FORVM, No. 203/II
November
1970

Sezession in Kanada?

Zur Situation der Opposition in Quebec

Ich glaube, die Gesellschaft muß sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen gegen die Entstehung einer Parallelmacht, die die Macht der vom Volk gewählten Vertreter herausfordert. Ich glaube, daß diese Verpflichtung ohne jede Beschränkung gilt.

So der kanadische Premierminister Pierre Elliot Trudeau am 15. Oktober 1970, zwei Tage vor der Ermordung des Ministers der Provinz Québec, Laporte, durch den F.L.Q. (Befreiungsfront von Québec). Er rechtfertigte damit im nachhinein die Unterlassung irgendwelcher ernsthafter Versuche, Laporte durch Verhandlungen mit der F.L.Q. zu retten und im vorhinein seine Entscheidung vom nächsten Tag: die Verhängung des (so der offizielle Ausdruck) „Kriegsrechtes“.

Trudeau spricht von politischen Gegnern, die „die legitime Gewalt herausfordern“; er möchte sie am liebsten alle zu Aktivisten des F.L.Q. stempeln. In Wahrheit besteht der F.L.Q. aus nicht mehr als drei Zellen mit insgesamt ein paar Dutzend Mitgliedern. Von einer „Parallelmacht“ kann man hier kaum sprechen.

In den letzten Jahren hat sich die soziale Lage in Québec von Grund auf verändert. Eine neue Technokratenschicht ist auf den Plan getreten, desgleichen eine ziemlich aggressive Linke unter den Studenten, bei den Arbeitern und in den Gewerkschaften. Von dieser neuen Linken ist die F.L.Q. lediglich der äußerste, zahlenmäßig schwache Flügel. Erst alle diese Kräfte zusammengenommen bilden eine starke und konsequente Opposition gegen die Regierung oder, wenn man will, eine „Parallelmacht“.

Das Vorgehen der F.L.Q. zeigte mit einem Schlag die politische Gefahr, die diese Opposition für das bestehende System darstellt. Gleichzeitig lieferte die F.L.Q. selbst den Vorwand, sie zu vernichten.

Zunächst produzierte die Veröffentlichung des Manifestes der F.L.Q., von dieser als Teil des Preises für die Freilassung Laportes gefordert (in diesem Heft abgedruckt), Zustimmung bei Studenten, Arbeitern und in der Presse der Linken. Die Zeitung „Québec-Presse“ (die von den Gewerkschaftszentralen finanziell unterstützt wird), die Front der politischen Aktion (die oppositionelle Arbeiterpartei im Stadtrat von Québec mit gemäßigter Richtung), der Zentralrat von Montréal (der einige Gewerkschaften von Montréal zusammenfaßt), größere Gruppen von Studenten und Professoren äußerten zwar Vorbehalte gegenüber den Mitteln der F.L.Q., stimmten aber den Zielen des Manifests voll zu:

Die totale Unabhängigkeit der Bürger von Québec, vereinigt in einer freien Gesellschaft, die für immer gesäubert ist von der Clique gieriger Haifische, die aus Québec ihr bevorzugtes Jagdgebiet für ‚cheap labor‘ (billige Arbeit) und skrupellose Ausbeutung gemacht haben ...

Die Antwort auf diese einhellige Kampfansage der Linken und der liberalen Mehrheit von Québec war einige Tage später die bewaffnete Intervention der Zentralregierung von Ottawa und die Ausrufung des „Kriegsrechtes“.

Die franco-kanadische Opposition agierte seit langem unter dem Deckmantel kultureller und sprachlicher Forderungen. Erst kürzlich formierte sie sich unter der Leitung von René Levesque als „Partei von Québec“. Sie will die wirtschaftlichen und politischen Interessen des französischsprechenden Kleinbürgertums von Québec verteidigen. Diese Partei rekrutiert ihre „Basis“ in den neuen technokratischen Schichten, die im Lauf der sechziger Jahre an die Stelle der früheren ländlichen, traditionalistischen, katholisch-integralistischen Eliten getreten sind. Dieses neue fortschrittliche Kleinbürgertum findet die Straße zu Macht und sozialem Aufstieg versperrt durch die englischsprechende kanadische Bourgeoisie, die über Regierung sowie pankanadische Finanz- und Industriemonopole die gesamte Wirtschaft von Québec kontrolliert.

