für einen kleinen Teil der Schüler wirklich lebensnotwendig. Wir haben extra danach gefragt. Rund 10 Prozent aller untersuchten Schüler müssen schwindeln, sagten sie dem Fragebogen. Sonst würden sie die Prüfungen und Schularbeiten nicht bestehen. Der Rest schummelt — aus Übermut?

Auch bei den Muß-Schwindlern bemerkt man deutlich den pubertären Sprung von der zweiten in die dritte Klasse. Ab dem Alter von 13 Jahren scheinen die Schüler die professorale Gängelei endgültig satt zu haben. Sie rächen sich an ihren Lehrern durch Schwindeln. Das tun sie, obwohl sie, von der Leistung her, meistens gar nicht genötigt wären, auf eine solche Weise um ihr Schülerleben zu kämpfen.

Schwindeln ist eine schülerische Protesthaltung. Es mildert nicht den Leistungsdruck, den der hochmögende Herr Professor auf die Schüler ausübt, aber es lüftet den disziplinarischen Druck. Gegen die drohend gerunzelte Stirn und die ebenso drohende — doch klare und glatte — Note kommen sie nicht auf, die Kleinen nicht und die Größeren auch nicht. Aber ein kleiner Freiheitsraum bleibt dem Schüler dennoch. Der Weg, wie er zu seiner Note kommt, ist sein Geheimnis.

Schwindeln ist Dampfablassen, ist eine Ventilsitte. Es ist ein (ohnmächtiger) Versuch, der Disziplinierungswut unserer Mittelschule das eigene, kleine, noch undisziplinierte Schüler-Ich entgegenzusetzen, um dieser faden Prägefabrik ein bißchen Leben einzuhauchen: das zeigen die Antworten auf unsere Frage: „Ist eine Schule ohne Schwindeln (unerlaubte Hilfsmittel) überhaupt möglich und erwünscht?“

Die Antwort: „Nein, nicht möglich und nicht erwünscht“, geben schon die ganz Kleinen zu. Dabei berauschen sie sich gleichsam nur an der bloßen Schwindelmöglichkeit. Denn in Wirklichkeit schwindeln sie nämlich gar nicht viel (nur 6 und 12 Prozent). Sie machen also von der heute bestehenden Schwindelschule noch gar keinen Gebrauch. Trotzdem lehnen die 10- bis 12jährigen Knirpse eine „Schule ohne Schwindeln“ vielfach ab (37 und 50 Prozent). Sie benützen also dieses Ventil nicht. Dennoch ist es in ihrem Bewußtsein, theoretisch und unbenützt, vorhanden. Sie benützen das Ventil erst, wenn ihnen die pubertäre Energie den Mut dazu gibt. Dann erst lehnen sie sich im geheimen gegen den Herrn Professor auf — durch Schwindeln zu betrügen.

Die große Kluft zwischen Muß-Schwindlern und freiwilligen Schwindlern beweist, daß die Leistungsforderungen der Mittelschule den geringsten Anteil am illegalen Notenerwerb haben. Das bestätigen auch die Schüler selber:

Ich glaube, es gibt drei Arten von Schwindlern: die kleinste Gruppe ist die, die es wirklich nötig haben zu schwindeln, um überhaupt durchzukommen.

... Dann gibt es die weitaus größte Gruppe, die schwindeln eben, weil es so auch geht, weil es angenehmer ist. Man hat mehr Freizeit, man braucht weniger lernen, es ist bequemer.

... Und die dritte Gruppe von Schwindlern ist die, die es nicht nötig haben zu schwindeln, sondern die manchmal darauf angewiesen sind. Bei Racheprüfungen zum Beispiel.

Schwindeln dient der Notenbeschaffung. Die Leistungserfordernisse der Schule bleiben anerkannt, aber sie werden umgangen. Da man sie nicht ignorieren kann, erschleicht man sich seine Note lieber, als jene Leistung zu erbringen, die die Note messen soll.

Das Lernen selber ist meist fad. Da es abstrakt ist, wird sein Sinn oft nicht eingesehen. Die Freude an der eigenen Leistung kann nicht entstehen. Der öde „Lehrermonolog“ nimmt jede Motivation. Die Schüler haben aber nur „Aufgaben gewissenhaft auszuführen“. Dafür kann kein „Engagement“ entstehen. Folglich schwindelt man (die als sinnlos empfundene Leistung muß irgendwie erbracht werden).

Das Gymnasium ist eine höhere Schule der Anpassung. Der Lehrstoff interessiert kaum noch einen älteren Schüler. Dennoch wagt keiner, diese Kritik den Professoren vorzutragen, denn „sie fassen Kritik als Frechheit auf“ (Interview). Die Schüler passen sich lieber an. Sie erfüllen das auferlegte Soll — und distanzieren sich zugleich davon: durch Schummeln. Sie gehen „den Weg des geringsten Widerstandes“.

Das (im Selbstverständnis) a-politische Gymnasium erweist sich durch diesen Zug als eminent politisch. Es erzieht eine gesellschaftliche Führungsschicht von politischen Drückebergern und mutlosen, schweigenden Ignoranten; von Leuten, die jedwede Politik (das Beeinflussen gegebener Machtverhältnisse) für ein schmutziges Geschäft halten, aus dem man sich besser heraushält.

Gesellschaftliche Reflexion findet in unsren Mittelschulen keine statt. Nicht einmal simple Zivilcourage kann sich in der disziplinreichen Atmosphäre entwickeln. „Es ist natürlich eine Frechheit, mit dem Professor nicht einer Meinung zu sein“ (Interview). Dem Schüler bleibt nur übrig, den Mund zu halten und es sich durch Schwindeln „so leicht wie möglich zu machen“.

Schwindeln ist — in ein einziges, wenn auch gefährliches Wort summiert — bourgeois: die doppelte Moral in Selbstdarstellung. Es ist die Haltung desjenigen, der ganz im geheimen seine eigene, kleine, emsige Persönlichkeit vor den gegebenen zwingenden Umständen bewahren will („... Freizeit ... bequemer ...“), obwohl er sich eben diesen Zwängen angepaßt hat. Schwindeln ist die „innere Emigration“, wie sie in der Schule vorgeprägt wird. Ein Rettungsversuch der Individualität.

Hiezu das folgende Schülerinterview:

Wird bei Ihnen geschwindelt?

Natürlich, das ist reiner Selbsterhaltungstrieb bei den meisten Schülern. Ich meine auch im Leben kann sich kein Mensch durchsetzen, wenn er immer sagt: Ich geb es immer zu, wenn ich irgendwas falsch mache. Und ich versuche immer nur den rechten Weg. Warum soll man immer nur vom Schüler verlangen: Schummeln gibt’s nicht?

Ich greife Sie ja nicht an. Aber warum ist das so?

Weil der Schüler nur spekuliert, meiner Meinung nach.

Spekulieren worüber?

Um den Berechtigungsschein zu erreichen.

Es folgt im Gespräch jetzt ein lange vorgetragener Angriff auf einen Professor, der selber schummelt, ehe die Kritik des Schülers wieder etwas grundsätzlicher wird:

... daß der Schüler hauptsächlich für die Note und nicht für die Leistung lernt. Und sobald er für die Note lernt, ist ihm doch fast jedes Mittel recht, um diese Note zu erreichen.

Wenn die Energie, die heute im Schwindeln verpufft (und mit den Nachhilfestunden aus der Schule abgeleitet wird), in Form von aktiver Schülerkritik in die Mittelschule zurückgeleitet werden könnte, hätten wir fast über Nacht neue Lehrer und neue Gymnasien. (Freilich ist so eine Gedankenspielerei müßig). Solange Schüler schwindeln können, passen sie sich an das Bestehende an, und glauben doch, jeder für sich, seine eigene kleine Freiheit, die Bequemlichkeit ist, bewahrt zu haben. Heute wird so durch das systemstabilisierende Schummeln von vornherein jede kommunikativ-politische Erfahrung von der Schule selbst abgewehrt, die sonst zu einer Umstrukturierung des Schulsystems führen könnte. Die Schüler denken natürlich nicht an Schulreform; trotz ihres Schwindelns. Das systemkritische Moment am Schwindeln ist ihnen gar nicht bewußt. Dafür sind die flink im Aufbau einer Rechtsfertigungsideologie. Sie haben schnell eine „Natur des Menschen“ zur Hand, wenn sie erklären sollen, weshalb es so gehäuft zum Schwindeln kommt:

Ich glaube, wenn man nach der Ursache (des Schwindelns) sucht, daß es in der Natur des Menschen liegt, sich alles so leicht wie möglich zu machen.