Die „Partei von Québec“ fordert die politische Autonomie von Québec im Rahmen einer Wirtschaftsgemeinschaft mit den anderen Provinzen. Sie schlägt weiters einen Komplex liberaler Reformen vor. Das nach Unabhängigkeit strebende neue Kleinbürgertum will den Staatsapparat kontrollieren und an die Stelle der englischsprechenden Bourgeoisie treten. Damit käme sie in den Genuß der amerikanischen Investitionen, die in Québec in der Höhe von 10 Milliarden Dollar liegen. So vorsichtig dieser Reformismus auch ist, der anglokanadischen Bourgeoisie und den francokanadischen Handelskreisen erscheint er als eine ernste Drohung. Diese Kreise unterstützen eher die Liberale Partei von Robert Bourassa, die gegenwärtig an der Regierung ist und den Föderalismus verteidigt.

Kampf um die Macht heißt in Québec also auch, vielleicht in erster Linie, Kampf um die Kontrolle der Beziehungen zwischen dem amerikanischen Kapital und einer seiner rentabelsten „Kolonien“.

Die Situation wird kompliziert durch die linken Gruppen an der Seite des neuen Kleinbürgertums. Diese „taktische Allianz“ ist eine Teilursache der schweren Krise, die das Vorgehen der F.L.Q. in der kanadischen Politik ausgelöst hat.

Die Linke von Québec, die sich hauptsächlich aus Arbeitern und Studenten rekrutiert, verfügt über keinerlei eigene solide Organisation. Die meisten ihrer militanten Mitglieder stehen in Organisationen, die vom neuen Kleinbürgertum kontrolliert werden. Sie formt den radikalen Flügel der „Partei von Québec“, der Gewerkschaften und der „Front für politische Aktion“ in Montréal. Die Präsenz dieser Linken erscheint gewissen politischen und Finanzkreisen Kanadas als gefährlich. Vielleicht haben sie nicht unrecht: der wirtschaftliche Niedergang Québecs im Lauf der letzten Jahre hat die Unzufriedenheit noch erhöht, die Arbeitslosigkeit stieg von 6 auf 10 Prozent, die Zahl der Fürsorgefälle um 10 Prozent. Bei den letzten Wahlen in der Provinz hat die „Partei von Québec“ von dieser Unzufriedenheit profitiert und in den ärmeren Wahlsprengeln zahlreiche Stimmen gewonnen.

Es ist wahrscheinlich, daß das militärische Eingreifen der Bundesregierung und der Provinzregierung zwei Ziele mit einem Schlag erreichen sollte: einerseits das Autonomiestreben des neuen Kleinbürgertums unterdrücken und anderseits die politischen Organisationen dieses Kleinbürgertums von den linken Elementen reinigen, die es „verseuchen“. Genau diese Elemente wurden durch das Einschreiten der Polizei dezimiert.

Die Linke von Québec hat unter den jüngsten Vorgängen zunächst einmal sehr gelitten. Sie ist desorganisiert, ihre Meinungsäußerungen werden von Ottawa geknebelt. Das nach Autonomie strebende neue Kleinbürgertum scheint jedoch aus der Krise einiger und entschlossener hervorgegangen zu sein. Gewisse Teile der liberalen Öffentlichkeit: Gewerkschaftsbürokratien, unabhängige Presse, kirchliche Instanzen, Genossenschaften und andere, die bis zu den jüngsten Vorgängen unentschieden waren, schlossen sich der „Partei von Québec“ an, um ihre Opposition gegen die Bundesregierung zu demonstrieren. Im Gegensatz zu den in Ottawa gehegten Erwartungen haben die Maßnahmen der Bundesregierung, zumindest vorläufig, die Unabhängigkeitsbestrebungen des neuen Kleinbürgertums verstärkt. Es ist der Zentralregierung jedoch anderseits vielleicht gelungen, das Bündnis zwischen der Linken und der kleinbürgerlichen Autonomiebewegung aufzubrechen.

Welche Strategie wird die Bundesregierung weiterhin einschlagen? Sie ist möglicherweise nicht gewillt, die Repressionen bis zum völligen Zerfall der „Partei von Québec“ und anderer Gruppen mit ähnlicher Tendenz voranzutreiben. Sie könnte Verhandlungen mit dem französischsprechenden Kleinbürgertum aufnehmen, das für sie zu einem akzeptablen Partner werden könnte, wenn es sich von der Linken völlig trennt.

Hingegen dürfte die Repression gegen die Linke jedenfalls aufrecht bleiben, wenn nicht verstärkt werden. Was ohne Zweifel zu ihrer Radikalisierung führen wird.

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