Das liegt in der Natur des Menschen, den Weg des geringsten Widerstandes zu nehmen. Dazu gehört das Schwindeln, man muß am wenigsten lernen. Das Schwindeln erleichtert einem die Prüfungen.

Die Natur des Menschen ist die Natur des Herrn Karl. Wer den „Weg des geringsten Widerstandes“ geht, um es sich „so leicht wie möglich zu machen“, gibt damit logischerweise zu, daß Widerstände und Hindernisse überhaupt bestehen und — irgendwie — genommen werden sollen. Dies ist die zweite Seite in der sogenannten menschlichen „Natur“. Die wienerische Bequemlichkeitsmoral hat in sich selbst als Kontrastfolie die gesellschaftliche Leistungsmoral. Selbst wenn die Widerstände auf Schleichwegen und „so leicht wie möglich“ genommen werden, so sind es doch Widerstände, deren Forderungen man erfüllt und an die man sich zu diesem Zweck anpaßt.

Das Gymnasium erfüllt seine gesellschaftliche Funktion. Es selektiert. Es wählt unter einer Masse von Schwindlern aus. Mit den Hindernissen und Widerständen, die es seinen Schülern entgegenstellt, will es sie ohnehin nicht fördern, sondern selektieren.

Das Gymnasium erzwingt Leistung. Oft ist es sinnleere, abstrakte Leistung. Daß diese Leistung großteils auf unehrliche Weise erbracht wird, ist ihm gleichgültig. Es sieht darin irgendwie ein Naturphänomen, eine Selbstverständlichkeit, die mit der „Natur des Menschen“ zusammenhängt. Auf keinen Fall vermutet es den gesellschaftlichen Bezug: daß unsere heutige Mittelschule vielfach sinnleeres Wissen tradiert und als Leistung den Schülern abzwingt. Ein abstraktes Wissen, dessen einziger Fernzweck es ist, die „Siebung“ zu ermöglichen: eine gesellschaftliche Führungsschichte hervorzubringen, egal wie und mit welchen Mitteln.

Das Gymnasium spricht von „Geist“ und „geistiger Elite“, nicht aber von gesellschaftlicher Selektion. Darüber will es so wenig wie möglich wissen. Seine Schüler teilen diese Illusion. Bei ihnen ist es noch der rührende Optimismus der Jugend, der sich darauf freut, nach der schwindelnden Tretmühle des Gymnasiums das ehrliche Leben der Universität beginnen zu können. Dort muß der Student sich seine Noten sicherlich nicht mehr illegal erwerben, hofft der 17jährige:

Ich glaube, daß sich das (Schwindeln) auf der Hochschule aufhört; daß der Schüler nicht darauf spekuliert nur durchzukommen. Sondern an der Hochschule weiß er: ich habe ein Ziel vor mir; das wird mir später dienen, dieses Wissen. — Daß dann die Spekulation aufhört, während die Mittelschule nur ein Berechtigungsschein ist.

In der Mittelschule hat man kein „Ziel vor sich.“ Die Arbeit dort (das Lernen) empfindet man großteils als sinnlos. Um trotz der empfundenen Sinnlosigkeit zum Erfolg zu kommen, und es bequem dabei zu haben, schwindelt man. Am Ende der Schwindelperiode winkt der „Berechtigungsschein“. Daß dieser Zeit dann eine „spekulations“-freie Hochschule folge, ist genauso Illusion wie der Glaube, man habe am Gymnasium Allgemeinbildung erworben.

Mittelschule ist Schwindelschule. Sie erzeugt den sowohl angepaßten wie unterwürfigen Konsumbürger, der sich freilich über die Masse des Volkes erhoben dünkt. Denn sein Gehirn ist „allgemeingebildet“, er ist eine „Persönlichkeit“, glaubt er.

Ein guter, schmutzloser Posten ist ihm sicher.

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